Wenn das Volk spricht und die Politik zaudert

Die schleppende Umsetzung der Pflegeinitiative zeigt exemplarisch, wie schwer sich das System mit dem Volkswillen tut.

Am 22. November 2025 versammelten sich Tausende Pflegende auf dem Berner Bundesplatz zu einer lautstarken Kundgebung . Vier Jahre nach dem deutlichen Ja von 61 Prozent zur Pflegeinitiative sind die geforderten Verbesserungen für das Pflegepersonal immer noch nicht umgesetzt. Zwar wurde eine Ausbildungsoffensive lanciert, doch die eigentliche Aufwertung des Pflegeberufs steckt im Parlament fest und droht verwässert zu werden. Die Geduld der Pflegenden ist erschöpft.

Abgestimmt, dann verwässert

Die Pflegeinitiative ist kein Einzelfall. Immer wieder werden in der Schweiz Volksinitiativen nur zögerlich und unvollständig umgesetzt. Weiteres aktuelles Beispiel: Die Initiative zum Tabakwerbeverbot von 2022. Anstatt das vom Volk beschlossene strikte Werbeverbot  eins zu eins zu realisieren, entschied sich das Parlament 2025 gegen eine wortgetreue Umsetzung. Stattdessen beschloss es eine Light-Version mit Ausnahmen.

Auch viele frühere Vorlagen teilen dieses Schicksal: Bereits 1908 wurde die Initiative zum Absinthverbot  aus politischen Gründen unvollständig vollzogen. Die 1920 angenommene Volksinitiative «für ein Verbot der Errichtung von Spielbanken»  wurde gar nie umgesetzt. Von der «Rothenturminitiative»  (1987) zur «Alpeninitiative» (1994)  über die «Verwahrungsinitiative»  (2004) bis zur «Ausschaffungsinitiative»  (2010) und «Masseneinwanderungsinitiative»  (2014) sind zahlreiche Volksbegehren nur in stark reduzierter Form realisiert  worden.

Kein Wunder also, dass Medien und Experten konsterniert von einer Missachtung des Volkswillens  sprechen.

Aber warum werden viele Initiativen nicht wortgetreu umgesetzt? Bereits 2007 wies der Politologe Lionel Tauxe  auf die wichtigsten Hindernisse hin. Zunächst eröffnen unpräzise Initiativforderungen einen grossen Interpretationsspielraum. Hinzu kommen die politischen Kräfteverhältnisse: Wurde die Vorlage nur knapp angenommen, fehlt es an Umsetzungswillen.

Auch praktische Hürden  spielen eine wichtige Rolle: besonders hohe Kosten, Konflikte mit dem Völkerrecht und komplexe Zuständigkeitsfragen zwischen Bund und Kantonen wirken sich negativ aus. Doch damit nicht genug. Denn mitunter wurden missliebige Initiativen  bereits im Vorfeld durch Ungültigerklärung, Schubladisierung oder parlamentarisch initiierte Gegenprojekte unterlaufen.

Je mehr solcher Stolpersteine zusammenkommen, desto wahrscheinlicher wird eine unvollständige Umsetzung. Nach einem Volks-Ja hat eine Initiative längst nicht alle Hindernisse überwunden. Vielmehr beginnt die politische Auseinandersetzung dann von neuem.

System mit Bremse

Die Masterarbeiten von Bettina Stauffer und Flavia Caroni von der Universität Bern bestätigen: Eine vollständige Umsetzung ist eher die Ausnahme als die Regel. Bis heute sind nur die Hälfte aller angenommenen Volksinitiativen in der Praxis vollständig vollzogen.

Zudem steckt im System eine eingebaute Vollzugsbremse: Das Parlament, das in aller Regel skeptisch gegenüber der Initiative ist, muss sie umsetzen. Dieses Spannungsverhältnis führt naheliegenderweise oft zu Verzögerungen und Abschwächungen.

Weiterführende Analysen zur Umsetzung von angenommenen Volksinitiativen in Bund und Kantonen zeigen zudem: Je klarer die Mehrheit im Parlament gegen eine Initiative und je stärker die Legislative bei der Umsetzung involviert war, desto weniger  wird sie später umgesetzt. Eine Studie von Avenir Suisse  bezeichnet die häufige Verwässerung als Preis für die Offenheit des Systems. Weil auch radikale Initiativen zulässig seien, müsse man in Kauf nehmen, dass ihre Umsetzung später nur so weit erfolgt, als sie niemandem wehtut.

Pflegeinitiative auf der Kippe

Was bedeuten diese Erkenntnisse konkret für die Pflegeinitiative? Einerseits bringt sie gute Voraussetzungen für eine wortgetreue Umsetzung mit: Ihr Anliegen findet breite Unterstützung. Das deutliche Abstimmungsergebnis erhöht den politischen Druck.

Andererseits sind die klassischen Hindernisse sichtbar: Eine echte Reform erfordert beträchtliche finanzielle Mehrinvestitionen und greift in kantonale Kompetenzen ein (z. B. Spitäler). Einflussreiche Akteure wehren sich zudem gegen verbindliche Vorgaben wie Personalschlüssel und bessere Löhne. Mit anderen Worten: Es mangelt an einem klaren politischen Willen, den Verfassungsauftrag konsequent umzusetzen.

Wenn die nach der Demonstration signalisierten Unterstützungsbekundungen zahlreicher Parlamentsmitglieder blosse Lippenbekenntnisse bleiben sollten, wird sich die Umsetzung weiter hinziehen. Damit droht die Pflegeinitiative zum Sinnbild für den Frust über blockierte Volksentscheide zu werden und würde so das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger weiter strapazieren.

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