Gig-Worker: So leben und arbeiten sie wirklich

Millionen von Menschen bieten ihre Arbeit über digitale Plattformen an. Diese Revolution der Arbeitswelt bringt den sogenannten Gig-Workern mehr Flexibilität, aber auch Einkommensunsicherheit. Wie geht es ihnen dabei? Der Arbeitspsychologe Daniel Spurk hat sie befragt.

Text: Samuel Schlaefli 03. Juni 2025

Seit die Gig Economy in den späten 2010er-Jahren entstanden ist, sorgt sie immer wieder für Schlagzeilen: Zum Beispiel vergangenen Januar, als das Arbeitsamt in der US-Stadt Denver zwei Unternehmen, Instawork und Gigpro, vorlud und von diesen eine Million US-Dollar an Bussen und Entschädigungen forderte. Die beiden Plattformen hatten 3000 Personen in Gastronomie und Hotellerie vermittelt, darunter Tellerwäscher, ohne jegliche soziale Absicherung durch die Plattform oder die Arbeitgebenden. Die Vermittelten seien Selbstständigerwerbende, argumentierten die Verantwortlichen der Plattformen.

Die Gig Economy, manche nennen sie auch «Plattformökonomie», wurde durch Unternehmen wie Airbnb (2008) und Uber (2009) populär und hat sich seither in fast allen Branchen eingenistet. Mittlerweile gibt es Hunderte von digitalen Plattformen, die Arbeit per Apps und Klicks vermitteln. Dabei nutzen Online-Plattformen Algorithmen, um Arbeitnehmende mit Arbeitgebenden zusammenzubringen und um ihre Leistungen zu bewerten.

Kurzfristige Jobs ohne Bindung

Der Begriff «Gig Economy» ist bis heute nicht klar definiert und Plattformen operieren oft in einer rechtlichen Grauzone. Für Daniel Spurk, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern, ist allen Definitionen gemein, dass es sich um ein Arbeitsmodell handelt, bei dem die Arbeitnehmenden nicht fest angestellt sind und nur kurzfristig in ein Arbeitsverhältnis eintreten. Die Gigs, also die Arbeiten, können dabei von wenigen Minuten, zum Beispiel bei Uber-Fahrten, bis zu mehreren Monaten dauern, wie im Fall von Fachleuten, die bei grösseren IT-Projekten eines Unternehmens mitarbeiten.

«Ein einfacher, digital vermittelter Zugang zu Arbeit kann auch eine Chance sein.»

Daniel Spurk

«Charakteristisch ist auch, dass der psychologische Vertrag zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden transaktional und nicht relational ist», sagt Spurk. Sprich: Transaktionen sind in der Gig Economy tendenziell wichtiger als Beziehungen. Anders als in klassischen Arbeitsverhältnissen fällt die Identifikation mit einem Arbeitgebenden weg, die traditionell durch Weiterbildungsangebote oder soziale Absicherung gestärkt wird.

Lehrerin auf Weltreise

Porträt Isabelle Wyss
Bild: zvg

Isabelle Wyss (27)

Ich bin seit einem Jahr auf Weltreise, komme aber immer wieder kurz zurück in die Schweiz, um als Gig-Workerin Geld zu verdienen. Meist klappt das sofort und ich kann fast zu 100 Prozent arbeiten. Ich bin hauptsächlich im Service- und Cateringbereich tätig, besonders bei Banketten. Zusätzlich gebe ich Nachhilfe und arbeite als Stellvertretung in der Oberstufe, da ich früher als Lehrerin tätig war. Mein Einkommen bewegt sich meist zwischen 4500 und 5200 Franken. Damit komme ich gut über die Runden – manchmal reicht es, um dann wieder mehrere Monate zu reisen. Ich schätze diese Flexibilität und ich liebe es, an einem Dienstag freizuhaben, wenn andere arbeiten. Klar, es gibt Herausforderungen – etwa schlecht erreichbare Einsatzorte oder hohe ÖV-Kosten. Doch insgesamt fühle ich mich fair behandelt, und die Absicherung über die Plattform funktioniert gut. Wie’s langfristig weitergeht? Mal schauen. Erst mal reise ich weiter und geniesse die derzeitige Freiheit.

Gig Economy wächst weltweit

Laut der Weltbank machte die Gig Economy im Jahr 2023 rund zwölf Prozent des globalen Arbeitsmarktes aus. Und «Forbes» hat berechnet, dass mit Gigs allein in den USA jährlich über 1000 Milliarden US-Dollar umgesetzt werden, mit einer jährlichen Wachstumsrate von 16 Prozent. Wie das Tellerwäscher-Beispiel zeigt, hat die Gig Economy mittlerweile sämtliche Branchen erfasst, von IT über Pflege zu Logistik und Gastronomie.

Die Plattform «Fiverr» zum Beispiel vermittelt heute Unternehmen und Arbeitnehmende in 160 Ländern. Das Unternehmen mit 800 Mitarbeitenden und Hauptsitz in Tel Aviv ist börsenkotiert und setzte 2021 beinahe 300 Millionen US-Dollar um. Die Gigs reichen von der Gestaltung von Visitenkarten bis zu komplexen Programmierungen. Die Schweizer Plattform «Coople» wiederum ist einzig in der Schweiz und im Vereinigten Königreich präsent und vermittelt laut eigenen Angaben 1,3 Millionen Gig-Worker. Hier werden nicht in erster Linie digitale Dienstleistungen angeboten, sondern Arbeiten in den Bereichen Gesundheit, Events, Büro, Detailhandel, Gastronomie und Logistik. «Auch in der Schweiz sehen wir einen eindeutigen Trend hin zu mehr Gig-Work», sagt Spurk, «auch wenn der Anteil noch deutlich tiefer ist als in anderen Ländern wie Polen oder den USA, wo die Arbeitsmärkte weniger reguliert sind.»

Negatives Image und dennoch beliebt

Daniel Spurk hat sich in einem vierjährigen Projekt des Schweizerischen Nationalfonds gemeinsam mit Kolleginnen vom Departement Wirtschaft der Berner Fachhochschule intensiv mit der Gig Economy und Gigworkern beschäftigt. Die Forschenden verbanden dabei Ansätze der Arbeitspsychologie und des Human-Resource-Managements. Im Vordergrund stand die Selbstwahrnehmung von Gig-Workern. «In den Medien und in der Öffentlichkeit ist die Gig Economy eher negativ konnotiert, es herrscht die Vorstellung vor, dass die Arbeitnehmenden ausgenutzt werden», sagt Spurk. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit zahlreiche Skandale hinsichtlich der niedrigen Löhne, fehlenden Sozialleistungen und unsicheren Arbeitsbedingungen, insbesondere beim Fahrtendienst Uber.

uniAKTUELL-Newsletter abonnieren

Entdecken Sie Geschichten rund um die Forschung an der Universität Bern und die Menschen dahinter.

«Aber die Gig Economy umfasst viel mehr als Uber-Fahrten», sagt Spurk. «Es kann nicht sein, dass Millionen von Arbeitnehmenden diese Plattformen nutzen, wenn die Erfahrungen ausschliesslich negativ wären.» Er wollte deshalb mehr darüber erfahren, weshalb Arbeitnehmende diese Plattformen nutzen und wie sie ihre Arbeit in Bezug auf die Zukunft wahrnehmen. «In der Schweiz gibt es dazu – anders als in den USA – noch fast keine Daten.»

Studie liefert Daten für die Schweiz

Die Forschenden arbeiteten sowohl qualitativ als auch quantitativ. Sie führten mit 85 Gig-Workern aus der Schweiz im Alter zwischen 20 und 65 Jahren Interviews durch. Sie fragten etwa nach den Erfahrungen auf den Plattformen und den wahrgenommenen Risiken und Chancen bei der Arbeit. Zusätzlich zu den Interviews werteten die Forschenden 830 elektronische Fragebogen aus, auf welchen Studienteilnehmende aus der Schweiz, aus Österreich und Deutschland mit einem durchschnittlichen Alter von 41 Jahren auf Skalen von 1 bis 5 Aspekte wie Kontrolle, Marginalisierung, Karrierezufriedenheit und Sinnhaftigkeit bewerteten. Sie alle waren auf Plattformen wie Fiverr, Coople, content.de oder Upwork tätig, ungefähr die Hälfte der Befragten auf mehreren Plattformen.

Koch mit viel Freiheit

Porträt Thomas Uicker
Bild: zvg

Thomas Uicker (46)

Ich arbeite aktuell zu 100 Prozent über Gig-Work-Plattformen und lebe auf dem Campingplatz. Dabei schwankt das Einkommen stark, bis zu 30 Prozent von Monat zu Monat, je nach Saison und Nachfrage. In guten Monaten lege ich etwas beiseite, um in schwächeren Phasen besser über die Runden zu kommen. Ich springe oft kurzfristig als Joker ein. Da meine Arbeitgeber dann auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen sind, werde ich meist korrekt behandelt. Die unregelmässigen Arbeitszeiten sind für mich als Koch normal. Herausfordernd ist hingegen, mich stets an neue Betriebe anzupassen und mich in bestehende Teams zu integrieren. Am meisten schätze ich die Flexibilität: Ich kann meine Arbeitstage selbst gestalten und mir viel Zeit für Hobbys, Reisen und Beziehungen nehmen. Meine Familie und meine Freunde können sich ein solches Arbeitsverhältnis nicht vorstellen, bewundern aber insgeheim meine Freiheit. Längerfristig muss ich mir wohl Gedanken über meine Altersvorsorge machen und vielleicht suche ich dann auch wieder eine Festanstellung.

Finanzielle Unsicherheit als Hauptsorge

Die Auswertung der Befragung zeigt eine Reihe von Herausforderungen, mit welchen Gig-Worker konfrontiert sind. So müssen sie zusätzlich zur eigentlichen Arbeit die gesamte Administration selbst erledigen und eine persönliche Marke aufbauen, die von Arbeitgebenden geschätzt wird. Auch Fragen der Identität – «Für was stehe ich?» – können herausfordernd sein, genauso wie Unsicherheiten, welche die Planbarkeit und den Verlauf der eigenen Karriere betreffen. «Aber die grössten Belastungen für die meisten Befragten waren die finanzielle Unsicherheit und die Frage, ob dieses Arbeitsmodell auch längerfristig umsetzbar ist», erzählt Spurk. So gaben nur 41 Prozent der Befragten an, dass sie ihr Gehalt oder das Honorar für einen Gig selbst bestimmen können.

«Belastend sind die finanzielle Unsicherheit und die Frage nach der längerfristigen Umsetzbarkeit.»

Daniel Spurk

Positiv betrachteten die Gig-Worker hingegen ihre Flexibilität, dass sie also selbst entscheiden können, wann und wo sie arbeiten. Stress, emotionale Belastung und Burn-out-Tendenzen waren ähnlich ausgeprägt wie in Studien mit Festangestellten. Dies galt auch für die wahrgenommene berufliche Entwicklungsperspektive und Sinnhaftigkeit der Arbeit. «Auffallend war hingegen, dass die allgemeine Lebenszufriedenheit der Befragten relativ hoch war – auch im Vergleich zur Zufriedenheit mit der Karriere», sagt Spurk. Die Gründe dafür sollen nun weiter untersucht werden. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass Gig-Worker Flexibilität und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben höher gewichten als die Karriere. Weiter zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit der genutzten Vermittlungsplattform und der eigenen Lebenszufriedenheit. «Hier stellt sich die Frage, ob es doch so etwas wie einen psychologischen Vertrag zwischen den Gig-Workern und den Plattformen geben kann», so Spurk.

Mehr Transparenz in Bezug auf Überwachung

Das Forschungsteam hat basierend auf den Resultaten Ratschläge verfasst, wie die Vermittlungsplattformen die psychologische Gesundheit von Gig-Workern unterstützen könnten: mit Programmen zur Stressbewältigung etwa, um die emotionale Erschöpfung einzudämmen. Immerhin gaben 23 Prozent der Befragten an, dass sie an einem hohen Grad an Stress leiden, und 60 Prozent an einem mittleren Grad. Auch sollte laut den Forschenden die Transparenz bei der Überwachung von Gig-Workern erhöht werden. 70 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Arbeit über die Plattform evaluiert wird. Und 54 Prozent fühlten sich manchmal oder oft durch Algorithmen und Monitoring-Technologie überwacht. Laut den Forschenden könnten die Plattformen das Vertrauen stärken, indem sie klare Richtlinien aufstellen, was überwacht werden darf und wie die Daten verwendet werden.

Sanitärmonteur, bald selbstständig

Porträt Christian Gaud
Bild: zvg

Christian Gaud (26)

Ich arbeite nicht ausschliesslich über Plattformen, sondern auch temporär als angestellter Sanitärmonteur. Bei Plattform-Jobs reizen mich die Flexibilität sowie die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln und neue Leute kennenzulernen. Am liebsten habe ich handwerkliche Einsätze mit direktem Kontakt zu Menschen. Aktuell spare ich für eine Weiterbildung und baue meine Selbstständigkeit auf. Die Kombination aus Gig-Arbeit und Temporärjobs hilft mir, flexibel zu bleiben. Klar, das Einkommen schwankt – etwa 300 bis 600 Franken im Monat –, aber mit etwas Planung komme ich gut zurecht. Ich spare bewusst, um Engpässe zu vermeiden. Was mich an der Gig-Arbeit manchmal nervt: Man bewirbt sich ewig im Voraus und erhält dann lange keine Antwort. Im Grossen und Ganzen fühle ich mich aber fair behandelt, der Lohn stimmt meistens und die Firmen verhalten sich korrekt. Für mich ist Gig-Work ein Übergang; eine gute Schule fürs Leben und für meine angestrebte Selbstständigkeit.

Eine Chance gegen Arbeitslosigkeit

Trotz Herausforderungen erkennt Spurk bei Gig-Work aus arbeitspsychologischer Perspektive auch Chancen. Viel riskanter sei die Arbeitslosigkeit. «Sie ist einer der grössten psychologischen Risikofaktoren überhaupt.» Ein einfacher, digital vermittelter Zugang zu Arbeit könne auch eine Chance sein, sagt der Professor. Hinzu komme, dass einige die Freiheiten von Gig-Work nutzten, um aus ihren Hobbys einen Beruf zu machen, was sich wiederum positiv auf die psychische Verfassung auswirken könne.

Spurk betont jedoch auch, dass bei der vorliegenden Studie, insbesondere bei den Interviews, motivierte Gig-Worker wahrscheinlich etwas überrepräsentiert sind. Zudem sind nicht alle Formen der Plattformarbeit vertreten. So waren keine Uber-Fahrer oder Arbeitnehmende in Gastronomie und Hotellerie befragt worden. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die Arbeitszufriedenheit der Tellerwäscher in Denver um einiges geringer ist als diejenige von IT-Spezialistinnen in der Schweiz.