Im Fokus
Die Arbeitswelt der Zukunft erfordert Mut
Radikal und rasant verändert sich die Arbeitswelt. Wer profitiert vom Wandel und wer bleibt zurück? Fachleute der Universität Bern aus der Soziologie, der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften haben Antworten.

New Work, Gig-Economy oder Work-Life-Balance: Solche und ähnliche Schlagworte zeugen vom Wandel unserer Arbeitskultur. Gleichzeitig verändern Digitalisierung, Automatisierung und Künstliche Intelligenz unsere Arbeit ganz konkret.
Trend zu kürzeren Arbeitszeiten
Nicht allzu neu, aber immer deutlicher zeigt sich beispielsweise der Trend zu kürzeren Arbeitszeiten: Die Schweiz gehört in Europa zu den Ländern mit der höchsten Wochenarbeitszeit, aber auch dem höchsten Anteil Teilzeit-Arbeitenden. Arbeitgebenden ist inzwischen klar: Wenn sie ihr Wunschpersonal anziehen und halten wollen, müssen sie dort, wo es möglich ist, Teilzeit und flexible Arbeitsmodelle anbieten. Aus Umfragen lässt sich schliessen, dass viele Arbeitnehmende in der Schweiz weniger als 42 Stunden pro Woche arbeiten möchten.
«Auch mit einem geringeren ökologischen Fussabdruck kann das Wohlstandsniveau hoch sein.»
Stephanie Moser
Es fragt sich daher: Warum nicht die Arbeitszeit insgesamt verkürzen? Die Frage ist nicht zuletzt aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive interessant, wird doch viel unbezahlte Arbeit im Privaten geleistet, die für die Gesellschaft relevant, aber neben einer Vollzeit-Erwerbsarbeit nur schwer zu erbringen ist. «Eine Arbeitszeitreduktion könnte eine gerechtere Verteilung der verbleibenden Arbeit unter den Arbeitnehmenden ermöglichen», sagt Stephanie Moser vom Centre for Development and Environment (CDE). Das sei gerade angesichts der durch technologische Fortschritte wegfallenden Arbeitsplätze interessant. Moser erforscht die Zusammenhänge zwischen Arbeit, Einkommen, Konsum und Wohlbefinden. Sie weiss auch: «Länder mit kürzeren Arbeitszeiten haben tendenziell tiefere ökologische Fussabdrücke.» Untersuchungen hätten überdies gezeigt, dass in Ländern mit tieferer Arbeitszeit eine gleich hohe Lebenserwartung mit geringeren CO2-Emissionen erreicht werden kann. «Das heisst: Auch mit einem geringeren Fussabdruck kann das Wohlstandsniveau hoch sein», so Moser.
Zur Person

Stephanie Moser
ist Psychologin und leitet den Forschungsbereich «Just Economies and Human Well-Being» am Centre for Development and Environment (CDE), einem strategischen Kompetenzzentrum der Universität Bern.
Mehr Zufriedenheit und weniger Stress dank kürzeren Arbeitszeiten
Kürzlich hat Stephanie Moser mit weiteren Forschenden eine Studie im GZO Spital Wetzikon – Gesundheitszentrum Zürcher Oberland abgeschlossen. Darin wurde für Pflegefachpersonen, die im Drei-Schicht-Modell arbeiten, die Arbeitszeit um zehn Prozent reduziert. Das entspricht einer bis zwei Schichten pro Monat. Dabei zeigte sich: Die Zufriedenheit des Pflegepersonals mit der Arbeitszeit und dem Arbeitgeber stieg merklich, Stresssymptome verringerten sich. Gleichzeitig stellte das Spital als Arbeitgeber fest, dass die Krankheitsabwesenheiten zurückgingen und die Fluktuation sank. Vakanzen konnten ausserdem besser besetzt werden.
Kosten bleiben Herausforderung
Nur die Kosten entwickelten sich bei diesem Experiment nicht wie erwünscht: Die Einsparungen dank weniger Ausfallkosten konnten die effektiven Kosten für die Arbeitszeitreduktion nicht aufwiegen. «Allerdings sind in dieser Gleichung andere, nicht bezifferbare Kosten nicht einberechnet», so Moser. Damit meint sie beispielsweise den Mehraufwand in der Kommunikation und die Unruhe in Arbeitsablauf und Team, die entstehen, wenn regelmässig temporäre Arbeitskräfte eingesetzt werden müssen. Auch die gesamtgesellschaftlichen Kosten infolge von verbreitetem Stress sinken durch weniger Ausfälle.
Kürzere Arbeitszeiten nicht überall realistisch
«Dennoch darf man nicht ausser Acht lassen, dass eine Arbeitszeitverkürzung nicht in jeder Branche gleich einfach umsetzbar ist und für die Betriebe zahlreiche Organisations- und Kostenfragen mit sich bringt», sagt Moser. «Insbesondere, wenn wir von einer tatsächlichen Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich sprechen – also der Lohn der Arbeitnehmenden trotz weniger Arbeitsstunden gleich bleibt.» Werden die Löhne mit den Arbeitszeiten reduziert, könnte dies laut Moser dazu führen, dass Menschen in den unteren Einkommensschichten mehrere Jobs machen müssen: «Und am Ende arbeiten sie sogar mehr als zuvor.»
Verbesserte Work-Life-Balance dank Flexibilität
Moser plädiert dafür, an neuen Modellen weiterzudenken. «Es interessiert uns vom CDE zum Beispiel, ob und wie die Grenzen zwischen klassischer Erwerbs- und anderer Arbeit neu gedacht werden könnten. Wir sind ja nicht nur beruflich tätig, wir leisten auch viel unbezahlte, für die Gesellschaft jedoch sehr wichtige Arbeit. Wie könnte ein Modell aussehen, das diese beiden Kategorien besser vereinbart?»
Zur Person

Ben Jann
ist Professor für Sozialstrukturanalyse und leitet die Untersuchungen der gesamtschweizerischen längsschnittlichen TREE-Studie (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben). Er hat unter anderem über Ungleichheiten am Arbeitsmarkt und Gendergerechtigkeit publiziert.
Flexiblere Arbeitsmodelle entsprechen dem wachsenden Bedürfnis nach einer verbesserten Work-Life-Balance. Dass dieser Anspruch vonseiten der Arbeitnehmenden immer weiter verbreitet ist, sieht der Soziologe Ben Jann unter anderem in den Ergebnissen der TREE-Studie. Diese untersucht mit lang angelegten Befragungen die Ausbildungs- und Erwerbsverläufe verschiedener Kohorten nach Austritt aus der obligatorischen Schule. Jann sieht in der Flexibilisierung auch eine Veränderung der Arbeitswerte und findet: «Wenn man wegkommt von einem System, das eine bedingungslose Aufopferung für den Beruf verlangt, ist das in vielerlei Hinsicht erstrebenswert.» Auch für die Gendergerechtigkeit, die heute in der Arbeitswelt immer noch nicht gegeben ist, könnte eine solche Entwicklung relevant sein, so Jann.
Eine Frage der Verteilung
Neben den Veränderungen in der Arbeitskultur ist die Arbeitswelt auch technologischen Entwicklungen unterworfen. Heute mehr denn je – und das in einem bisher nie da gewesenen Tempo. «Die grosse Unbekannte ist ganz klar die Künstliche Intelligenz», so Jann. Wie diese sich auf die Arbeitswelt und damit auf die Gesellschaft auswirken werde, das könne man heute schlicht noch nicht abschätzen, sagt er. Diese Technologisierung sei in fast allen Berufen relevant. Keine Branche bleibe also verschont.
«Die entscheidende Frage ist: Wie geht die Gesellschaft mit der aktuellen Entwicklung um?»
Ben Jann
«Die grosse Hoffnung hinter der Entwicklung ist ja, dass wir irgendwann alle weniger arbeiten müssen, weil die Maschinen uns die Arbeit abnehmen», so Jann. Es sei fraglich, ob das eintreffe. «Angenommen, das sei tatsächlich so: Wie werden diese Früchte verteilt?» Wenn die Wertschöpfung insgesamt zunehme, könnte die Bevölkerung insgesamt mit weniger (Erwerbs-)Arbeit ein höheres Wohlstandsniveau erreichen. Doch: «Das ist eine Verteilungsfrage», so Jann. Es gibt Unternehmen, die in der Transformationsphase besonders viel verdienen können, andere weniger. Fliesse die gesamte Wertschöpfung in einen bestimmten Bereich und die übrigen 99 Prozent der Gemeinschaft hätten nichts davon, dann werde die Ungleichheit mit dieser Entwicklung noch grösser. «Die entscheidende Frage ist darum: Wie geht die Gesellschaft mit der aktuellen Entwicklung um?»
Zum ersten Mal fallen mehr Jobs weg, als neue geschaffen werden
Auch der Ökonom Michael Gerfin sieht in der aktuellen digitalen Entwicklung ein Phänomen, das mit bisherigen Entwicklungen nicht vergleichbar ist. Jeder technologische Fortschritt brachte es zwar mit sich, dass Arbeitnehmende durch Maschinen ersetzt wurden. Immer entstanden parallel dazu auch neue Jobs und Berufsbilder. «Bis in die 1990er-Jahre wurde grob gesagt jeder überflüssig gewordene Job eins zu eins ersetzt. Mit der letzten Welle der Digitalisierung scheint das nicht mehr so zu sein», so Gerfin.
Zur Person
Michael Gerfin
ist Professor am Volkswirtschaftlichen Institut in den Bereichen Arbeitsökonomie, Gesundheitsökonomie und Mikroökonometrie. Er beschäftigt sich unter anderem mit Fehlanreizen im Gesundheitswesen und mit Gesundheitskosten.
Die Studien dazu seien zwar noch nicht ganz ausgereift, aber wie es aussehe, fallen inzwischen tatsächlich mehr Aufgaben weg, als neue geschaffen werden. Zumindest in den USA sei das so eingetroffen. «Das wird auch für die Schweiz eine Herausforderung.» Dennoch betont Gerfin, die Annahme, es gebe eine fixe Menge an Arbeit, die verteilt werden könne, sei falsch. «Der gesamte Kuchen der Arbeit, die Menschen leisten können, verändert sich laufend.» Neu hingegen sei die Geschwindigkeit dieser Veränderung: «Wenn das Tempo so weitergeht, sieht die Arbeitswelt in zehn Jahren völlig anders aus.»
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Kreativität und Menschlichkeit bleiben relevant
Neu ist auch, dass Tätigkeiten betroffen sind, die von bisherigen Automatisierungen weitgehend verschont geblieben waren. KI-Tools können in Berufen mit einem hohen Anteil an kognitiver Arbeit inzwischen Arbeitsschritte abnehmen. Um als Arbeitnehmende in diesen Bereichen nicht ganz ersetzt zu werden, braucht es darum Stärken in Bereichen, die KI nicht übernehmen kann. Zum Beispiel: Kreativität und Innovation. Am Beispiel der Lektorinnen lässt sich das Phänomen in den USA bereits beobachten, berichtet Gerfin. Ihre Zahl habe in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Denn Orthografie und Grammatik kann heute auch ein KI-Tool prüfen – und das wesentlich effizienter. Als Lektor zählen darum die menschlichen Fähigkeiten. Man muss spüren, wo Lücken im Erzählstrang sind, wie stringent ein Stil ist, was sprachlich passend tönt. Das führt dazu, dass nur noch die wirklich guten Lektorinnen eingesetzt werden. Das sei das, was am oberen Ende der Einkommensskala passiere: Sehr gute, innovativ denkende Wissensarbeitende brauchten sich um ihre Jobs nicht zu sorgen, während jene, die ihren «Dienst nach Vorschrift» gründlich und solide leisteten, gefährdet seien.
Zur Person
Jeanne Tschopp
ist Assistenzprofessorin am Volkswirtschaftlichen Institut in den Bereichen Arbeitsökonomie und internationaler Handel. Sie erforscht unter anderem, wie Arbeitsmarktbeschränkungen und die Struktur der Lohnbildung die Funktionsweise der Arbeitsmärkte beeinflussen.
Am unteren Ende der Skala gibt es ebenfalls viele Arbeitnehmende, die sich weniger Sorgen machen müssen. Jene nämlich in Berufen aus den Bereichen Pflege, Betreuung, Therapie, Begleitung oder Körperpflege. «Diese Arbeitsfelder können vielleicht mit KI teilweise effizienter gestaltet werden, aber die Kernaufgaben kann man hier nicht ersetzen.» An den Polen der Lohnverteilung passiere also wenig. «Es stellt sich die Frage, was mit den Arbeitnehmenden im mittleren Bereich passiert», so Gerfin.
Wenige Firmen haben die Nase vorn – und sorgen für mehr Ungleichheit
Seine Kollegin Jeanne Tschopp sieht in ihrer aktuellen Forschung ebenfalls, dass wachsende Ungleichheit nicht nur jene zusätzlich trifft, die bereits betroffen sind. Dort, wo neue Technologien in erster Linie für hoch qualifizierte Arbeitnehmende von Vorteil sind, verstärken sich die Lohnunterschiede. Und zwar nicht nur im Vergleich zu weniger qualifizierten Arbeitnehmenden, sondern auch unter jenen mit ähnlicher Qualifikation. Von technologischen Verbesserungen profitieren vor allem besonders produktive Firmen. Diese werden noch produktiver, wachsen, bezahlen höhere Löhne und ziehen damit immer mehr hoch qualifizierte, etablierte Fachkräfte an – die bei anderen Firmen abwandern. «Mit der Zeit führt dies zu grösseren Lohnunterschieden zwischen den Unternehmen – auch zwischen Arbeitnehmenden mit ähnlichen Fähigkeiten», so Tschopp.
«Die Lohnunterschiede zwischen den Unternehmen steigen – auch zwischen Arbeitnehmenden mit ähnlichen Fähigkeiten.»
Jeanne Tschopp
Wie Tschopp sehen auch Gerfin und Jann die Gefahr von noch grösserer Ungleichheit durch die aktuelle Entwicklung. Beide rufen aber auch in Erinnerung, wie kreativ die Menschen sind und dass sie sich in der Vergangenheit immer wieder neue Betätigungsfelder erschlossen haben. «Das braucht manchmal etwas Mut und Unternehmergeist, aber es ist möglich», sagt Gerfin. Und Jann betont: «Die Veränderungen – auch wenn sie aktuell rasant sind – passieren schrittweise, von Tag zu Tag. Das ermöglicht es uns Menschen, uns anzupassen. Und darin sind wir gut.»
KI verlangt verantwortliches Handeln von allen
Dennoch sei es wichtig, auch auf übergeordneter Ebene auf die Entwicklungen zu reagieren. Zum Beispiel führe der von Tschopp beschriebene Mechanismus irgendwann zu einer Markt- und Machtkonzentration, so Gerfin. «Einige wenige Anbieter können dann höhere Preise verlangen und mit der Zeit auch die Löhne wieder drücken. Und nicht zuletzt nehmen sie immer mehr politisch Einfluss.» Das sei das, was im Tech-Bereich bereits passiert ist. «Darum versuchen die Länder, mit Wettbewerbskommissionen Schranken zu setzen.» Die neuen Entwicklungen rund um KI stellen auch diese vor neue Fragen. «In den Kommissionen sitzen Menschen, welche die Verantwortung tragen müssen. Und nicht nur dort: Überall sind es am Ende wir Menschen, die verantwortlich handeln müssen – auch im Umgang mit KI.»
Die Frage «Wie geht die Gesellschaft mit dem Wandel in der Arbeitswelt um?» ist und bleibt die Frage, die wir uns einzeln stellen und gemeinsam verhandeln müssen.