Leben, um sterben zu können

Wie wir als Individuen und als Gesellschaft mit dem Tod umgehen, hat sehr viel mit dem Leben zu tun. Was im Leben wichtig ist, ist es häufig auch im Sterben. Und wer sich seiner eigenen Endlichkeit bewusst ist, lebt vielleicht umso intensiver.

Text: Elena Ibello 26. März 2024

Bild: istockphoto

«Ich muss akzeptieren, dass ich nicht ewig lebe. Das ist nicht toll, aber da gibt es nun einmal keine Ausnahmen.» Wenn Hansjörg Znoj über unseren Umgang mit dem Tod nachdenkt, kommt er immer wieder auf einen Punkt zurück. Er sagt: «Das grosse Wort ist Akzeptanz.» Der Psychologe hat sich sehr intensiv mit Trauer auseinandergesetzt. Er sagt, sie sei eine emotionale Reaktion darauf, dass die Welt nicht mehr so ist, wie man sie für richtig empfindet. Genau das passiere, wenn man einen nahestehenden Menschen verliere. Es ist eine Erschütterung der eigenen Vorstellung der Welt. Letztlich, so Znoj, sei Trauer ein universeller, biologischer Prozess, der nach einer solchen Erschütterung stattfinde. Auch wenn unsere Vorstellung von Trauer kulturell übermittelt ist und wir als Trauernde zum Teil mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert sind. Eine Art Trauer, ein Abschiedsschmerz gehört wohl auch dann dazu, wenn man nicht einen anderen Menschen gehen lassen muss, sondern selbst stirbt. Sich vom eigenen Leben zu verabschieden, stellen wir uns das nicht alle wahnsinnig schwierig vor? Hier spielt laut Znoj eben die Akzeptanz eine enorme Rolle. Es gilt, sich damit abzufinden, dass unser Leben früher oder später sein Ende findet. «Das Sterben ist wohl, ähnlich der Trauer, unter anderem ein Sichlösen von Vorstellungen. Das kann auch befreiend sein», so Znoj.

Zur Person

Bild: Dres Hubacher

Hansjörg Znoj

ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie und ehemaliger Leiter der Abteilung für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin sowie Mitdirektor am Institut für Psychologie der Universität Bern. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher, unter anderem «Trennung, Tod und Trauer».

Sich auf das eigene Sterben vorzubereiten, das hält er nicht nur bis zu einem gewissen Grad für möglich, sondern er sieht die Auseinandersetzung mit dem Tod sogar als eine Aufgabe, die wir Menschen im Leben haben. Dieser Aussage stimmen auch andere Fachpersonen zu.

Lebensende als gesellschaftliches Thema

Der Palliativmediziner Steffen Eychmüller begleitet Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen. Sie und ihre Angehörigen sollen hier umfassend betreut werden. Eychmüller sagt: «Ich bin überzeugt, dass man sich auf das Sterben vorbereiten kann und muss.» Er sieht dies nicht nur als individuelle, sondern auch als gesellschaftliche Aufgabe. «Eine Gesellschaft, die sich mit Lebensende und Sterben beschäftigt, geht wahrscheinlich wesentlich reifer mit dem Sterben, aber auch bewusster mit dem Leben um.» Ein Umgang, der Eychmüller in unserer aktuellen Gesellschaft fehlt, was sich in der Politik niederschlägt. Er zieht die Parallele zum Lebensanfang: Die Geburt ist wie das Sterben ein existenzielles Ereignis. Auch bei einer Geburt kann man nicht genau wissen, was auf einen zukommt, aber man weiss heute sehr gut, was es braucht, um eine Geburt möglichst gut zu begleiten. Das wissen wir beim Sterben heute ebenso. Der Unterschied: In der Geburtshilfe wird die Finanzierung so sichergestellt, dass medizinische Vorsorge, Geburtsvorbereitung und -begleitung in verschiedenen Settings sowie Vater- und Mutterschaft gesetzlich klar geregelt sind. «Am Lebensende gibt es das alles nicht. Es beginnt schon damit, dass ein Mensch, dessen Angehörige im Sterben liegt, keinen Urlaub nehmen kann, sondern sich krankschreiben lassen muss, wenn er die sterbende Person begleiten will», so Eychmüller. Ebenso im Spital sei die Finanzierung unglücklich geregelt. Wer nicht ganz am Ende seines Lebens noch einmal eine Verlegung erleben will, muss quasi «unter Zeitdruck sterben», weil die Aufenthaltsdauer im Spital de facto aufgrund der Vergütung via Fallpauschalen begrenzt ist. «Das ist eigentlich das Ende der zivilisierten Gesellschaft», findet Eychmüller.

Zur Person

Bild: Dres Hubacher

Steffen Eychmüller

ist ausserordentlicher Professor für Palliativmedizin an der Universität Bern und Chefarzt an der Universitätsklinik für Radioonkologie am lnselspital. Zudem ist er Leiter des Universitären Zentrums für Palliative Care und Mitautor des Sachbuches «Das Lebensende und ich».

Was wäre, wenn?

Damit sich das ändern kann, sollten wir alle uns mit unserer Endlichkeit auseinandersetzen und dem Lebensende in der Gesellschaft einen deutlich höheren Wert geben, findet Eychmüller. Das klingt herausfordernder, als es vielleicht ist. «Wir könnten uns hin und wieder die Frage stellen: Was wäre, wenn mein Leben bald zu Ende wäre?», sagt Eychmüller. Wenn wir uns bewusst wären, dass unser Leben jederzeit vorbei sein kann, dann würde es uns wohl nicht so fremd vorkommen, läge es uns nicht so fern, über das eigene Sterben nachzudenken. Eychmüller findet, wir hätten im Leben dazu genug Gelegenheiten. Wenn zum Beispiel im erweiterten Umfeld eine Person sterbe, dann mache uns das oft betroffen. Wir könnten uns in diesen Situationen fragen: Wie wäre es, wenn das eine Person aus meiner engsten Familie wäre? Oder ich selbst? Wären wir heute einigermassen vorbereitet? Hätten wir einander alles Wichtige gesagt? «Wir können uns entscheiden, uns dem Thema in einem solchen Moment zu stellen, oder wir können das von uns wegschieben und weitermachen, nur um irgendwann zu merken, dass wir es verpasst haben, uns die wichtigen Gedanken im Leben zu machen», so Eychmüller.

«Wenn wir uns vorbereiten und die eigene Endlichkeit akzeptieren, wird auch das Leben intensiver.»

Steffen Eychmüller

In seinem Alltag im Inselspital erlebt er immer wieder, dass Menschen völlig überrumpelt werden vom Lebensende, obwohl sie meist über lange Zeit schwer krank waren. Oft sei dann die Überforderung bei allen Beteiligten gross, und ein gemeinsames Aushalten und Tragen, das dann so wichtig wäre, wird schwierig. «Immer wieder kommt das Thema Beziehungen zum Vorschein. Wir sehen – das belegen auch Studien: Was im Leben und am Lebensende heilsam ist, sind Beziehungen.»

Reden, reden, reden

Um Gedanken und Gespräche über das Sterben anzuregen, engagiert sich der Palliativmediziner und Forscher in verschiedenen Initiativen. Zum Beispiel mit dem Stadtfestival «Endlich.Menschlich», das im Oktober in Bern stattfindet und – parallel zum gleichzeitig durchgeführten wissenschaftlichen Kongress – die Diskussion in der Gesellschaft darüber anregen will, was ein menschenwürdiges Lebensende bedeutet. Oder mit seinem Buch «Das Lebensende und ich», das er gemeinsam mit der Kommunikationswissenschaftlerin Sibylle Felber herausgegeben hat. Felber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Inselspital Bern und ebenso wie Eychmüller Teil der Forschungsgruppe «Palliative Care and End of Life», die das Inselspital gemeinsam mit dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern führt. Das Buch trägt den Untertitel «Anregungen für einen leichteren Umgang mit der Endlichkeit». Wichtig seien regelmässige Gespräche über das Leben und das Sterben, sagt Eychmüller. Dass man überhaupt immer wieder darüber rede, sei entscheidend. Was man genau bespricht, dazu findet man bei Bedarf Anregungen. «Wenn wir uns vorbereiten und die eigene Endlichkeit akzeptieren, wird auch das Leben intensiver. Wir feiern es umso mehr», ist Eychmüller überzeugt.

Wie will ich leben?

Isabelle Noth sieht das ebenso. Die Seelsorgerin leitet unter anderem den Lehrgang «Spiritual Care» an der Universität Bern. Sie sagt: «Wenn wir realisieren, dass unsere Zeit beschränkt ist, dann fragen wir uns zwangsläufig: Wie will ich eigentlich leben? Was ist mir wichtig im Leben?» Sehr oft, so Noth, werde uns dann klar, wie elementar es ist, mit anderen Menschen und mit der Welt verbunden zu sein.

Zur Person

Bild: Dres Hubacher

Isabelle Noth

ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik und Co-Direktorin des Instituts für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Zu ihren zahlreichen Buchbeiträgen zählt beispielsweise «Tod auf Verlangen, Sterben nach Wunsch?» in «Die Geschlechter des Todes».

In der seelsorglichen Begleitung von Menschen am Lebensende erlebten sie und ihre Kolleginnen, genau wie Eychmüller und sein Team, dass sich viele Menschen im Sterben dieser Wichtigkeit von Beziehungen bewusst werden, erzählt Noth. Manchmal gerade dadurch, dass Beziehungen fehlen oder in dieser existenziellen Lebenssituation nicht zu tragen vermögen. Auch komme es vor, dass sich Menschen am Lebensende Fragen stellten wie: Warum habe ich nicht früher gewagt, auf mich selbst zu hören? Warum habe ich mein Leben lang das getan, von dem ich glaubte, es werde von mir erwartet? Oder: Wieso habe ich es nicht geschafft, grosszügiger oder mutiger zu sein, vielleicht mehr Verständnis zu zeigen oder zu verzeihen?

«Am Ende des Lebens leiden die Menschen oft weniger darunter, dass sie sterben müssen, als darunter, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.»

Isabelle Noth

«Am Ende des Lebens leiden die Menschen oft weniger darunter, dass sie sterben müssen, als darunter, dass sie gar nicht richtig gelebt haben. Das Leben in Fülle zu leben, sich dem Leben ganz auszusetzen, es auszukosten und Beziehungen zu pflegen, ist darum sicher eine sehr gute Vorbereitung auf das eigene Sterben», sagt Noth. Zur Fülle gehöre das Gute, Grosse, Schöne ebenso wie das Ungute und Schwere. Damit könne man leben – und irgendwann auch sterben.

Vorbereiten heisst klären

Auch Unerledigtes zu erledigen, hilft, am Lebensende gelassener zu sein. Damit muss man nicht warten, bis der Tod sich tatsächlich ankündigt, sondern Klärung hilft mitten im Leben. Natürlich gilt es, die praktischen Fragen zu beantworten wie jene über medizinische Entscheidungen, die zumindest teilweise in einer Patientenverfügung geregelt werden können. Oder Fragen rund um Hinterlassenschaften und Finanzielles. Aber das sind alles Dinge, die sich mehr oder weniger leicht regeln lassen und wofür Informationen zugänglich sind. Weniger einfach sind oft andere Dinge. «Lebensthemen, die lange nicht angeschaut wurden, können am Ende des Lebens sehr belasten und enorm wehtun», sagt Isabelle Noth. Zum Beispiel eine schwierige Beziehung zu den Eltern oder Verletzungen, über die nie geredet wurde. Solch Unausgesprochenes wiegt am Ende manchmal schwer. «Das sehen wir in der seelsorglichen Begleitung leider immer wieder», so Noth. Solche Themen zu Lebzeiten anzugehen, könnte also auch im Hinblick auf den eigenen letzten Lebensabschnitt hilfreich sein. Und wie steht es mit der viel zitierten Selbstbestimmung bis zum Tod? Laut dem Spitalethiker Rouven Porz vom Inselspital, Universitätsspital Bern steht bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende der Patientenwille im Mittelpunkt. Das gibt uns die Autonomie und Macht, selbst zu entscheiden. Porz, der sich unter anderem mit der Implementierung von klinischer Ethik in Institutionen des Schweizer Gesundheitswesens befasst, sagt dazu: «Wir pochen sehr auf unsere Selbstbestimmung. Also müssen wir uns auch die nötigen Gedanken machen.» Es wird also von uns erwartet, dass wir unseren Willen kundtun. Somit ist die Selbstbestimmung nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht, die wir wahrnehmen müssen. Und auch hier, so Porz, dürfen wir nicht vergessen, dass wir bei aller Selbstbestimmung keine isolierten Einzelpersonen, sondern soziale Wesen sind, die in Beziehungen zu anderen stehen. Auch auf sie haben unsere Entscheidungen Einfluss – unter Umständen über unser eigenes Leben hinaus.

Magazin uniFOKUS

«Erschütterungen»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Erschütterungen»

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