Citizen Science zu Wildpflanzen
Unterwegs für die Thuner Flora
Kathrin Häberlin ist Botanikerin aus Passion. Freiwillig kartiert sie für das Florinventar der Region Thun Wildpflanzenarten. Ihre Exaktheit ist für diese Aufgabe ebenso hilfreich wie die Aufgabe für ihr persönliches Wohlbefinden.

Unser Treffpunkt ist an der Ländte Hünibach. «Ich werde an der umgehängten Lupe gut zu erkennen sein», prophezeite Kathrin Häberlin in ihrer E-Mail. Tatsächlich ist sie unter den anwesenden Menschen leicht auszumachen, denn niemand sonst ist derart der Natur zugewandt wie sie. Kurz vor unserer Verabredung hat die Botanikerin nahe dem Seeufer eine Rose entdeckt; die erste dieser Art in «ihrer» Zone. «Rosenarten sind schwierig zu bestimmen», betont sie. Schon jetzt ist ihr klar, dass sie diese Pflanze nach unserem gemeinsamen Spaziergang durch die Besiedelung von Hünibach nochmals genauer unter die Lupe nehmen wird.
Magazin uniFOKUS

«Ein Teil von Bern»
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Ein Teil von Bern»
Forschung an der Seepromenade
In der Vegetationszeit arbeitet Häberlin rund einen Tag pro Woche freiwillig als Botanikerin für das Florinventar der Region Thun (siehe Infobox). Das von ihr zu kartierende Gebiet ist fünf Quadratkilometer gross und erstreckt sich um den Thunersee. Ihre Aufgabe ist es, innert drei Jahren alle hier ansässigen Wildpflanzenarten zu erfassen. Ihre Liste mit all den bereits gefundenen Arten ist lang, doch noch immer entdeckt sie neue. Wird sie fündig, gibt sie auf der FlorApp von InfoFlora den botanischen Pflanzennamen ein und lädt die von ihr gemachten Fotos hoch. Diese App ist mit der Datenbank von InfoFlora verknüpft, sodass ihre Meldung nach einer Weile auf der Karte im digitalen Feldbuch als Punkt vermerkt ist.

Die 37-Jährige führt uns zu einem Baum in der Nähe der Seepromenade. «Viel zu entdecken gibt es im Siedlungsgebiet insbesondere auf ruderalem Boden, der Tritten, Bautätigkeiten oder anderen menschlichen Aktivitäten ausgesetzt ist», erklärt sie. Der vor Kurzem hier angepflanzte Baum ist ausländischer Herkunft, und der Erdboden der Baumscheibe ist noch offen. Diese beiden Faktoren sorgen für adventiv eingeschleppte Arten und machen den Ort dynamisch für Pflanzenarten, welche die offene Fläche zurückerobern. Mit ihrer Lupe erkennt Häberlin einen nicht-einheimischen Krähenfuss, lateinisch: Coronopus didymus. «Die wissenschaftliche botanische Sprache ist Latein. Man kann sich damit auf der ganzen Welt mit anderen Fachpersonen verständigen.» Als studierte Mathematikerin liebe sie universelle Sprachen sowieso.
Zur Botanik gefunden – und zu sich selbst
Neben Mathematik hat Häberlin an der Universität Bern Physik studiert. Ihr Entschluss dafür war feministisch motiviert. «Ich wollte geschlechtsatypische Fächer belegen.» Obwohl sie in diesen Disziplinen herausragende Leistungen zeigte, fühlte sie sich während des Studiums stets wie als Fremdkörper. «Nur weil man etwas kann, muss es einem nicht Spass machen.» Sie kämpfte sich bis zum Abschluss durch, spezialisierte sich auf Klimaphysik. Als Gymnasiallehrerin für Mathe und Physik war sie beliebt, gerade weil sie die Jugendlichen darin unterstützte, ihren Weg zu finden. Dabei sind die Fragen «Wer bin ich?» und «Was macht mich aus?» zentral. Und irgendwann holten sie genau diese Fragen selbst ein.
«Jede Pflanze ist anders, wie wir Menschen, die wir zwar von ein und derselben Art und doch so unterschiedlich sind.»
Kathrin Häberlin
Eine Benachrichtigung ihres Telefons macht auf die Rückmeldung der App aufmerksam. «Du hast eine neue Art gefunden, bravo.» Möglich ist auch eine solche Nachricht: «Bist du dir sicher?» Dies erfolgt immer dann, wenn eine Eingabe, basierend auf den bisherigen von InfoFlora gesammelten Datenbankeinträgen, irritiert und deshalb genauer überprüft werden sollte. «Ich bin perfektionistisch und selbstkritisch. Umso wichtiger ist es für mich, in der Natur sein zu können, um mich zu ‹bödele›.» Weil es in der digitalen Welt nur 0 oder 1 gibt, tue es ihr gut, wenn sich ihr in der Natur ein Bewusstsein für Grautöne öffnet. «Jede Pflanze ist anders, wie wir Menschen, die wir zwar von ein und derselben Art und doch so unterschiedlich sind.»

«Hier haben wir etwas Schönes», unterbricht sie und hat schon wieder etwas entdeckt, das andere übersehen würden. In einer Vertiefung im Asphalt ist es einer Pflanze gelungen, sich in wenig angesammeltem Humus mitten auf einem Parkplatz anzusiedeln. Mit der Lupe überprüft Häberlin Faktoren wie etwa die Ein- oder Mehrzelligkeit der Haare und klärt ab, ob der Stiel sogenannt fettglänzend ist. Sie kommt zum Schluss, dass es sich um ein Kahles Bruchkraut (Herniaria glabra) handelt. Zärtlich streichelt sie dieses und hält fest: «Hier hat man den Mut, nicht mit dem Kärcher zu wüten. Es tut keinem weh, dass das hier wächst.» Das Ganze sei doch ein schönes Bild für die Resilienz von Pflanzen und zeige, dass sie auch an unwahrscheinlichen Standorten zurechtkommen.
Vom Hobby zum Beruf
Die Sensibilität für die Relevanz der Artenvielfalt nehme zu, bestätigt sie. Es komme oft vor, dass sich Laien für ihre Arbeit interessieren. Als wäre es inszeniert, kommt in diesem Moment eine aufmerksame Spaziergängerin auf uns zu und will wissen, warum wir so zielstrebig auf diese Pflanzen zugesteuert seien. Häberlin stellt sich und das Projekt vor. «Und woher kennen Sie all die Pflanzennamen?» Die Fachfrau antwortet ihr, dass ihre Grossmutter sie schon früh für die Flora begeistert und ihr Bestimmungsbücher geschenkt habe. Mit dem minutiösen Artenbestimmen habe sie jedoch erst 2021 richtig angefangen. «Ich liebe es, aus der Haustüre zu gehen und Wissenschaft zu betreiben. Und wenn man, wie ich, nerdig ist, kann man mit der Unterstützung anderer Cracks in der Artenkenntnis rasch vorankommen.» Die beim Florinventar gewonnene Expertise habe ihr erlaubt, beruflich quereinzusteigen. Vergangenen Sommer ist sie bei «B + S Ingenieure und Planer» in der Umweltabteilung als Fachspezialistin für Botanik angestellt worden.
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Einst wollte Kathrin Häberlin die Gegebenheiten auf der Erde mittels der Physik verstehen, aber die Botanik bringt sie näher an ihr Ziel. Über die Pflanzen kommt sie nicht nur mit Menschen in Kontakt, sondern auch mit Tieren. Weil sie für die Tiere berechenbar unterwegs sei und oft mehrere Minuten lang an einem Ort verweile, sei es ihr sogar einmal gelungen, mitten in einer Ringelnatterhochzeit zu stehen. Selbst beim Wandern empfinde sie sich als Eindringling in die Natur. «So richtig in die Natur integriert fühle ich mich eigentlich nur beim Botanisieren.»
Florinventar der Region Thun
Das Floreninventar der Region Thun, unterstützt durch Pro Natura Bern, hat das Ziel, mit Freiwilligenarbeit innerhalb von zehn Jahren alle Wildpflanzenarten auf dem gesamten Gebiet im Verwaltungskreis Thun zu kartieren. Die Stiftung InfoFlora, die mit der Universität Bern einen Vertrag für Zusammenarbeit abgeschlossen hat und deren Deutschschweizer Büro sich im Botanischen Garten der Universität Bern befindet, beurteilt auf dieser Grundlage die Gefährdungen aller Wildpflanzen und erneuert alle zehn Jahre die «Roten Listen». Nur bei schwer bestimmbaren Arten wird von InfoFlora finanzielle Unterstützung gesprochen, damit das Florinventar eine Fachperson mit jahrzehntelanger Expertise losschicken kann.