Biodiversität in der Stadt: gross, aber bedroht

In Schweizer Städten ist die Biodiversität überraschend gross. Doch die Verdichtung der Siedlungsgebiete setzt sie unter Druck. Wie können wir die Siedlungsräume naturnah gestalten? Expertinnen und Experten loten diese Frage in einer Vortragsreihe im Botanischen Garten der Universität Bern aus.

Von Barbara Gnägi 19. Mai 2021

Biodiversität findet auch in den Städten statt. Igel halten sich mittlerweile vermehrt in Siedlungsgebieten auf. © Pixabay

Täglich nutzen wir die Leistungen der Natur, oft ohne uns dessen bewusst zu sein: Wir atmen frische Luft und trinken sauberes Wasser, essen Früchte und Müesli aus Getreide oder schreiben Notizen auf Papier, welches aus Bäumen hergestellt ist. Am Wochenende geniessen wir die Natur ausserhalb von Siedlungen oder in den Bergen. All das geht nur, wenn die Biodiversität intakt ist. Sie ist aber weltweit stark unter Druck: 14 der 18 Leistungen der Natur sind am Schwinden, so beispielsweise saubere Luft oder die Bestäubung von Pflanzen.

In der Schweiz ist die Biodiversität zwar gross, aber in einem unbefriedigenden Zustand. Die Qualität und Grösse von wertvollen Lebensräumen für Pflanzen und Tiere nehmen laufend ab, meist sind nur noch isolierte Restflächen übrig. Viele Lebensräume gleichen sich immer mehr an (z.B. Wiesen). Heute sind nicht nur knapp 50 Prozent der Lebensraumtypen in der Schweiz, sondern auch die Hälfte aller einheimischen Arten bedroht oder potenziell gefährdet. Wie lässt sich ein weiterer Verlust der Biodiversität verhindern?

Biodiversität findet auch in den Städten statt

Eine Stadt ist in der Vorstellung von vielen ein Dschungel aus Asphalt und Hochhäusern und dadurch naturfern. Doch in Schweizer Städten gibt es viel kleinflächigen Lebensraum für Pflanzen und Tiere: Gärten, Parkanlagen, Friedhöfe, Bauerwartungsland und Gewerbeareale. Es gibt sogar Arten, die sich weitgehend vom landwirtschaftlich geprägten Raum ins Siedlungsgebiet verlagert haben. Dazu gehört beispielsweise der Igel. Die Tatsache, dass 67 Prozent der Tierarten und 45 Prozent der einheimischen Wildpflanzen im Siedlungsgebiet vorkommen, zeigt, dass die Biodiversität eben auch in den Städten stattfindet.

Die Vielfalt der Natur ist in den Städten überraschend gross. Das liegt unter anderem daran, dass die Siedlungsgebiete mit kleinräumig strukturierten Standorten, einer hohen baulichen Dynamik und vielfältigen klimatischen Bedingungen auch spezialisierten Arten einen Rückzugsort bietet. Doch die Biodiversität steht auch hier unter Druck, nimmt also ab: Die zunehmende Zersiedelung, die Versiegelung der Böden, die Zerschneidung der Lebensräume etwa durch Verkehrsinfrastrukturen und die intensive Bewirtschaftung vorhandener Freiräume lassen typische Lebensräume wie Baumalleen, naturnahe Grünanlagen oder Bäche verschwinden. Erfreulicherweise wird der Wert biodiverser Lebensräume für die Wohnqualität der Menschen zunehmend erkannt, und so haben Städte und Unternehmen begonnen, ihre Grünareale aufzuwerten.

Die Siedlung Fröschmatt bietet Lebensräume für einheimische Pflanzen und Tiere sowie einen attraktiven Naherholungsraum für die Anwohnerinnen und Anwohner. © Peter Studer
Die Siedlung Fröschmatt bietet Lebensräume für einheimische Pflanzen und Tiere sowie einen attraktiven Naherholungsraum für die Anwohnerinnen und Anwohner. © Peter Studer

Ein Beispiel dafür ist die Siedlung Fröschmatt in Bern. Durch die Vernetzung naturnaher Aussenanlagen haben nach nur 1,5 Jahren 75 weitere Tierarten diese Biotope besucht. Nach 4,5 Jahren stieg diese Zahl erfreulicherweise auf 120.

Vortragsreihe über die Herausforderung der Stadtnatur

In der Stadt Bern konnte durch das «Floreninventar Bern FLIB» festgestellt werden, dass sich insgesamt 1’575 Pflanzenarten in der Gemeinde selbstständig vermehren. Zudem wurden 345 Moos-, 110 Flechten- und rund 1’700 Pilzarten gezählt. Das ist eine solide Grundlage, doch wie viel Fläche braucht die Biodiversität in der Stadt Bern? Wo sollen diese Flächen Platz bekommen und wie sind sie zu gestalten?

Dabei sollen auch die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner berücksichtigt werden: Wie können Menschen sich in ihrem städtischen Umfeld gut erholen? Wie trägt die Biodiversität zum Wohlbefinden bei? Diese und weitere Fragen zu den Herausforderungen der Stadtnatur werden in der Vortragsreihe ab 27. Mai 2021 jeweils donnerstags ab 18 Uhr im Botanischen Garten (BOGA) von Expertinnen und Experten beantwortet (Programm siehe Kasten).

Die kostenlosen Open Air-Vorträge bieten Gelegenheit, den Referentinnen und Referenten Fragen zu stellen, sich über neue Entwicklungen in der Landschaftsarchitektur zu informieren, sich bei der Gartengestaltung inspirieren zu lassen oder zu erfahren, welche Geschichten die Stadtnatur zu erzählen hat. Kurz: Hier lässt sich Forschung zur Stadtnatur aus der Nähe erleben.

Übrigens bietet auch der BOGA einen idealen Lebensraum für die Vielfalt der Stadtnatur. Im Frühling 2019 wurde ein grossangelegtes Biodiversitätsinventar durchgeführt mit einem sehr erfreulichen Ergebnis: Über 1’000 wildlebende Arten wurden in den 2,5 Hektaren am Aarehang gezählt. Diese haben sich zusätzlich zu den rund 5'500 Pflanzenarten, welche im BOGA kultiviert werden, im Garten angesiedelt. Das Biodiversitätsinventar wird im Herbst wiederholt, das Resultat bereits mit Spannung erwartet. Der BOGA reicht jedoch nicht, um den Biodiversitätsverlust in der Stadt zu stoppen.

Bild zum Open Air-Vortrag «Stadtnatur zum Glück – Wie die Biodiversität zum Wohlbefinden beiträgt». © Dr. Nicole Bauer, Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL

Alle können etwas beitragen

Wer aktiv werden will und selbst naturnahe Lebensräume schaffen möchte, findet während dem Themenjahr «Natur braucht Stadt – Mehr Biodiversität in Bern» von Stadtgrün Bern und dem BOGA eine breite Palette an Praxishilfen und Aktivitäten. Dazu gehören unter anderem Stadtspaziergänge, die Sonderausstellung «Von Nischen und Königreichen» im BOGA oder das Berner Praxishandbuch «Natur braucht Stadt», damit auf jedem Fenstersims, jedem Balkon und jeder Aussenfläche, egal ob auf dem Boden, an Wänden oder auf dem Dach, naturnaher Lebensraum geschaffen werden kann.

Balkone, Terrassen und Fenstersimse sind Gärten im Miniformat. Durch die Nutzung verschiedener Ebenen und Kletterhilfen können verschiedenste naturnahe Lebensräume nachgebildet werden. © Deborah Schäfer, BOGA
Balkone, Terrassen und Fenstersimse sind Gärten im Miniformat. Durch die Nutzung verschiedener Ebenen und Kletterhilfen können verschiedenste naturnahe Lebensräume nachgebildet werden. © Deborah Schäfer, BOGA

Open Air Vorträge: Herausforderung Stadtnatur im BOGA – Programm

Zur Autorin

Barbara Gnägi ist Social Media Managerin und Verantwortliche für das Themengebiet «Campus» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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