Kernexplosion in der Seele

Franco Rasetti war einer der Physiker, die die Grundlagen der Kernphysik legten – und damit die Atombombe ermöglichten. Obwohl er den Mut hatte, eine Beteiligung am Atombombenprojekt abzulehnen, war er von den Auswirkungen seiner Entdeckung erschüttert.

Text: Saverio Braccini 25. April 2024

Nach dem Schock der Atombombe gab Franco Rasetti die Physik auf und fokussierte auf Naturforschung. Foto: Robert Mottar, Johns Hopkins Magazine, Juni 1953
Nach dem Schock der Atombombe gab Franco Rasetti die Physik auf und fokussierte auf Naturforschung. Foto: Robert Mottar, Johns Hopkins Magazine, Juni 1953

«La bomba, la bomba!», hallte die Stimme eines 72-jährigen Manns durch die Flure der psychiatrischen Klinik San Salvi in Florenz. 1973, 28 Jahre nach der Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki, war Franco Rasetti – einer der Väter der Kernphysik – zusammenge­brochen. Sein ganzes Leben hatte die Vernunft über die Emotionalität gesiegt. Nun war der Damm gebrochen, und er fand keine Ruhe, er war besessen von der Atombombe und was sie angerichtet hatte.

Franco Rasetti war ein Wunderkind. Geboren 1901 in einem kleinen umbrischen Dorf an der toskanischen Grenze wurde er von seinen Eltern privat unterrichtet. Sein Vater war Professor für Agrarwissenschaft und seine Mutter Malerin. Er zeigte eine wahre Leidenschaft für die Natur und ein aussergewöhnliches Talent fürs Klettern. Mit nur sechs Jahren konnte er Tiere und Pflanzen zeichnen wie seine Mutter und sammelte gemeinsam mit seinem Vater Insekten. Mit 17 veröffentlichte er seinen ersten Artikel über Entomologie und schloss seine Matura mit Auszeichnung vor­zeitig ab. Wie die meisten naturwissenschaftlich orientierten Spitzenstudenten seiner Zeit begann er, Ingenieurswissenschaften zu studieren.

Die Jungs der Via Panisperna

In den ersten Monaten an der Universität Pisa lernte er einen ­herausragenden gleichaltrigen Studenten kennen: Enrico Fermi, den zukünftigen Nobelpreisträger. Zwischen ihnen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft und gegenseitige intellektuelle Wertschätzung. Fermi, ein Physiker aus Berufung, überredete Rasetti zum Studienwechsel. Seit den frühen Tagen in Pisa waren die beiden ein bemerkenswertes Paar, Fermi der Theoretiker und Rasetti der Experimentator. Nach einem Aufenthalt in Amerika, wo Rasetti bahnbrechende Grundlagenforschung zur Atomkernstruktur betrieb, ­trafen die Freunde als Professoren an der Universität Rom erneut ­aufeinander. Dort bildeten sie die Eckpfeiler der Arbeitsgruppe, die als «Die Jungs der Via Panisperna» bekannt wurde, benannt nach dem Standort des Physikalischen Instituts. Der Atomkern besteht aus Protonen und Neutronen und die «Jungs» schufen die Grund­lagen der Kernphysik im Spiel mit diesen Teilchen.

Unerwartete Entdeckung

Fermi und Rasetti zogen talentier-te Studenten an, darunter ­Emilio Segrè, einen zukünftigen Nobelpreisträger, Edoardo Amaldi, einen der Gründer des CERN in Genf, und Bruno Pontecorvo, ­einen Vater der modernen Teilchenphysik. Die Kernphysik boomte, und die Gruppe aus Rom nahm weltweit eine führende Rolle ein.

Im Oktober 1934 beschossen die Panisperna-Jungs verschiedene Materialien mit Neutronen, um die bis dahin unbekannten ­Eigenschaften von künstlichen radioaktiven Atomkernen zu erforschen. Zufällig und entgegen aller Erwartung entdeckten sie, dass die Fähigkeit von Neutronen, Kernreaktionen auszulösen, enorm ansteigt, wenn sie durch leichte Stoffe wie Wasser oder ­Paraffin verlangsamt werden.

Wie vieles in der Naturwissenschaft basierte dieses Experiment auf reiner Neugier, und die jungen ­Wissenschaftler erkannten das bahnbrechende Potenzial ihres Fundes nicht. Nur der Direktor des Physikalischen Instituts, Orso ­Mario Corbino, erahnte das Potenzial ihrer Entdeckung und drängte seine Schützlinge dazu, ein Patent anzumelden. 1938 wurde schliesslich in Deutschland bewiesen, dass langsame Neutronen die Spaltung des Urankerns ermöglichen und so ungeahnte Energiemassen freisetzen. Auf diesem Prinzip basieren Atomkraftwerke und die Atombombe.

«Meine Antwort ist NEIN, und sie ist endgültig!»

Franco Rasetti

Von Rom nach Amerika

Die politische Situation im Europa von 1938 war für einen Freigeist wie Rasetti nicht mehr tragbar. Die italienischen Rassengesetze und der bevorstehende Krieg führten zum Auseinanderbrechen der Gruppe. Fermi emigrierte in die USA, nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte, und Rasetti wechselte an die Laval-Universität in Quebec.

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«Erschütterungen»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Erschütterungen»

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«Es ist sinnlos, darauf zu beharren. Meine Antwort ist NEIN, und sie ist endgültig!» Mit diesen Worten beendete Franco Rasetti in einem Büro an der Universität Montreal eine Diskussion, die schon viel zu lange angedauert hatte. Ein paar Tage zuvor, im September 1942, hatte er eine ungewöhnliche Einladung erhalten, die ihn allerdings gar nicht überraschte.

Nein zur Bombe

Ihm wurde angeboten, unter idealen Bedingungen, mit einem sehr ­attraktiven Lohn und in einer prominenten Position an einem hoch strategischen, aber geheimen Projekt mitzuarbeiten. Rasetti zögerte nicht, Nein zu sagen, trotz seiner heiklen Position als Italiener und somit als «Enemy Alien». Er war sich vollkommen bewusst, dass er damit auf Macht und Ruhm verzichtete und sich selbst an den Rand der Kernphysikgemeinschaft stellte. «Es war eine Entscheidung», sagte er später, «die ich nie bereut habe.»

Rasetti stellte umgehend alle Forschung zu Neutronen ein und wandte sein wissenschaftliches Interesse der Naturforschung zu, seiner wahren Leidenschaft seit der Jugend. Insbesondere begann er mit bahnbrechender Forschung über Trilobiten, ausgestorbene Meeresbewohner aus dem Kambrium vor rund 500 Millionen ­Jahren, und führte in der Paläontologie viele für die Physik typische Vorgehen ein. Als er von ­Hiroshima und Nagasaki erfuhr, war er schockiert und entsetzt. Er konnte es sich nicht vergeben, dass seine eigene Forschung nicht zu Fortschritt, sondern zu Tod und Zerstörung beigetragen hatte. Er hatte das Gefühl, die Natur, die er so liebte, zutiefst beleidigt zu haben.

Zur Person

Bild: Dres Hubacher

Saverio Braccini

ist assoziierter Professor für experimentelle Physik am Physikalischen Institut der Universität Bern. Er leitet die Forschungsgruppe zur Anwendung von Kern- und Teilchenphysik in der Medizin, die sich mit dem Zyklotron am Inselspital Bern befasst. Er interessiert sich leidenschaftlich für die Geschichte der Physik.

Gleich nach dem Krieg schrieb er: «Die jüngste Anwendung der Physik – mit der ich, gottlob, nichts zu tun hatte – hat mich so angewidert, dass ich ernsthaft erwäge, mich nur noch mit Geologie und Biologie zu beschäftigen.» Gesagt, getan. Er wechselte an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (USA), wo er die Physik als Teil ­seiner Lehre vollständig aufgab. Sein Ruf in der Paläontologie wuchs stetig, bis er zu einem der weltweit führenden Experten für Trilobiten aus dem Kambrium wurde. 1952 erhielt er die Charles Doolittle Walcott Medal, die höchste Auszeichnung auf diesem Gebiet. In seinem letzten Lebensabschnitt fokussierte er sich auf Alpenblumen und wurde auch hier ein weltweit anerkannter Experte. Er starb im Alter von 100 Jahren, aber die moralische Verletzung, die die Atombombe in ihm verursacht hatte, heilte nie.

Geschichte bleibt aktuell

Wir leben in einer Zeit grosser ­Veränderung und Unsicherheit. Leider ist Krieg wieder ein Thema, und wir sind Zeugen, wie sich ­rasant neue Technologien wie die künstliche Intelligenz entwickeln, deren Folgen wir nicht abschätzen können. Die Frage, welche Rolle die Wissenschaft in der Gesellschaft spielen soll, ist aktueller denn je.

Auch ich frage mich, ob meine Erkenntnisse über die Anwendung von Kern- und Teilchenphysik in der Medizin – womit ich mich in den letzten 20 Jahren mit Begeisterung auseinandergesetzt habe – eines Tages gegen meinen Willen zu einem Mittel werden könnten, das der Menschheit nicht hilft, sondern sie zerstört. Zu diesem Thema sagte Rasetti: «Es wäre besser gewesen, diese Experimente nie begonnen zu haben. Aber es ist unmöglich, die Forschung zu stoppen.»

Das Buch

No alla bomba

Der Berner Physikprofessor Saverio Braccini ist Mitautor eines Buchs über Franco Rasetti:

Franco Rasetti: Lo scienziato che disse no alla bomba, Saverio Braccini, Olga Bobrowska-Braccini, Danielle Ouellet, Sapienza Università Editrice, Maestri della Sapienza, 2023.

Als PDF kostenlos: www.editricesapienza.it/book/8442

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