Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt

Die einen verfolgen beharrlich ein Ziel, andere lassen sich bewusst treiben und halten die Augen offen für Möglichkeiten. Alumni der Universität Bern erzählen von Wendepunkten und Überraschungen in ihrem beruflichen Werdegang – und wie sie damit umgegangen sind.

05. März 2024

 

Leben mit «Gwunder»

Milena Hebeisen. Bild: zvg

«Meinen Master in Psychologie an der Universität Bern mit summa cum laude feierte ich im Februar 2020 in Lima bei einem leckeren Fischgericht mit Blick auf den Pazifik. Eigentlich dachte ich ja, dass ich nach dem Studium und einer halbjährigen Reisepause mit der Psychotherapieausbildung beginnen und Psychotherapeutin werden würde. Es kam alles anders. Von den peruanischen Kleinbauern zog es mich, zurück in der Schweiz, «z’Alp».
Eine schwere Krebserkrankung von meinem Vater bekräftigte mich, mir treu zu bleiben und meinem Herzen zu folgen und mich nicht von Kopfentscheidungen und Zukunftsängsten leiten zu lassen. Das Leben ist zu kostbar, um es zu verschwenden. Inzwischen begleite ich Menschen in Workshops und Meditationen dabei, sich selbst, spezifische Themen und das Leben mit ‹Gwunder› zu entdecken und anzugehen. Ich schreibe Lieder und Texte und teile sie an Konzerten. Ich arbeite auf einem Bauernhof und bilde mich auch im landwirtschaftlichen Bereich weiter, damit ich die Tätigkeiten der psychischen Gesundheit und der Landwirtschaft eines Tages verbinden kann. So bin ich ‹gwundrig›, was das Leben mit mir vorhat. Ich habe jedenfalls einiges mit ihm vor.»

 

Brombeeren und Herodot

Irene Maeder früher. Bild: zvg
Irene Maeder heute. Bild: zvg

«Ich war 13 Jahre alt und pflückte im Garten meiner Grosseltern Brombeeren. Auf der anderen Seite des Zauns las ein junger Mann in einem Buch. Ich überwand meine Schüchternheit und fragte, was er denn lese. ‹Herodot›, war die Antwort. Nie gehört! Ich las damals Karl May und schämte mich für meine Ignoranz. Zurück aus den Ferien, wagte ich mich zum ersten Mal in eine Buchhandlung und erstand ein Reclam-Bändchen mit Texten von Herodot, die ich kaum verstand. Mir wurde klar, dass ich nichts wusste, und ich fasste den Entschluss, so viel zu lernen im Leben, wie es nur möglich war. Meine Eltern hatten andere Vorstellungen. Ich musste kämpfen, um ins Gymnasium gehen zu dürfen, und ein Studium war ausgeschlossen.

Nach der Matura habe ich fünf Jahre als Sekretärin gearbeitet und gespart, um mir ein Studium leisten zu können. Ein Stipendium wurde mir verweigert. Ich immatrikulierte mich trotzdem in Jurisprudenz und schrieb meinen ersten Rekurs – er wurde gutgeheissen. Ich habe mich danach nie mehr so frei gefühlt wie in den Jahren an der Universität Bern, wo ich nur lernen musste, lernen durfte.

Mit 32 schloss ich mein Studium ab, wurde Anwältin und später Stadtschreiberin von Bern, ging mit 60 in Pension und wanderte nach Italien aus. Heute schäme ich mich nicht mehr, wenn ich etwas nicht weiss, ich lerne einfach weiter. Das Reclam-Bändchen mit Texten von Herodot habe ich immer noch. Es war billig und klein, aber für mich war es das Tor zum Leben, von dem ich geträumt hatte.»

 

Von Jus zur Fotografie

Karine Grace. Bild: zvg

«Kurz nach Studienabschluss – Rechtswissenschaften in Bern und Paris – habe ich per Zufall und mit grossem Glück in Zürich bei einem Fotoshooting die weltbekannte Fotografin Annie Leibovitz kennengelernt. Daraufhin hatte ich die Möglichkeit, bei ihr im Studio in New York ein Praktikum zu absolvieren.

Dies war eine wunderbare Erfahrung, und das Arbeiten mit ihr hat mir quasi alle Türen in New York geöffnet. Es folgte ein Praktikum bei Steven Klein und ein Trainee-Programm bei Mario Sorrenti, und auf New York folgten Erfahrungen in der Fotografie in Japan, die aber durch die Pandemie abrupt beendet wurden.

In den letzten Jahren gab es viele Herausforderungen zu meistern. Ich habe aber mittlerweile 20 Jahre Arbeitserfahrung und einen Weg gefunden, laufend Kunden zu akquirieren. Für die Zukunft wünsche ich mir, den internationalen Durchbruch zu schaffen. Mein Ratschlag: sich viel bewegen, reisen, das machen, was für einen persönlich stimmt, und nicht, was von den Mitmenschen erwartet wird.»

 

Unverschämt unverplant

Mathias Morgenthaler früher. Bild: zvg
Mathias Morgenthaler heute. © Adrian Moser

«‹Soso, ein Zwischenjahr willst du also machen nach der Matura?› Meine Eltern hätten mir nie etwas vorgeschrieben oder verboten, aber gewundert haben sie sich schon, dass ich kurz vor Abschluss des Gymnasiums so überhaupt keine Pläne für ein Studium hatte. Noch schlimmer: Ich hatte auch sonst keinen Plan. Die Rekrutenschule würde ich absolvieren mit dem Waldhorn als einziger Waffe, so viel war klar; für die Zeit danach wusste ich nur, dass ich sicher nicht gleich wieder die Schulbank drücken wollte. Einmal im Leben kein Ziel zu haben und offen zu sein für alle möglichen Zufälle – was gibt es Schöneres?

Als ich nach Abschluss der RS in der Zeitung blätterte, fiel mein Blick auf eine Stellenanzeige. Ein mir unbekanntes Unternehmen suchte eine erfahrene Führungskraft – ausser guten Deutschkenntnissen erfüllte ich keine der genannten Anforderungen. Aus Übermut schrieb ich trotzdem eine Bewerbung, die im Wesentlichen darin bestand, dass ich diverse sprachliche Fehler im Inserat kommentierte. Drei weitere Tage später absolvierte ich einen Schnuppertag im Unternehmen, kurz darauf trat ich meine neue Stelle als Inserateverkäufer an. 

Wenn ich heute zurückblicke, wird mir klar, dass in diesem Zwischenjahr fast alle wichtigen Weichen für meinen späteren Berufsweg gestellt worden sind. Was als Auszeit gedacht war, entpuppte sich als Sprungbrett. Diese Erfahrung hat mich gelehrt: Manchmal sind es weder Anstrengungen noch Pläne, die uns weiterbringen, sondern maximale Offenheit und der Mut, sich den Erwartungen der eigenen Eltern zu widersetzen.»

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