Klimaschutz im Graubereich

Netflix schauen, Tropenfrüchte essen, Billigmode tragen – die meisten Treibhausgas-Emissionen der Schweiz entstehen durch importierte Güter und Dienstleistungen. In der Klimapolitik spielen diese «grauen Emissionen» bislang kaum eine Rolle. Eine Tagung an der Universität Bern rückt sie nun ins Zentrum – und fragt, wie Politik und Recht damit umgehen sollen.

Die Schweiz ist besonders stark von Importen abhängig: Blick auf den Containerhafen Kleinhüningen bei Basel. © Wikimedia, David Joller

Auf den ersten Blick wirkt die Schweiz wie eine Klima-Musterschülerin: Seit 1990 sind ihre Treibhausgas-Emissionen um rund einen Viertel gesunken, dies entgegen dem weltweiten Trend. Bis 2030 soll der Ausstoss gegenüber 1990 um insgesamt 50 Prozent zurückgehen. Angesichts der bisherigen Massnahmen sei das leider ein zu ambitioniertes Ziel, findet Thomas Frölicher, Klimaforscher am Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR) der Universität Bern: «Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Schweiz ihre Klimaziele erreicht und die Emissionen in den kommenden fünf Jahren nochmals um die Hälfte drosseln wird. Aber immerhin bewegen wir uns in die richtige Richtung.»

Mehr Sorgen bereiten Frölicher die sogenannten grauen Emissionen. Lässt man diese in die Treibhausgas-Inventare miteinfliessen, verdüstert sich das Bild der Schweiz als Klima-Musterschülerin auf den zweiten Blick erheblich. Hinter dem Begriff  «graue Emissionen» steckt jener Anteil des Treibhausgasausstosses, der bei der Produktion und der Nutzung importierter Dienstleistungen und Produkte anfällt, sowie bei der Ver- und Entwertung letzterer.

Weltmeisterin der grauen Emissionen

Wer bei grauen Emissionen an Avocados aus Peru oder Billig-T-Shirts aus Bangladesch denkt, liegt im Grundsatz nicht falsch. Ins Gewicht fallen zudem die Emissionen, die durch digitale Medien und Streaming anfallen – die Server von Netflix und Co. befinden sich schliesslich in den USA. An der Spitze stehen jedoch Mobilität und Infrastruktur: Mit Holcim etwa stellt die Schweiz zwar einen der grössten Zementhersteller der Welt. Produziert wird trotzdem fast nur im Ausland.

Als finanzstarkes, aber rohstoffarmes Land importiert die Schweiz vergleichsweise besonders viele Güter. Mit rund 75 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten pro Jahr fallen die grauen Emissionen gut doppelt so hoch aus wie die inländischen Emissionen (derzeit rund 41 Millionen Tonnen). Seit 2000 ist der Anteil der grauen Emissionen laut Thomas Frölicher leicht gestiegen. Bei fast keinem anderen Land der Welt machen die grauen Emissionen einen derart hohen proportionalen Anteil des gesamten CO₂-Fussabdrucks aus. «So gesehen ist die Schweiz Weltmeisterin», so Frölicher, «nur leider nicht im Fussball.»

Zur Person

Porträt Thomas Frölicher

Thomas Frölicher

ist ordentlicher Professor für Klima und Umweltphysik (KUP) und war Teil der Schweizer Delegation an der UNO-Ozeankonferenz. Er hat an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften studiert und an der Universität Bern in Physik doktoriert. Danach hat er mehrere Jahre als Postdoc an der Princeton University in den USA gearbeitet. 2019 wurde Frölicher mit dem Theodor-Kocher-Preis der Universität Bern ausgezeichnet. Er leitet die Forschungsgruppe Ozeanmodellierung des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung (OCCR) und der Abteilung Klima und Umweltphysik und wird als Coordinating Lead Author massgeblich am nächsten Bericht des Weltklimarats IPCC mitwirken.

Juristischer Graubereich

Trotz ihres Umfangs spielen graue Emissionen in der öffentlichen Diskussion um den Klimaschutz eine untergeordnete Rolle. Für Klimarechtsexpertin Charlotte Blattner ist der Grund dafür auch im Recht zu verorten: «Das Klimaschutzrecht adressiert primär inländische Emissionen. Graue Emissionen bewegen sich hingegen in einen juristischen Graubereich, in dem Verantwortung und Zuständigkeit unzureichend geregelt sind.»

Blattner, seit kurzem Professorin am Centre de droit public der Universität Lausanne und assoziierte Forscherin am OCCR, forscht zum internationalen und nationalen Klimaschutzrecht. Der rechtliche Aspekt gewinne in der Klimadebatte zunehmend an Bedeutung, sagt sie – nicht zuletzt wegen der wachsenden Zahl Klimaklagen. Schlagzeilen machte etwa die erfolgreiche Klage der KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser erkannte erstmals den Schutz vor den Folgen der Erderwärmung als Menschenrechtsfrage an.

Mit seinem im Juli 2025 veröffentlichten Gutachten hat nun auch der Internationale Gerichtshof (IGH) klargestellt, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, die grenzüberschreitenden Auswirkungen ihrer Klimapolitik zu berücksichtigen – laut Blattner ein Punkt, der im Umgang mit grauen Emissionen von besonderer Relevanz ist.

«Wir lagern die Verantwortung ins Ausland aus»

In Sachen Klimarecht hinke die Schweiz zahlreichen Ländern hinterher, so Blattner. Besonders heikel ist die Situation um die grauen Emissionen, weil die Schweiz ihre Klimaziele zu einem grossen Teil mit Ausgleichsprojekten im Ausland erreichen will. Der Bund finanziert etwa in Peru den Bau von 60'000 emissionsarmen Öfen für Privathaushalte und lässt sich dafür Klimazertifikate anrechnen. Doch ob solche Projekte tatsächlich zusätzliche Emissionseinsparungen bringen, lässt sich kaum verlässlich nachweisen.

Auf diese Weise entstehen zwei Formen der Verlagerung: Zum einen verursacht der hiesige Konsum überproportional viele Emissionen im Ausland, zum anderen sollen dort auch die Einsparungen erzielt werden. «Damit lagern wir nicht nur unseren CO₂-Ausstoss, sondern auch einen grossen Teil unserer rechtlichen Verantwortung ins Ausland aus», sagt Blattner.

Zur Person

Porträt Charlotte Blattner

Charlotte Blattner

ist Professorin für Verwaltungs- und Umweltrecht am Centre de droit public der Universität Lausanne und leitet als assoziierte Forscherin die Forschungsgruppe «Klimawandel und Recht» am Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR). Bis 2024 arbeitete sie als Oberassistentin am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern. Zuvor forschte sie als Postdoc an der Harvard Law School in Boston (USA) sowie an der Queen’s University in Kingston (Kanada). Zusammen mit anderen Berner Forschenden reichte sie 2022 eine Drittparteiintervention im Fall der KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg ein.

Klimarechtstagung bündelt erstmals Fachwissen

Die grauen Emissionen bilden nun erstmals Thema einer ihnen eigens gewidmeten Tagung, der «2. Berner Klimarechtstagung», die Ende Oktober an der Universität Bern stattfinden wird (siehe Kasten). Die von Charlotte Blattner mitorganisierte Tagung beleuchtet die grauen Emissionen aus klimawissenschaftlicher, völkerrechtlicher, handelsrechtlicher und nationalrechtlicher Perspektive. Neben führenden Forschenden nehmen auch Vertreterinnen und Vertreter aus Verwaltung, Wirtschaft und NGOs teil. Ziel ist es, das Phänomen der grauen Emissionen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten und die rechtlichen wie politischen Handlungsspielräume auszuloten.

Im Laufe des Tages werden folgende Fragen diskutiert: Wo und bei welchen wirtschaftlichen Prozessen entstehen graue Emissionen – und wie werden sie überhaupt erfasst? Wer trägt rechtlich Verantwortung: Konsumentinnen und Konsumenten, Importstaaten wie die Schweiz oder international tätige Unternehmen? Und schliesslich: Welche politischen oder marktbasierten Instrumente können helfen, graue Emissionen tatsächlich zu reduzieren?

«Die öffentliche Debatte braucht Schwung»

Neben Forschenden aus Bern, Lausanne, Zürich und dem Ausland kommen auch Praxisvertreterinnen zu Wort. So berichtet etwa Christina Meier, Leiterin Nachhaltigkeit bei den SBB, wie ein grosses Transportunternehmen seine grauen Emissionen misst und mindert.

«Graue Emissionen sind ein derart umfassendes Problem, dass wir sie nur angehen können, wenn wir eine möglichst breite, interdisziplinäre Herangehensweise finden», sagt Charlotte Blattner. Klimaforscher und Keynote-Speaker Thomas Frölicher ergänzt: «Die öffentliche Debatte über graue Emissionen braucht dringend Schwung. Die Schweiz könnte nicht nur ihre inländischen Klimaziele verfehlen; sie trägt über Importe auch weiterhin zu hohen Emissionen im Ausland bei.»

Klimaforscher Thomas Frölicher und Rechtswissenschaftlerin Charlotte Blattner im Gespräch.
Beton ist nicht nur optisch grau; seine Produktion verursacht auch besonders viele graue Emissionen: Klimaforscher Thomas Frölicher und Rechtswissenschaftlerin Charlotte Blattner im Gespräch.

Klimarecht an der Universität Bern

Rechtliche Aspekte des Klimaschutzes rücken an der Universität Bern immer mehr in den Fokus:

  • Berner Klimarechtstagung 2025: Die im Zweijahresrhythmus stattfindende Reihe schlägt eine Brücke zwischen den Rechtswissenschaften und weiteren wissenschaftlichen Disziplinen sowie Klimawissenschaften, Politik, Wirtschaft und Sozialforschung. Die erste Ausgabe 2023 drehte sich ums Thema klimaschädliche Subventionen. Die 2. Berner Klimarechtstagung ist den grauen Emissionen gewidmet. Sie findet am 30. Oktober von 9:15 Uhr bis 16:45 Uhr 2025 an der UniS statt. Der kostenpflichtige Anlass richtet sich an ein interessiertes Publikum aus Wissenschaft, Praxis und Politik.
  • Hans-Sigrist-Symposium 2025: Das diesjährige Hans-Sigrist-Symposium thematisiert, wie die vielfältigen Forderungen nach Klimagerechtigkeit sinnvoll ins Recht integriert werden können. Im Rahmen des Symposiums wird zudem der mit 100'000 Franken dotierte Hans-Sigrist-Preis verliehen.
  • Lehrstuhl für Klimarecht: Die Universität Bern baut zurzeit die Stiftungsprofessur «Klima und Recht» auf. Die Professur wird am Institut für öffentliches Recht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät beheimatet und an das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR) angegliedert. Zweck der Professur ist, Kompetenz im Klimaschutzrecht aufzubauen – in der Schweiz sowie mit internationalen und interdisziplinären Bezügen.

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