Holocaust-Erinnerung und antimuslimischer Rassismus

Das Werk «Stellvertreter der Schuld» von Esra Özyürek untersucht, wie die Holocaust-Erinnerungskultur in Deutschland mit der Marginalisierung muslimischer Bürgerinnen und Bürger zusammenhängt. Eine öffentliche Diskussion mit der Autorin und weiteren Fachleuten in Bern übertrug das Thema auf die Schweiz.

Text: Rohit Jain 13. Mai 2025

Die deutsche Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit hatte in der britisch-türkischen Anthropologin Esra Özyürek in den 1990er Jahren eine aufmerksame Beobachterin. Die Cambridge-Professorin schreibt in ihrem viel beachteten Buch «Subcontractors of Guilt» (2023) – im März 2025 unter dem Titel «Stellvertreter der Schuld» auf Deutsch erschienen – im Vorwort: «Mein intellektuelles Coming of Age in den 1990er-Jahren fiel in die Zeit, in der in der Türkei eine kritische Masse von Intellektuellen aufkam, die es für wichtig befanden, [die] frühen Verbrechen [gegen die armenischen, alevitischen und kurdischen Minderheiten] einzugestehen [...] Damals und bis heute staune ich, wie viel Zeit, Energie und persönliches Engagement private Bürger:innen und öffentliche Einrichtungen in Deutschland dafür aufbringen, sich mit den ungeheuerlichen Verbrechen auseinanderzusetzen, die die Nationalsozialisten und ihre Anhänger im Namen des deutschen Volkes begangen haben.»  

Buchcover
© Klett-Cotta

Der unerfüllte Wunsch dazuzugehören 

Die Faszination für eine kritische Erinnerungspolitik wird in Özyüreks Buch, das aus einer knapp zehnjährigen Feldforschung schöpft, deutlich spürbar. Sie nimmt jedoch einen bemerkenswerten Perspektivenwechsel vor: Sie fokussiert auf die Erfahrung junger muslimischer Deutscher, die Holocaust-Bildungsangebote absolvieren. Nach 9/11 in den frühen 2000er Jahren entstanden, lieferte die politische Sorge vor einer Radikalisierung muslimischer Männer einen neuen Rahmen, um Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit im postmigrantischen Deutschland zu regulieren.  

In der stereotypen Wahrnehmung einer homogenen «muslimischen» oder «arabischen Kultur» wurde der Antisemitismus als potenzielle gesellschaftliche Gefahr und als neues Thema der Integration identifiziert. Durch Workshops, Rollenspiele und Exkursionen zu Holocaust-Erinnerungsstätten werden seither muslimische Jugendliche darin geschult, einen potenziellen Antisemitismus bei sich zu erkennen und zu bekämpfen.  

In ihren minutiösen ethnographischen Schilderungen macht Özyürek die Dilemmata spürbar, mit denen sich die Jugendlichen konfrontiert sehen; besonders eindrücklich bei der Analyse eines Auschwitz-Besuchs: Während sich die Jugendlichen am Vorabend geradezu verzweifelt darum sorgten, ob sie genug Empathie für die Opfer empfinden und zeigen würden, erzählen sie am Tag danach erleichtert von ihren «Erfolgen»: Nicht nur fühlten sie sich in die Welt von Jüdinnen und Juden, Sinti, Roma, Schwarzen Menschen und anderen Minderheiten ein. Sie konnten zudem Parallelen zu eigenen Erfahrungen von Ausschluss und Rassismus in Deutschland ziehen. Mit der Empathie als Opfer von Diskriminierung verstiessen sie jedoch gegen das Skript des Programms, gemäss dem sie sich nur als Täterinnen und Täter identifizieren und sich ihres eigenen Antisemitismus bewusst werden sollten.  

«Stellvertreter der Schuld» dokumentiert den tiefliegenden Wunsch von marginalisierten und rassifizierten muslimischen Jugendlichen, zur deutschen Gesellschaft dazuzugehören – wobei sie trotz ihrer Bemühungen Gefahr laufen, dies nie zu erreichen. Özyürek sagte jüngst in einem Zeitungsinterview (in der taz): «Jedes Jahr bekommen Muslim:innen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, das Bundesverdienstkreuz. Sie kommen in die Zeitung, bekommen Geld, um nach Israel zu reisen, solche Dinge. Aber gleichzeitig sagten mir viele: ‚Anschließend, wenn ich etwa mit dem Auto unterwegs bin, durch die Straßen laufe oder versuche, einen Club zu betreten, dann verschwindet all die Anerkennung wieder.’“ 

Wessen Erinnerung zählt? 

Özyüreks Ethnografie muslimischer Menschen in Deutschland leitet diese Dilemmata aus aktuellen Widersprüchen der Holocaust-Erinnerungskultur und Integrationspolitik in Deutschland her. Mit ihren Analysen der politischen Diskurse seit dem Zweiten Weltkrieg mit ethnografischem Fokus entsteht gewissermassen eine Psychoanalyse der Holocaust-Erinnerung in der postmigrantischen Gesellschaft. Wie verhandelt sie Schuld, Verantwortung oder Solidarität? Welche Ein- und Ausgrenzungen resultieren daraus?  

«Stellvertreter der Schuld» trägt mit seinem Aussenblick zu den aktuellen Debatten über eine sich wandelnde deutsche Erinnerungskultur bei, die der Autor Max Czollek in Anlehnung an Michael Bodemann jüngst als «Versöhnungstheater» bezeichnet hat. Demnach ginge es der deutschen Mehrheitgesellschaft darum, sich durch symbolische Massnahmen ihrer «Wiedergutwerdung» zu versichern. Dabei käme jüdischen Akteuren die Rolle der Opfer zu, mit denen man sich als Angehörige der Mehrheitgesellschaft versöhnt habe. Muslimische Jugendliche dagegen nähmen in dieser Dramaturgie die Rolle der ungesühnten Täterinnen und Täter ein, die sich bewähren müssen. Sowohl Özyürek und Czollek weisen jedoch darauf hin, dass in Deutschland antisemitistische Straftaten vornehmlich von weissen, nicht-muslimischen Rechten begangen werden und bei der Bundestagswahl 2025 eine rechtsextreme Partei über 20 Prozent der Stimmen gewonnen habe, deren Protagonistinnen und Protagonisten den Holocaust einen «historischen Vogelschiss» nennen und eine «180 Grad-Wende in der Erinnerungspolitik» fordern.  

Özyüreks wissenschaftlich fundierte Ethnografie «Stellvertreter der Schuld» ergänzt die Debatte um die Perspektive, wie die Integrationspolitik und das Regime der Staatsbürgerschaft genutzt werden, um Antisemitismus und die Bürde der Holocaust-Erinnerung auf die muslimische Minderheit zu projizieren. Dabei leugnet sie nicht etwa patriarchale oder antisemitische beziehungsweise antiisraelische Diskurse und Werte in muslimischen Minderheiten, sondern macht auf die gleichzeitig wirksamen rassistischen Ausgrenzungsprozesse aufmerksam.

Esra Özyürek
Die Anthropologin Esra Özyürek, Professorin an der University of Cambridge, ist Autorin des Buchs «Subcontractors of Guilt: Holocaust Memory and Muslim Belonging in Postwar Germany» (2023), das im März 2025 auf Deutsch erschienen ist. © Susie Triffitt

Dies eröffnet einen Blick darauf, wie Erinnerungspolitik in postmigrantischen Gesellschaften aussehen könnte. In Anlehnung an die Arbeiten von Michael Rothberg, Professor für Holocaust-Studien an der University of California, USA, würde dies eine «multidirektionale Erinnerung» erfordern, die die verschiedenen Perspektiven von jüdischen, muslimischen und weiteren Minderheiten in die nationale Geschichtspolitik einbezieht, statt sie gegeneinander auszuspielen.

Und wie sieht es in der Schweiz aus?

Hierzulande hat sich im Gegensatz zu Deutschland kaum eine offizielle Holocaust-Erinnerungspolitik durchgesetzt. Die offizielle Schweiz begann ihre Verstrickungen mit dem NS-Regime erst aufzuarbeiten, nachdem 1996 eine Sammelklage jüdischer Opfer des Holocaust gegen die Schweizer Grossbanken lanciert wurde. 2002 erschien der Schlussbericht der 1996 vom Bundesrat ernannten Bergier-Kommission, mit dem die Schweiz ihre historischen Verstrickungen mit Nazideutschland offiziell anerkannte. Doch hatte diese Bewusstwerdung nachhaltige Konsequenzen? Weder in der Bildung noch in der Erinnerungspolitik oder der Antidiskriminierungsarbeit wurden konsequente nächste Schritte unternommen.

Mit der Messerattacke gegen einen orthodoxen jüdischen Mann im März 2024 in Zürich durch einen radikalisierten Schweizer Muslim wurde die Debatte um einen «muslimischen Antisemitismus» auch in der Schweiz entfacht. Der Angriff wurde zum Anlass genommen, verschiedene Vorstösse gegen Antisemitismus auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene zu lancieren. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und einer legitimen Kritik israelischer Politik vor dem Hintergrund von Völkerrecht und Menschenrechten seit dem 7. Oktober 2023 stark politisch aufgeladen, was undifferenzierten Narrativen eines muslimischen Antisemitismus Vorschub leistet. Zugleich wird kaum öffentlich berichtet, dass seither auch in der Schweiz antimuslimischer Rassismus zugenommen hat und beispielsweise einige Wochen nach der Attacke in Zürich ein muslimischer Vater und sein Sohn in Bad Ragaz angegriffen worden sind.

Blinde Flecken in der Schweizer Mehrheitsgesellschaft sichtbar machen

Vor diesem Hintergrund hat der Fachbereich Sozialanthropologie der Universität Bern in einer öffentlichen Diskussion mit Esra Özyürek und weiteren Fachleuten thematisiert, wie Holocaust-Erinnerung, Antisemitismus und anti-muslimischer Rassismus in der Schweiz zusammenhängen. Ausgehend vom Buch «Stellvertreter der Schuld» wurden dabei Minderheitenperspektiven auf das Zusammenspiel von Antisemitismus und anti-muslimischem Rassismus eingenommen sowie Ansätze einer solidarischen und multidirektionalen Erinnerung ausgelotet.

Damit wurde ein Beitrag zu einer kritischen und differenzierten öffentlichen Debatte geleistet werden, die erlauben soll, die blinden Flecken der Schweizer Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus sichtbar zu machen und Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen.

Zum Autor

© Nicolle Bussien

Rohit Jain

ist promovierter Sozialanthropologe und Lehrbeauftragter am Fachbereich Sozialanthropologie sowie Co-Leiter des Public Anthropology Lab der Universität Bern. In seiner Forschung liegt der Fokus auf Migration, Postkolonialismus, Erinnerungspolitik und öffentlicher Kultur. 

Kontakt

Public talk & conversation

Subcontractors of Guilt? Holocaust remembrance and beyond in postmigrant Germany and Switzerland.

Mit Prof. Esra Özyürek (University of Cambridge), Asmaa Dehbi (Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft SZIG, Universität Fribourg), Yves Kugelmann (Chefredaktor Tachles), Prof. Christina Späti (Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg).

Gastgebende: Prof. Sabine Strasser und Dr. Rohit Jain, Public Anthropology Lab, Fachbereich Sozialanthropologie, Universität Bern

Fand statt am 13. Mai 2025 im Hauptgebäude der Universität Bern

Die Veranstaltung war öffentlich und kostenlos

Veranstaltungsflyer

Zum Public Anthro Lab

Das Public Anthro Lab am Fachbereich Sozialanthropologie versucht, kritische Öffentlichkeiten zu analysieren, zu reflektieren und mitzugestalten. Dazu werden Kollaboration und Formate an der Schnittstelle von Anthropologie/Forschung, Kultur, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft entwickelt und umgesetzt. Ein besonderer Schwerpunkt bildet eine kritische Erinnerungspolitik in der postmigrantischen und postkolonialen Schweiz.

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