Chancengleichheit
«Ein Paradigmenwechsel in der VWL drängt sich auf»
Die Studierendengruppe VWelles Rethinking Economics setzt sich dafür ein, unterschiedliche Denkschulen in der Berner Volkswirtschaftslehre (VWL) einzubeziehen und gleichwertig zu behandeln. Dafür erhält sie am 19. November den «Prix Lux» 2025, den Chancengleichheitspreis der Universität Bern.
Tristan Billaud, Karin Roth, was ist das Anliegen von VWelles?
Tristan Billaud: Uns stört, dass in der Volkswirtschaftslehre zu grossen Teilen nur eine einzige – nämlich die neoklassische – Sicht auf die Ökonomie gelehrt wird und andere Theorien und Methoden ignoriert oder sogar aktiv entwertet werden. VWelles setzt sich daher für eine plurale Herangehensweise innerhalb der VWL an der Universität Bern ein.
Karin Roth: Mir wurde dies im Bachelor-Studium klar. Deshalb habe ich mich mit weiteren Studierenden zusammengetan. Wir wollten die universitäre Bildung für uns und andere um plurale Perspektiven ergänzen.
Tristan Billaud: Wie einseitig die Volkswirtschaft beleuchtet wird, hat mich schon im Gymnasium gestört, wo Wirtschaft und Recht mein Schwerpunkt war. Deswegen habe ich VWL angefangen zu studieren. Nach dem Abschluss des Bachelor-Studiums wechselte ich zum Master-Studium der Soziologie.
Karin Roth: Der Name kommt von der Abkürzung VWL und vom französischen «elles». Damit möchten wir die Pluralität der wissenschaftlichen Ansätze betonen.
Karin Roth: Wir sind ein Kernteam von rund sechs Personen. Unsere Gruppe ist im Jahr 2019 aus dem Wunsch nach mehr Veranstaltungen ausserhalb des bestehenden Curriculums entstanden. Wenig später wurde VWelles Teil des internationalen Netzwerks «Rethinking Economics».
Prix Lux
Der Prix Lux der Universität Bern prämiert Engagement für die Chancengleichheit. Für den Preis nominiert werden können Gruppen sowie kleinere oder grössere Einheiten, die sich für die Gleichstellung im Bereich «Gender und Diversität» an der Universität Bern engagieren. Die dabei angewandten Massnahmen sollen eine Diskussion zu Gleichstellungs- und Chancengleichheitsthemen anregen, innovativ, originell und nachhaltig sein sowie Transferpotenzial aufweisen. Die nächste Ausschreibung für den Preis erfolgt im Frühjahrsemester 2026.
Karin Roth: Zu Beginn, während Corona, lancierten wir einen Podcast. Seit dem Frühjahr 2021 organisieren wir regelmässig Abendveranstaltungen mit Diskussionen, Referaten, Filmvorführungen im Kino in der Reitschule und Einführungsveranstaltungen zur Pluralen Ökonomik. Im Frühjahr 2024 konnten wir an der Uni die Vorlesungsreihe «Einführung in die plurale Ökonomik – Ansätze für zukunftsfähiges Wirtschaften» durchführen.
«Unsere erste Vorlesungsreihe war ausgebucht – obwohl die Vorlesung nicht an das Volkswirtschaftsstudium anrechenbar war.»
Karin Roth
Tristan Billaud: Wir sind immer entsprechend unseren persönlichen Ressourcen aktiv. Denn unser Engagement basiert meist auf ehrenamtlicher Tätigkeit.
Karin Roth: Ich verwende gerne eine Analogie: In der Mitte befindet sich die Weltkugel, um sie herum verschiedene Leuchten. Jede steht für eine eigene Denkschule. Befasst man sich nur mit einer Denkschule, bleibt einiges im Schatten. Um auf die Komplexität der Welt eingehen und sie verstehen zu können, werden also viele unterschiedliche Leuchten benötigt. Deshalb setzt sich VWelles für die Lehre von verschiedenen Denkschulen an der Universität Bern ein.
Tristan Billaud: Vieles. Beispielsweise beleuchtet die Neoklassik Machtstrukturen nur selten, denn sie bedient sich oftmals nur am methodologischen Individualismus, wodurch sie sozialwissenschaftliche Phänomene durch individuelles Verhalten erklärt. Diese Sichtweise verschleiert systematisch Ansätze, die grössere Ansammlungen von Macht in den Blick nehmen könnten.
«Die Neoklassik holt uns nicht aus den klimatischen und sozialen Miseren heraus.»
Tristan Billaud
Karin Roth: In der neoklassischen Theorie werden systemische Hürden unzureichend untersucht. Damit geht vergessen, dass unser derzeitiges Wirtschaftssystem von patriarchalen Strukturen durchdrungen ist. Innerhalb der Feministischen Ökonomik werden diese Strukturen reflektiert und soziale Komponenten und Ungleichheiten verdeutlicht. Hingegen basiert die Neoklassik stark auf mathematischen Modellen und vernachlässigt zum Beispiel unbezahlte Arbeit.
Karin Roth: Unsere erste Vorlesungsreihe «Einführung zur Pluralen Ökonomik» war ausgebucht – obwohl die Vorlesung nicht an das Volkswirtschaftsstudium anrechenbar war. Was wir aber auch feststellen, ist, dass es eine gewisse Vorselektion gibt. Studierende, die sich an der einseitigen VWL-Lehre stören, geben das Studium schon nach den ersten Wochen auf oder studieren von Anfang an etwas anderes.
Tristan Billaud: Andere Fakultäten sind trans- und interdisziplinär und dazu selbstreflexiv, was kritische Studierende bevorzugen. Dazu gehören etwa Genderstudies oder die Sozialanthropologie.
Karin Roth: Wir haben an den Universitäten im deutschsprachigen Raum nach geeigneten Dozierenden recherchiert, eine lange Liste zusammengestellt und eine Auswahl für unsere Anfragen getroffen. Wegen den vorgegebenen Daten erhielten wir einige Absagen. Dennoch konnten wir namhafte Referierende gewinnen und einen roten Faden durch die Vorlesungsreihe knüpfen. Sie bestand aus einer Einführung zur Pluralen Ökonomik und Vorlesungen zu verschiedenen Richtungen wie die Ökologische, Feministische, Politische/Marxistische und die Post-keynesianische Ökonomik. Dazwischen haben wir jeweils Tutorate angeboten.
Tristan Billaud: Oftmals fühlen wir uns in unserem Anliegen missverstanden, auch wenn wir teilweise ein grundsätzliches Interesse für unsere Position wahrnehmen können. Uns geht es darum, mit unserer Arbeit die impliziten, normativen Annahmen, was richtige und was falsche VWL ist, aufzuzeigen. Wir wollen erreichen, dass unterschiedliche Denkschulen als gleichwertig behandelt werden.
Tristan Billaud: Wir dürfen im Frühjahr 2026 wieder eine Vorlesungsreihe anbieten. Im Frühjahrssemester 2024 konnten die Studierenden noch keine ECTS-Punkte für den Studiengang VWL erwerben, sondern sich nur in einem Nebenfach wie der Nachhaltigen Entwicklung anrechnen lassen. Doch ab Frühjahr 2026 wird es auch für die VWL ECTS-Punkte geben. Das ist ein grosser Erfolg.
Karin Roth: Wir erhalten Zuspruch von Studierenden und verschiedenen Professorinnen und Professoren europaweit. 2024 erschienen im «Bund» und im «Journal B» Artikel über unsere Vorlesungsreihe.
Tristan Billaud: Für uns ist es wichtig, dass unsere Bemühungen um Pluralität nicht im Angebot einer einzigen Vorlesungsreihe gipfeln, die im schlimmsten Fall noch als Immunisierungsstrategie der Universität verwendet werden könnte, falls diese für ihre einseitige Studienrichtung kritisiert wird.
Tristan Billaud: Unser Ziel ist es, durch die Pluralität in der VWL neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wir verstricken uns weltweit in immer grössere Krisen. Für uns ist das ein Zeichen, dass man die Neoklassik infrage stellen muss. Ein Paradigmenwechsel drängt sich auf, denn die Anomalien werden stetig mehr; die Neoklassik holt uns nicht aus den klimatischen und sozialen Miseren heraus.
Karin Roth: Man muss unbedingt die Dinge kritisch hinterfragen können, an einer Uni sowieso. Diskurse sollen gefördert werden, beispielsweise zum Kapitalismus, und es braucht mehr Selbstreflexion in der universitären VWL als Ganzes.
Tristan Billaud: Das geltende Wirtschaftssystem wird nicht mal als kapitalistisch bezeichnet; der Begiff «Kapitalismus» wurde während unserer ganzen Studienzeit nicht einmal erwähnt. Somit wird eine mögliche Grundlage für Kritik bereits begrifflich erschwert. Die Neoklassik ist marktverherrlichend. Das wird am Institut nicht adäquat genug kritisch hinterfragt.
Über VWelles
Die Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern wird stark von einer einzigen Denkschule, nämlich der Neoklassik, dominiert. Dabei bleiben wichtige Perspektiven wie feministische Ökonomik oder Fragen zu Machthierarchien oder unbezahlter Arbeit ausgeblendet. Der Berner Studierendenverein VWelles – Teil der internationalen Organisation Rethinking Economics – setzt sich für eine pluralistische und somit auch feministische Volkswirtschaftslehre in Lehre und Forschung ein. Der Verein organisiert Vorlesungsreihen, Workshops, Filmabende und macht Lobbyarbeit am Institut.
Begründung der Jury
Die Jury würdigte folgende Punkte:
- Das ausserordentliche Engagement und der innovative Ansatz von VWelles.
- Mit der Vorlesungsreihe zur Pluralen Ökonomik ist es gelungen, wichtige Chancengleichheits- und Gleichstellungsaspekte in die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion an der Universität Bern einzubringen.
- Die Vorlesungsreihe wurde probeweise sogar ins offizielle Studienprogramm der VWL integriert und anrechenbar gemacht für den Bachelor-Studiengang Nachhaltige Entwicklung.
- Damit haben Sie eindrücklich gezeigt, dass Studierende nicht nur konsumieren, sondern das Studienprogramm aktiv und kreativ mitgestalten wollen.
- Vielfalt und Breite der angebotenen Formate sowie die grosse Resonanz bei den Studierenden. Dies verdeutlicht, dass die behandelten Themen eine Bereicherung darstellen.
- Transferpotenzial der Initiative: Eingebettet in das internationale Netzwerk Rethinking Economics und offen für eine Umsetzung in weiteren Fakultäten und Studiengängen, hat das Projekt Strahlkraft über die Universität Bern hinaus.
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