Welternährung: Ukraine-Krieg als Momentum für den Wandel?

Der Politologe Lukas Fesenfeld beschäftigt sich intensiv mit der politischen Machbarkeit einer transformativen Klima- und Ernährungspolitik. Weil der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine der Ernährungslage im globalen Süden drastisch schaden kann, hat Fesenfeld einen Appell an die Politik initiiert.

«Der Krieg in der Ukraine erhöht den politischen Handlungsdruck und eröffnet neue Handlungsoptionen für eine strategische Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik», sagt der Politologe Dr. Lukas Fesenfeld von der Universität Bern. © Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel
«Der Krieg in der Ukraine erhöht den politischen Handlungsdruck und eröffnet neue Handlungsoptionen für eine strategische Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik», sagt der Politologe Dr. Lukas Fesenfeld von der Universität Bern. © Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel

Sie haben mit 19 Kolleginnen und Kollegen vornehmlich deutscher Universitäten einen offenen Brief an die deutsche Bundesregierung geschrieben, unter dem Titel «Handlungsmöglichkeiten für die Transformation des Ernährungssystems angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine». Worum geht es?

Der Angriff Russlands auf die Ukraine erhöht nochmals deutlich den Handlungsdruck für eine rasche Transformation des globalen Ernährungssystems. Der Krieg verschlimmert die Ernährungslage im globalen Süden dramatisch. 50 Prozent des Getreides des Welternährungsprogramms kommen aus der Ukraine. Fällt dieses Getreide weg, sind Millionen Menschen von Unterernährung und Hunger bedroht.

Auf der anderen Seite werden weltweit Agrarflächen überwiegend für Futtermittel genutzt, in Deutschland mehr als 60 Prozent. Rund 10 Quadratmeter Ackerfläche bringen entweder Getreide für zirka 1 Kilogramm Schweinefleisch oder für mindestens 10 Kilogramm Brot. Die Rechnung, was wir jetzt tun müssen, ist also schnell gemacht: Weniger Anbau von Futtermitteln und Reduktion des Konsums tierischer Erzeugnisse, mehr Anbau von Getreide für den direkten Verzehr durch den Menschen.

Der Krieg in der Ukraine erhöht aber nicht nur den politischen Handlungsdruck, sondern eröffnet auch neue Handlungsoptionen für eine strategische Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik.

Warum?

Die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Sachzwänge wie Sanktionen, Versorgungssicherheit und steigende Preise scheinen die mittel- und langfristigen Ziele für den Klimaschutz und die Artenvielfalt an den Rand zu drängen. Die Transformation des Ernährungssystems ist aber ein entscheidender Schlüssel zur Bewältigung dieser multiplen existenziellen Krisen! Zum einen, um die globale Ernährungssicherheit zu gewährleisten und ganz konkret unabhängiger von Getreideimporten aus Russland zu werden. Zum anderen, um einen effektiven Beitrag zum Klimaschutz, zur Artenvielfalt und zur Prävention von Pandemien zu leisten.

In der Schweiz ist das Ernährungsverhalten noch vor Wohnen und Mobilität für die grösste Umweltbelastung verantwortlich: rund 30 Prozent der globalen Treibhausgase sind auf unser Ernährungssystem zurückzuführen. Wie der Weltklimarat IPCC in seinem neuen Bericht nochmals eindrücklich betont hat, befördert vor allem der Fleischkonsum die Klimakrise: Wiederkäuer stossen Methan aus – eines der gefährlichsten Klimagase. Und Monokulturen für Futtermittel zerstören den Regenwald und die immens wichtige Biodiversität. Dies wiederum erhöht auch Pandemierisiken.

Die Klimakrise erhöht das Risiko von Kriegen und Bürgerkriegen um Wasser und um Nahrung. Das wiederum erhöht Verteilungskämpfe, gefährdet die Stabilität von Staaten und stellt die internationale Staatengemeinschaft vor immense Herausforderungen.

Denkt man diese vielfältigen existenziellen Herausforderungen zusammen, dann kann man nur zum Schluss kommen, dass die Transformation des Ernährungssystems ein entscheidender Lösungsansatz ist.

Eine Transformation des Ernährungssystems kann einen effektiven Beitrag zum Klimaschutz, zur Artenvielfalt und zur Prävention von Pandemien leisten. © pixabay

Sie fordern auch ein Handeln auf der Nachfrageseite und nicht nur auf der Angebotsseite. Kann ich als einzelne Konsumentin denn überhaupt etwas bewirken und wenn ja, wie?

Ja, in der Tat. Reines produktionsseitiges Handeln kann nur bedingt einen Beitrag zur Lösung leisten, da sich der Markt meist am Konsum ausrichtet und Produktion und Konsum in einer ständigen Wechselwirkung zueinander stehen. Es besteht zudem die Gefahr, dass nicht nachhaltige Produktion einfach ins Ausland verlagert wird. Im Kern geht es deshalb darum, produktions- und konsumseitige Massnahmen strategisch miteinander zu verzahnen. Die staatlichen Einzelmassnahmen wirken so synergetisch und können sowohl die Wirkung als auch die politische Machbarkeit des gesamten Politikpaketes erhöhen.

Es geht darum, drei Ziele zu priorisieren: Reduktion des Fleischverzehrs, Reduktion der Lebensmittelabfälle und Nutzung von Biotreibstoff aus Energiepflanzen. Kurzfristig kann in Europa vor allem die Erhöhung der Biotreibstoff-Beimischquote grössere Flächen für Getreide für den menschlichen Konsum freimachen und so der Inflation auf den internationalen Lebensmittelmärkten entgegenwirken.

Leider müssen wir bereits heute über die Versorgungslage in 2023 und 2024 nachdenken. Hier kann die Reduktion des Fleischkonsums und der Lebensmittelabfälle einen entscheidenden Beitrag leisten. Unsere Studien zeigen, dass der Konsum tierischer Produkte schneller sinken kann als häufig angenommen. Es bedarf dafür der richtigen politischen Rahmenbedingungen sowie einer klaren, transparenten Kommunikation, warum dies so wichtig und wirkungsvoll ist.

Was müsste der Staat also nun konkret tun?

Neben der Anpassung der Beimischquote für Biotreibstoff sollte der Staat rasch ein konkretes Bündel Massnahmen auf Produktions- und Nachfrageseite lancieren. Wir schlagen zum Beispiel vor, landwirtschaftliche Betriebe bei der Umstellung zu weniger Tieren und mehr pflanzlicher Produktion gezielt zu unterstützen. Mittelfristig könnten auch die Einführung einer CO2-Steuer auf Lebensmittel, staatliche Umweltlabel auf Lebensmittel, gezielte Stickstoffüberschuss-Abgaben sowie passgenaue Regulationen wirkungsvoll sein.

Ist dies politisch umsetzbar?

Ja, ist es. Einerseits braucht es hierfür dringend Anpassungen in der Ernährungs-Governance. Wir müssen aus festgefahrenen Grabenkämpfen rauskommen und alle relevanten Akteure im System in einen gemeinsamen Verhandlungsprozess zur strategischen Neuausrichtung der Ernährungspolitik einbinden. Dies geht über einen reinen Dialog und über eine Konsultation hinaus. Die Zukunftskommission Landwirtschaft in Deutschland kann hier als mögliches Vorbild dienen.

Zudem müssen Politikerinnen und Politiker eine strategisch gut durchdachte Ausgestaltung, Abfolge und Kommunikation von Politikpaketen wählen. Dies erhöht Synergieeffekte und politische Umsetzbarkeit. Wir konnten in verschiedenen Studien zudem nachweisen, dass Konsumentinnen und Konsumenten deutlich stärker bereit sind, einschneidende Massnahmen zu akzeptieren, als von der Politik vermutet wird. Die Konsumentinnen und Konsumenten wollen nämlich durchaus, dass ein wirkungsvoller politischer Rahmen gesetzt wird.

Um einschneidende Massnahmen zu akzeptieren, wollen die Bürger und Bürgerinnen aber verstehen, warum ein Politik-Paket notwendig ist, und sie verlangen, dass die Kosten fair verteilt werden. Wichtig ist dabei, dass Bevölkerungsgruppen mit niedrigen Einkommen gezielt entlastet werden.

Aber auch bei den Produzenten, Verbänden und Unternehmen beginnt ein Umdenken. Fleischalternativen sind bereits heute ein lukratives Geschäft. Zudem gibt es verstärkten Druck von Investoren. Gezielte Umstellungshilfen vom Staat kann hier Widerstand reduzieren. Entsteht zudem – aktuell im Kontext des Ukraine-Krieges – ein klares politisches Narrativ, dass die Transformation des Ernährungssystems nicht mehr aufgeschoben werden kann, dann können sogenannte positive Kipppunkt-Dynamiken einsetzen, die das Wechselspiel zwischen technologischen Innovationen, Verhaltensänderungen, Normen, politischen Diskursen und staatlichen Massnahmen beeinflussen.

Die zentrale Herausforderung ist es, das Momentum solch transformativer Dynamiken zu unterstützen und allen Akteuren im System aufzuzeigen, dass es bei der Transformation des Ernährungssystems viel zu gewinnen gibt.

Über Lukas Fesenfeld

Dr. Lukas Fesenfeld forscht im Bereich der internationalen Umweltgovernance, der politischen Ökonomie und der politischen Psychologie. Fesenfeld schloss sein Doktorat an der Professur für Internationale Politische Ökonomie und Umweltpolitik der ETH Zürich ab und war dort Mitglied der Gruppe Energiepolitik. Heute ist er Senior Researcher in der «Policy Analyse und Umweltgovernance Gruppe» und am Oeschger Centre for Climate Change Research (beides an der Universität Bern) sowie Dozent an der ETH Zürich. Fesenfeld ist zudem Gründer von NAHhaft, einer unabhängigen und gemeinnützigen Forschungs- und Beratungsorganisation, die sich für den Ernährungswandel engagiert.

Offener Brief

Lukas Fesenfeld et al. Offener Brief – Handlungsmöglichkeiten für die Transformation des Ernährungssystems angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine. https://doi.org/10.5281/zenodo.6399478

«Ambitionierte Klimapolitik ist politisch machbar»: uniaktuell-Interview mit Lukas Fesenfeld vom 16.04.2021

Zur Autorin

Nicola von Greyerz arbeitet als Eventmanagerin in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.

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