Napoleon, sein Tod und seine Hosen

Zum 200. Todestag von Napoleon erzählt Alessandro Lugli vom Institut für Pathologie, wie er die historisch verbriefte Todesursache Napoleons – Magenkrebs – bestätigen konnte. Seither gilt er als internationaler Experte zu diesem Thema. Ein Interview zu Arsen, Napoleons Hosenbundweite und kreative Herangehensweisen.

Prof. Dr. med. Alessandro Lugli ist Extraordinarius für Tumorpathologie und Chefarzt für Gastrointestinale Pathologie. © zvg
Prof. Dr. med. Alessandro Lugli ist Extraordinarius für Tumorpathologie und Chefarzt für Gastrointestinale Pathologie. © zvg
Herr Lugli, Sie haben sich intensiv mit Napoleon befasst, vor allem mit seiner Todesursache. Wie kamen Sie eigentlich auf Napoleon?

In den Siebzigerjahren spielte ich immer mit kleinen Soldatenfiguren und erhielt von meinen Eltern ein Napoleon-Set und Kinderbücher wie «So lebten sie zur Zeit des grossen Napoleon». Mit der Zeit wurde eine kleine Bibliothek daraus, die immer grösser wurde – mittlerweile besitze ich über 1’000 Bücher zu Napoleon.

Was fasziniert Sie an ihm?

Ich denke, es ist vor allem die Meritokratie. Er sagte immer: «In meiner Armee hat jeder Soldat den Marschallstab im Rucksack.» Das heisst: jeder kann in seiner Armee Marschall werden, unabhängig von der Herkunft, vom Stand – beurteilt wird die Leistung. Wenn jemand gut arbeitet, ist es auch richtig, dass er dafür belohnt wird. Ich habe von Bekannten aus Frankreich gehört, dass man in der Schule über ihn lernt: «Le général Bonaparte était bon, l’empéreur Napoléon un peu moins». Ich denke es ist wichtig, dass er durch die Augen der heutigen Gesellschaft historisch objektiv beurteilt wird. Gewisse Dinge hat er gut gemacht, und es gibt ganz klar Dinge, die er schlecht gemacht hat. Auch die Napoleon-Expertinnen und -Experten in Frankreich sind der Meinung, dass es ein «gesundes Bild» von ihm braucht: Verherrlichung ist schlecht, aber Verteufelung ebenso.

Napoleon in seinem Schreibkabinett in den Tuilerien. Ölgemälde von Jaques-Louis David, 1812, National Gallery of Art, Washington. © Wikicommons
Napoleon in seinem Schreibkabinett in den Tuilerien. Ölgemälde von Jaques-Louis David, 1812, National Gallery of Art, Washington. © Wikicommons
Nun konnte sich trotz des offiziellen Autopsieberichts von Napoleons Leibarzt sehr lange die These halten, Napoleon sei vergiftet worden. Wie kam es dazu?

Die Vergiftungsthese beruht auf einer Publikation von 1961 im Journal Nature. In einem Haarbüschel von Napoleon wurde eine erhöhte Arsenkonzentration gefunden. Das ist erst einmal nur ein Fakt und heisst noch gar nichts. Eine historische Betrachtung aufgrund seiner Memoiren ergab dann, dass Napoleon angeblich eine Affäre mit der Frau seines Exilgefährten hatte, mit Albine de Montholon. Ihr Mann, der Génréral de Montholon, sei eifersüchtig gewesen und habe Napoleon dann langsam chronisch vergiftet. Dies mit der Unterstützung des britischen Gouverneurs, Sir Hudson Lowe, dem das Exil von Napoleon auf St. Helena mit dem Unterhalt seiner ganzen Gefolgschaft zu teuer geworden sei.

Wodurch wurde die Vergiftungsthese widerlegt?

Aus historischer Sicht gibt es dieser These zwei Dinge entgegenzusetzen: erstens war Montholon ein überzeugter Bonapartist und unterstützte nach dem Exil Napoleon III., wofür er sogar im Gefängnis landete. Er hatte also gar keinen Vorteil von diesem angeblichen Mord. Der zweite Punkt war, dass Napoleon sehr darauf achtete, nicht vergiftet zu werden, vor allem während des Russlandfeldzuges. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass man ihn chronisch vergiften konnte – wenn, dann akut.

Die Vergiftungsthese konnte sich sehr lange halten, bis ins Jahr 2008, als eine Gruppe von italienischen Physikern nachweisen konnte, dass eine erhöhte Arsenkonzentration auch in einem Haarbüschel von Napoleon als Kind zu finden war, ebenso bei seiner Frau Joséphine und sogar bei seinem Sohn, Napoleon II. Arsen fand man also überall. Nun war die Frage: woher kam es? Dazu gibt es verschiedene Erklärungen, die wahrscheinlichste ist diese: Früher schnitt man verstorbenen Königinnen und Königen Haarbüschel ab und bewahrte diese als Andenken auf. An der freien Luft kann man sie nicht aufbewahren wegen der Läuse. Nun erwies sich Arsen als sehr gutes Konservierungsmittel. Menschliches Gewebe lässt sich darin sehr gut konservieren – es ist aber hochgiftig. Deshalb wird heute Formalin verwendet. Wahrscheinlich wurden die Haarbüschel in Arsen aufbewahrt und sogen sich damit voll.

Sie fanden schon vorher einen Weg, um die Vergiftungsthese zu widerlegen: mit Napoleons Hosen. Wie kamen Sie darauf?

Man soll sich nicht mit fremden Federn schmücken: die Idee kam von meiner Frau. Ihr Interesse an Napoleon ist eher marginal, aber sie sagte mir, dass der Taillenumfang, also die Bundweite von Hosen mit dem Gewicht einer Person korrelieren müsse. Nun wussten wir, wie gross Napoleon gewesen war – zwischen 1,67 und 1,68 Metern. Wenn der Body Mass Index BMI mit der Grösse der Hosen korreliert und wir die Körpergrösse haben, kann man das Gewicht ermitteln. Dazu mussten wir zuerst zeigen, dass der Hosenumfang bei Männern mit dem BMI korreliert, also statistisch zusammenhängt. Wir baten unserem Bekanntenkreis also alle Männer, ihren Hosenumfang zu messen und ihren BMI anzugeben. Das haben sie gerne gemacht, weil man daraus nicht sofort auf das Gewicht schliessen konnte! So konnten wir zeigen, dass bei Männern aus ganz Europa der BMI mit dem Hosenumfang korreliert.

Über die französischen Historiker erhielten wir dann die Erlaubnis, zu Randzeiten in die Museen zu gehen, bei Fontainebleau und Malmaison bei Paris, und die Hosen von Napoleon aus den verschiedensten Lebensabschnitten auszumessen. Anschliessend konnten wir anhand der Kurve, die wir dank der Kontrollgruppe hatten, auf seinen BMI schliessen. Dann brauchte es nur noch eine einfache Rechnung, um das Gewicht zu bestimmen.

Der schlanke, langhaarige General Bonaparte, wie man ihn auch auf den Bildern sieht, war rund 68 Kilogramm schwer bei 1,68 Metern Körpergrösse. Später, als er an Macht gewann, hatte er kurze Haare und wurde fülliger. Er hatte sogar noch während des Exils zugenommen, er wog bis zu 91 Kilo. In den letzten sechs Monaten seines Lebens fiel sein Gewicht runter auf 67 bis 80 Kilo. Er verlor also 10 bis 14 Kilo in sechs Monaten! Dieser Gewichtsverlust ist eines der möglichen Symptome der eigentlichen Todesursache: Magenkrebs.

Ausmessen von Napoleons Hose, die er als Oberst vor 1815 trug. © Alessandro Lugli
Ausmessen von Napoleons Hose, die er als Oberst vor 1815 trug. © Alessandro Lugli
Sie konnten also den ursprünglichen Autopsiebericht bestätigen?

Richtig. Napoleon ist am 5. Mai 1821 gestorben, die Autopsie fand am nächsten Tag statt. 17 Personen waren anwesend, darunter acht Fachpersonen: Napoleons Leibarzt Francesco Antommarchi, der ein schlechter Kliniker war, aber ein guter Anatom, und sieben englische Ärzte. Daraus resultierten ein französischer und ein englischer Autopsiebericht, die zwar nicht in allen Punkten übereinstimmten, aber medizinisch waren sie sich einig: Die Todesursache war eine bösartige Läsion des Magens, sehr gut vereinbar mit einem Magenkarzinom, also Magenkrebs. Dazu passen auch die Symptome, die man aus den Memoiren seiner Diener und Exilgefährten kennt: Erbrechen, Gewichtsverlust, Kraftlosigkeit, Mühe mit Schlucken – er konnte zweitweise nur flüssige Nahrung zu sich nehmen. In der WHO-Klassifikation 2019 von Magendarmtrakt-Tumoren sind auch diese Symptome beschrieben bei Magenkrebs.

Eine weitere Theorie war, Napoleon sei an Gastritis, also an einer Entzündung der Magenschleimhaut, gestorben. Warum glauben Sie nicht daran?

Dazu muss man Folgendes sagen: als der Magen bei der Autopsie geöffnet wurde, war er voller «Kaffeesatz». Dieser entsteht immer dann, wenn sehr viel Blut mit Magensäure in Kontakt kommt. Das heisst, Napoleon ist innerlich verblutet. Er hatte eine schwere obere Magendarmtrakt-Blutung. Jetzt ist die Frage: Woher kommt sie? Der Leibarzt Antommarchi beschreibt zwei Befunde: ein grosse Läsion, die sich vom Mageneingang bis zum Ausgang zieht, sowie eine Geschwulst am Magenausgang. Dies passt von der Ursache her sehr gut zu einer Gastritis. Wenn diese nicht behandelt wird und chronisch wird, verändert sich die Magenschleimhaut so stark, dass sie entartet. Napoleon hatte also bestimmt eine Gastritis, aber die grosse Verletzung kann nie und nimmer eine Gastritis sein. Hier handelte es sich um einen bösartigen Befund, und wenn das nicht Krebs ist, was dann? In einer aktuellen Publikation anlässlich des 200. Todestages haben nun zahlreiche renommierte Pathologinnen und Pathologen die Autopiseberichte noch einmal geprüft, und alle kommen zum selben Schluss: Magenkrebs.

Es war Magenkrebs: Karikatur aus der wissenschaftlichen Publikation 2021, in der die Autopsieberichte noch einmal analysiert wurden. © David Levine nach einer Idee von Alessandro Lugli
Es war Magenkrebs: Karikatur aus der wissenschaftlichen Publikation 2021, in der die Autopsieberichte noch einmal analysiert wurden. © David Levine nach einer Idee von Alessandro Lugli
Gibt es etwas über Napoleon, das Sie noch nicht wissen und gerne noch herausfinden möchten?

Von der medizinischen Seite her gibt es sicher noch Details, zum Beispiel über den Verlauf der Krankheit in seinem Leben. Er hatte ja keinen Krebs in jungen Jahren, der kam erst später, sonst hätte er ja nicht überlebt. Wann hat aber die Gastritis begonnen? Das wäre noch interessant herauszufinden.

Zur Person

Alessandro Lugli ist seit 2011 Extraordinarius für Tumorpathologie am Institut für Pathologie und seit 2021 Chefarzt für Gastrointestinale Pathologie an der Universität Bern. Sein Forschungsschwerpunkt beinhaltet die Tumore des Gastrointestinaltraktes, speziell den Biomarker «Tumor Budding» beim kolorektalen Karzinom, auf dessen Gebiet er Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Vorträge ist. Zusätzlich ist er Mitglied mehrerer Fachgesellschaften und seit 2010 Sekretär der Swiss Association of Gastrointestinal Pathology (SAGIP).

Institut für Pathologie der Universität Bern

Das Institut für Pathologie deckt die gesamte Breite der morphologischen und molekularen Diagnostik an Gewebeproben ab. Die Forschung befasst sich mit der Entstehung, Diagnose und Therapie von Krankheiten. Immunpathologien, Entzündungskrankheiten und Aspekte der Tumorbiologie bilden thematisch die aktuellen Schwerpunkte. Dabei werden ex-vivo Untersuchungen an menschlichen Gewebeproben durchgeführt, auch unter Verwendung von experimentellen in-vitro und in-vivo Modellsystemen.

Zur Autorin

Nathalie Matter arbeitet als Redaktorin bei Media Relations und ist Themenverantwortliche «Gesundheit und Medizin» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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