Frauenfussball weicht Geschlechternormen auf

Pünktlich zur Fussball-Euro 2025 publizieren zwei Berner Forscherinnen das Buch «Das Recht zu kicken». Co-Autorin Marianne Meier erzählt im Interview historische Anekdoten und lässt den Schweizer Frauenfussball gegen Geschlechterklischees antreten.

Die Historikerin, Sportpädagogin und aktive Fussballerin Marianne Meier forscht am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung IZFG der Universität Bern. © Stephanie Meier
Marianne Meier, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit Frauenfussball. Mit welchen Gedanken und Gefühlen blicken Sie auf die anstehende Fussball-Europameisterschaft in der Schweiz?

Marianne Meier: Ich freue mich sehr über die positive Entwicklung und die Sichtbarkeit des Frauenfussballs, die sich anlässlich dieser Euro zeigen: Trams und Busse im Euro-Gewand, so viele attraktive Rahmenprogramme, so viele ausverkaufte Spiele! Dass sich jetzt manche Personen, die dem Frauenfussball Steine in den Weg gelegt hatten, plötzlich im Glanz dieser EM profilieren, das stört hingegen. Jetzt sollten all die Leute im Vordergrund stehen, die sich tatsächlich dafür eingesetzt haben, dass wir dieses Momentum erleben dürfen.

In Ihrem neuen Buch «Das Recht zu kicken» lassen Sie diese Wegbereiterinnen zu Wort kommen. Was ist Ihr Anliegen?

Uns ging es unter anderem darum zu zeigen, dass der heutige Boom nicht vom Himmel gefallen ist. Wir verdanken ihn unzähligen Frauen, die sich in den letzten 100 Jahren als Funktionärinnen, Schiedsrichterinnen, Trainerinnen oder Spielerinnen das Recht zu kicken erkämpften. Wir wollen diesen Pionierinnen eine Stimme geben und sie sichtbar machen. Auch Männer haben sich eingesetzt, etwa Väter von fussballspielenden Mädchen oder ein ehemaliger Nati-Trainer, der 1989 ein Trainingslager in seiner Heimatgemeinde organisierte und selber finanzierte.

Die ehemalige Schweizer Nati-Fussballerin Barla Deplazes bei einem Fallrückzieher während der Champions League 2014 für den FC Zürich auf dem Coverbild des neuen Buchs von Marianne Meier und Monika Hofmann. © Hier und Jetzt Verlag, Zürich
Die ehemalige Schweizer Nati-Fussballerin Barla Deplazes bei einem Fallrückzieher während der Champions League 2014 für den FC Zürich auf dem Coverbild des neuen Buchs von Marianne Meier und Monika Hofmann. © Hier und Jetzt Verlag, Zürich
Sie haben die 100-jährige Geschichte des Frauenfussballs in der Schweiz erforscht und aufgearbeitet. Wie verlief dieser Weg?

Die erste bestätigte Quelle, die ich gefunden habe, datiert von 1923. Damals haben Frauen in Genf per Zeitungsinserat Gleichgesinnte gesucht, um zusammen Fussball zu spielen. Das war alles informell und prägte diese erste Phase der Pionierinnen jahrzehntelang.

In den 1960er Jahren gab es in der Schweiz viele talentierte Fussballerinnen, doch aufgrund ihres Geschlechts wurden ihnen offizielle Partien untersagt. Sie zogen nach Italien – oder wurden Schiedsrichterinnen. Das war erlaubt, denn im Männerfussball herrschte seitens Verband ein Mangel. 1970 wurde der Frauenfussball mit der Gründung der Schweizerischen Damenfussballliga SDFL institutionalisiert: mit einer nationalen Meisterschaft und einem Nationalteam. Doch mangels Erfolges und Medieninteresse verschwand dieses ab 1976 bis fast zur Jahrtausendwende aus der öffentlichen Wahrnehmung.

«1972 wurden den Nati-Spielerinnen die Schweizer Kreuze per Express nachgeschickt, damit sie sie selber aufs Trikot nähten.»

Marianne Meier

1993 wurde das Mauerblümchendasein des Frauenfussballs mit der Integration in den Schweizerischen Fussballverband, dem SFV, beendet. Damit wurde eine strukturierte Nachwuchsförderung für Mädchen und Frauen lanciert, die 2004 in einem nationalen Ausbildungszentrum in Huttwil mündete. Im ersten Jahrgang war beispielsweise die langjährige Nati-Leaderin Ramona Bachmann dabei.

Solche Fördermassnahmen brachten den Erfolg: Ab 2015 qualifizierten sich die Schweizer Frauen regelmässig für WM- oder EM-Endrunden. 2020 bekam die Liga erstmals eine Sponsorin, und zum ersten Mal wurden auch Liga-Spiele live am Fernsehen übertragen. Die Sichtbarkeit von Fussballerinnen ist seither deutlich gestiegen.

Die Pionierinnen mussten gegen Vorurteile und Widerstände ankämpfen. Welches sind die krassesten Beispiele?

Sicherlich die Anfänge bis 1970, wo es den Frauen aufgrund ihres Geschlechts nicht erlaubt war, offiziell und organisiert Fussball zu spielen. Ansonsten gab es viele kleinere oder grössere Schikanen, die sich über all die Jahre durchzogen. Fürs erste Länderspiel der Frauen-Nati 1972 etwa wurden die Trikots ohne Nummern geschickt, mit der Begründung, die Körpergrössen der Spielerinnen seien nicht bekannt gewesen. Und die Schweizer Kreuze wurden per Express nachgeschickt, damit die Frauen sie selber annähten.

Bezeichnend ist, dass die Frauen sich nicht darüber beklagten. Sie wollten einfach Fussball spielen und liessen sich davon nicht abhalten. Diese Beharrlichkeit und Leidenschaft zeichnen all diese Wegbereiterinnen aus. Ein anderes Beispiel ist der DFC Therwil in den 1970er Jahren. Das Frauenteam spielte auf einem Teer- oder einem Nebenrasenplatz – der gleichzeitig als Hundetoilette genutzt wurde. Bevor die Fussballerinnen trainieren konnten, mussten sie das Terrain säubern.

Aber es reicht auch in die jüngere Zeit. Als die ehemalige Spitzenfussballerin Lara Dickenmann 2021 begann, bei den Grasshopper Club Zürich-Frauen als Managerin zu arbeiten, bekam sie kein Büro, sondern eine «Besenkammer mit Dusche … – Mantel und Tasche am Boden», wie sie im Interview für das Buch sagte. Und sogar dafür hatte sie kämpfen müssen.

«Mit Fussballerinnen als Werbeträgerinnen wird das Spektrum des Frauseins erweitert, enge Geschlechternormen werden aufgeweicht», sagt Marianne Meier. © Stephanie Meier
In Ihrem Buch kommen neben Lara Dickenmann zehn weitere Pionierinnen zu Wort, darunter auch Schiedsrichterinnen, Funktionärinnen, Medienschaffende und die ehemalige Sportministerin Viola Amherd. Können Sie uns eine prägnante Aussage herauspicken?

Nicole Petignat, eine ehemalige Schweizer FIFA-Schiedsrichterin, die unter anderem in den höchsten Profiligen der Männer pfiff, erzählte uns: «‹Pute›, c’était comme ‹bonjour›.» Sie meinte damit, dass sie «Schlampe!» genauso oft zu hören bekam wie «Guten Tag!». Trotzdem hat sie weitergemacht und sich durch Beschimpfungen, auch in den Medien, nicht einschüchtern lassen. Sie sagte uns, jede Beleidigung sei für sie ein Antrieb gewesen, noch mehr Gas zu geben.

Es scheint, als wirke der Fussball wie ein Brennglas, das unserer Gesellschaft den Spiegel im Umgang mit Frauen vorhält.

Ja, das könnte man so sagen. Der Fussball ist eine der letzten Männer-Bastionen. Ich denke, das hat viel mit dem Kämpferischen im Fussball zu tun. Da muss man aggressiv sein, Körperkontakt suchen. kann sich eine blutige Nase holen und dreckig werden. Das galt lange als unweiblich und unsittlich. Eine Frau hatte das Gegenteil zu sein: sanft, lieblich, schön.

«Mit jedem Dribbling, mit jeder Direktabnahme, mit jedem Kopfball widerlegen die Fussballerinnen Vorurteile.»

Marianne Meier

Und weil Fussball die weltweit beliebteste Sportart ist, wirkt die Entwicklung der letzten Jahre besonders symbolisch. Fussballerinnen werden zu Werbeträgerinnen für Cailler, Pepsi oder andere bekannte Marken. Und damit werden sie zu vielfältigen Vorbildern. Es sind lesbische, hetero- oder bisexuelle Frauen, die lange oder kurze Haare tragen, Kinder bekommen und weiter kicken. Damit wird das Spektrum des Frauseins erweitert, enge Geschlechternormen werden aufgeweicht, Klischees werden dekonstruiert. Dies gilt auch für die sportlichen Stereotypen, dass ein «Frauenschuss» ein schwacher Schuss sei oder eine «Mädchenflanke» eine schlechte Flanke. Mit jedem Dribbling, mit jeder Direktabnahme, mit jedem Kopfball widerlegen die Fussballerinnen solche Vorurteile.

Sie kritisieren auch das einseitige Gendermarking im Fussball: Man spricht von der Women‘s Euro oder WEURO, aber bei den Männern nur von der Euro, nicht von der Men‘s Euro. Was wäre die beste Lösung?

Ich schlage vor, das Gendermarking überall zu machen. Ich spreche von der Männer-Nati und der Frauen-Nati, von der Euro der Männer und der Euro der Frauen. So wie man es beispielsweise im Skifahren handhabt, wo es die Frauenabfahrt und die Männerabfahrt gibt. Niemand würde sagen, am Samstag findet die «Frauenabfahrt» statt und am Sonntag die «Abfahrt». Da würden alle fragen: welche Abfahrt meinst du? Doch im Fussball sind diese Begrifflichkeiten üblich. Es ist eine Gewohnheit, die den Männerfussball als das Mass der Dinge zementiert und den Frauenfussball als zweitrangige Kopie definiert. Sprache schafft Wirklichkeit.

Wie könnte die Geschichte des Schweizer Frauenfussballs nach der diesjährigen Euro weitergeschrieben werden?

Das hängt davon ab, wie ernst es dem SFV und dem Sponsoring tatsächlich damit ist, insbesondere die Schweizer Liga der Frauen weiter zu professionalisieren. Das würde unter anderem bedeuten, dass alle Profispielerinnen vertraglich abgesichert sind und vom Sport gut leben können. Im Hinblick auf diese Euro hat der SFV ja die Legacy «Here to stay» verabschiedet. Dort steht drin, dass der Verband bis 2027 die Anzahl Spielerinnen, Schiedsrichterinnen, Trainerinnen und Funktionärinnen verdoppeln will. Das klingt toll – aber nicht wirklich umsetzbar. Aktuell spielen über 40’000 Mädchen und Frauen in der Schweiz offiziell Fussball. Für 80’000 hätte es gar nicht genügend Garderoben oder Rasenplätze. Es hätte sich wohl gelohnt, ein Ziel mit einem grösseren Hebeleffekt anzustreben und beispielsweise die Zahl der Schiedsrichterinnen im Frauen- und Männerfussball zu verzehnfachen, von 2,6 auf 26 Prozent. Denn Schiedsrichterinnen sind sichtbare Vorbilder. Und Vorbilder, das zeigt die Geschichte, sind essenziell.

Angaben zur Publikation

Das Buch «Das Recht zu kicken» ist am 9. Juni im Verlag «Hier und Jetzt» auf Deutsch erschienen und kommt am 26. Juni auch auf Französisch heraus. Ergänzt wird das Buch mit dem Podcast «Fussballpionierinnen – Pionnières du foot» von Co-Autorin Monika Hofmann (auf allen gängigen Podcast-Plattformen).

Das Recht zu kicken
Die Geschichte des Schweizer Frauenfussballs
Marianne Meier und Monika Hofmann
ca. 304 Seiten, ca. 70 Bilder farbig und sw, Fr. 39.–
Print 978-3-03919-638-8; E-Book 978-3-03919-687-6

Droit au but
L'histoire du football féminin suisse
Marianne Meier et Monika Hofmann
env. 304 pages, env. 70 images en couleur et en noir et blanc, Fr. 39.-
Print français 978-3-03919-639-5; E-Book français 978-3-03919-686-9

Medienmitteilung der Universität Bern vom 19. Juni 2025

Neues Buch zum Frauenfussball: Das Recht zu kicken musste hart erkämpft werden

Zur Person

© Stephanie Meier

Dr. Marianne Meier

ist Historikerin, Senior Researcher und Dozentin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung IZFG der Universität Bern.

Zur Person

© Lilian Salathé

Monika Hofmann

ist Projektleiterin in den Bereichen Lehre, Forschung und Wissenskommunikation am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung IZFG der Universität Bern und Host von Podcasts.