Der Bundesrat: starr, aber modern

Seit fast 180 Jahren arbeitet der Bundesrat gleich. Müsste er sich nicht radikal modernisieren? Obwohl es keine grösseren Reformen gab, ist der Bundesrat in gewissen Bereichen sehr modern, sagt Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft.

Adrian Vatter
Aus alt mach neu? Adrian Vatter beobachtet den Bundesrat seit Jahren genau.

Im November 1848 nahmen die ersten sieben Bundesräte das Heft in die Hand. Nach Volksabstimmungen in den Kantonen verabschiedete auch die Tagsatzung den Text zur neuen Bundesverfassung der Schweiz und schuf so die erste stabile Demokratie Europas.

Fast 180 Jahre später, im März 2025: Muss man sich Sorgen machen, dass die Schweiz bald keine Bundesrätinnen und Bundesräte mehr findet? Die Suche nach einer Nachfolge von Bundesrätin Viola Amherd gestaltet sich für die Mitte-Partei schwierig. Einige Spitzenkandidatinnen und -kandidaten ziehen sich sogar zurück, das Amt sei nicht kombinierbar mit ihrem Familienleben.

Hat der Bundesrat in dieser Form, wie wir ihn kennen, bald ausgedient? Müsste er sich radikal modernisieren, damit er in der heutigen Arbeitswelt bestehen kann und nicht weiter an Attraktivität einbüsst?

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April 2025: Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern und Bundesrat-Experte, sitzt im Café Entrecôte Fédérale, dem historischen Restaurant, in dem Politikerinnen und Politiker seit 1880 ein- und ausgehen. An der Wand im ersten Stock hängen 119 Portraits von allen bisherigen Bundesrätinnen und Bundesräte. Was haben der erste Bundesrat und die letzte Bundesrätin gemeinsam? Ihr Amt funktioniert damals wie heute ähnlich. Das Bundesratsgremium: Es wurde noch nie grundlegend reformiert.

Adrian Vatter, 1848 gab es noch keine Briefmarken und Italien existierte nicht einmal als Land. Seit seiner damaligen Gründung erfuhr der Bundesrat als Gremium keine grossen Veränderungen. Muss man davon ausgehen, dass der Bundesrat als Arbeitseinheit komplett veraltet ist?

Adrian Vatter: Im Hinblick auf die Diversität war das Gremium eigentlich seiner Zeit voraus, es integrierte von Anfang an verschiedene Teile der Gesellschaft, aus verschiedenen Landes- und Sprachregionen, Parteien und Gruppen – ausser Frauen oder seit langem in der Schweiz wohnhaften Personen ohne Schweizer Pass. Diesbezüglich ist der Bundesrat bis heute zu wenig divers oder «modern», er ist zudem stark überaltert.

Es kommt also drauf an. Der Bundesrat und die Bundeskanzlei versuchen zum Beispiel im Hintergrund sehr aktiv, die Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben. Die Bundesrätinnen und Bundesräte haben ihre modernen Kommunikationsmittel, sie gehen ohne Zweifel mit der Zeit.

«Der Bundesrat fördert die Intelligenz der Gruppe und appelliert stark an die Eigenverantwortung – unter diesen Aspekten ist der Bundesrat extrem modern.»

Adrian Vatter

Unter gewissen Aspekten war der Bundesrat schon früh ein sehr modernes Entscheidungsgremium: Die Hierarchien sind flach und die Entscheidungen werden nicht durch Mehrheiten, sondern durch Deliberation, Diskussion und Konsensfindung gefällt. So fördert der Bundesrat die Intelligenz der Gruppe und appelliert stark an die Eigenverantwortung – unter diesen Aspekten ist der Bundesrat extrem modern.

Menschen mit kleinen Kindern würden den Bundesrat verjüngen. Aber gerade Mütter scheinen im Bundesrat eher unerwünscht, nur wenige hatten überhaupt Kinder, und wenn, waren sie schon älter.

Ja, die meisten Bundesrätinnen waren kinderlos. Kinder zu haben, ist natürlich kein formelles Ausschlusskriterium. Aber dieses Amt ist mit einem Familienleben schwer unter einen Hut zu kriegen: Der Tag beginnt um 6:30 Uhr und ab dann ist man bis am Abend fremdgesteuert und voll mit Terminen im In- und Ausland. Für das Aktenstudium bleibt eigentlich nur noch das Wochenende, das ist enorm herausfordernd.

Bräuchte es pro Bundesratssitz künftig nicht zwei Personen, also eine typische Co-Leitung?

Das wäre ein Machtverlust, den die Regierungsmitglieder nicht wollen. Und je mehr Bundesrätinnen und Bundesräte es gibt, desto mehr müssen sie sich koordinieren. Das ist aufwändig und zeitraubend. Aber es würde so funktionieren, wie es andere machen: Andere Länder, die so gross sind wie die Schweiz, haben 15, 20 oder 25 Ministerinnen und Minister. Wir haben immer dieselben sieben Personen, die überall hinreisen, wo andere sich abwechseln können.

Adrian Vatter
Publizierte 2020 die erste ausführliche Analyse über den Bundesrat: Adrian Vatter.
Aber solche Reformen sind nicht auf dem Weg. Finden wir uns einfach damit ab, dass es nicht möglich ist, das Amt für Menschen mit Familie und insbesondere Frauen attraktiver zu machen?

Ja, also realistisch gesehen wird es im Bundesrat in naher Zukunft kein Jobsharing oder die Möglichkeit zu mehr Homeoffice geben. Mein Eindruck ist aber: Alle finden es nicht gut, dass im Moment nur noch zwei Frauen im Bundesrat vertreten sind. Der politische Druck in dieser Frage ist riesig. Ich gehe davon aus, dass niemand zurück in die 1990er Jahre will. Der Ball liegt aber zuerst bei den Parteien und den Frauenorganisationen. Sie müssen unbedingt langfristige Kandidatinnen aufbauen.

Scheint so, als wäre das gewollt, dass man diese enorme Belastung aushält. Ist das Schweizer Fleiss, unsere Mentalität?

In der Tat zeigt sich, dass Bundesratsmitglieder überdurchschnittlich gewissenhaft und fleissig sind. Aber das Amt ist auch nach wie vor attraktiv. Im Bundesrat ist man im Olymp der Macht. Klar, diese enorme Arbeitsbelastung und Fremdbestimmung sind eine Herausforderung. Andererseits: Wenn Sie als Politikerin oder Politiker wirklich gestalten und beeinflussen möchten, sind Sie bereit, diesen Preis zu zahlen. Das, was wir während den letzten Bundesratswahlen gesehen haben, ist neu. Obwohl das Amt sehr prestigeträchtig ist, setzt die neue Generation wie ein Martin Candinas oder Flavia Wasserfallen die Prioritäten anders: Sie verzichteten zu Gunsten der Familie.

Eigentlich funktioniert in der Schweiz also nur der Status quo.

Ja, das ist so. Das haben der Bundesrat und die Verwaltung in einer Krisensituation, wie es bei der Covid-Pandemie der Fall war, bewiesen. Sehr viele Verwaltungsmitarbeitende und Politikerinnen haben enorme Arbeitsleistungen erbracht. Das darf man nicht unterschätzen. Das sehen viele kritische Stimmen nicht.

«Die Aufteilung auf mehr Köpfe birgt Risiken, verlangt mehr Koordination und ein hierarchieloses Gremium funktioniert ab einer gewissen Personengrösse nicht mehr.»

Adrian Vatter

Es heisst dann vielfach, dieser Verwaltungsapparat sei aufgeblasen, nicht effizient. Ist auch aufgrund dieser Meinung eine Reform des Bundesrates, eine Modernisierung, unmöglich?

Unsere Verwaltung ist im internationalen Vergleich erstens nicht so gross und zweitens relativ effizient und nicht korrupt. Sie ist – mit wenigen Ausnahmen – digital sehr agil, aber hat klare Hierarchien. Aber es stimmt: Eine Vergrösserung des Bundesrates oder der Verwaltung allgemein ist nicht durchsetzbar und würde auf breiten Widerstand stossen. Die Berner SP-Nationalrätin Nadine Masshardt forderte im Jahr 2019 per parlamentarischer Initiative, den Bundesrat auf neun Personen aufzustocken. In den Kommissionen und sogar im Plenum des Nationalrates wurde das angenommen, im Ständerat ist die Initiative dann aber doch gescheitert. Kann sein, dass ein solches Anliegen wieder auf den Tisch kommt.

Braucht es also einfach mehr Bundesrätinnen und Bundesräte?

Ich halte es nicht für die Lösung. Die Aufteilung auf mehr Köpfe birgt Risiken, verlangt mehr Koordination und ein hierarchieloses Gremium funktioniert ab einer gewissen Personengrösse nicht mehr, da braucht man jemanden, der führt.

Was schlagen Sie vor?

In meinen Gesprächen mit rund zwanzig ehemaligen Bundesrätinnen und Bundesräten waren viele derselben Meinung: Man muss nicht das Gremium vergrössern, sondern die Führungs- und Leistungsfähigkeit stärken. Zum Beispiel durch ein Präsidialdepartement, so wie es einzelne Kantone und Städte machen. Der Bundesrat ist beides in einer Person, die Spitze der Verwaltung und die Staatsleitung.

«Ich bin überzeugt, dass der Bundesrat der Zukunft weiblicher, diverser und jünger sein wird.»

Adrian Vatter

Sie haben den Bundesrat intensiv erforscht, die Schweizer Regierung war jahrelang eine grosse Forschungslücke. Was finden Sie so spannend an diesem überalterten und nicht reformierbaren Gremium?

Dass es eigentlich so gar nicht funktionieren kann – das war für mich faszinierend: Man hat keinen Regierungschef, kein Regierungsprogramm, alle sind gleichberechtigt. Es gibt keine Prioritätensetzung wie zum Beispiel in einem Koalitionsvertrag und der Bundesrat hat keine gesicherten Mehrheiten im Parlament. Das alles sind extrem schwierige Voraussetzungen. Trotz all dem: Der Schweizer Bundesrat ist die stabilste Regierung der Welt, nebst vielleicht dem US-amerikanischen Präsidenten.

Wenn wir in die Zukunft blicken, sagen wir in den April 2125, wie könnte der Bundesrat dann aussehen?

Ich gehe davon aus, dass er weiblicher, diverser und jünger sein wird. Davon bin ich überzeugt. Wenn man den Altersdurchschnitt betrachtet, ist unsere Regierung zurzeit die zweitälteste Europas! Und gleichzeitig denke ich, dass er sich im innersten Kern als Kollegialorgan nur wenig verändern wird. Wir sind mit ihm bis heute gut gefahren. Der Bundesrat geniesst hohes Vertrauen, wir sind von dieser Stabilität überzeugt und er kann ja durchaus mit der Zeit gehen, Stichwort flache Hierarchien. Vielleicht wird er aber mehr in Netzwerken regieren; dass also mehr Expertinnen und Experten in der Regierung sitzen, die bestimmte komplexe Aufgaben übernehmen.

Zur Person

Adrian Vatter

ist seit August 2009 Co-Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Inhaber der Professur für Schweizer Politik. Zwischen 2003 und 2009 war er Professor an der Universität Konstanz und an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Schweizer Politik, die empirische Demokratieforschung im internationalen Vergleich und politische Institutionen.

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Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) an der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz. Es betreibt sowohl Grundlagenforschung als auch praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernaussagen sind Bestandteil der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» und Master «Politikwissenschaft» sowie des schweizweit einzigartigen Studiengangs «Schweizer Politik im Vergleich». Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind politische Institutionen und Akteure, Europäische Politik, Klima, Umwelt und Energie, Öffentliche Meinung sowie Gender in Politik und Gesellschaft. Darüber hinaus bietet das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit an, wie zum Beispiel das Jahrbuch Schweizerische Politik (Année Politique Suisse).

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