Sprechen wir über Abfall!

Mit Abfall werden wir jeden Tag konfrontiert. Gleichzeitig ist unser Umgang mit Abfall mit Tabus, Ängsten und Vorurteilen behaftet. Doktorierende der Universität Bern erforschen unsere eigenartige Beziehung zu den ungeliebten Überbleibseln – und sorgen so für Gesprächsstoff.

Text: Pieter Poldervaart 07. November 2023

Sprechen über Abfall kann das Bewusstsein und vielleicht auch den Umgang damit nachhaltig verändern: Laura Wohlgemuth, Crispin Thurlow und Alessandro Pellanda wählen einen soziolinguistischen Zugang zum Thema. © Pieter Poldervaart

Abfall ist das, was niemand mehr braucht – oder hat trotzdem jemand ein Interesse daran? Zumindest rund um Crispin Thurlow, Professor für Sprache und Kommunikation, der dem Department of English angegliedert ist, sorgt das Thema seit mehreren Jahren für Gesprächsstoff. «Auch ich war zuerst abgeschreckt von der Beschreibung der Lehrveranstaltung, denn Abfall ist nicht gerade attraktiv», räumt Laura Wohlgemuth ein. Doch die damalige Soziolinguistik-Studentin interessierte sich für die Klimaerwärmung, und Abfall trägt nun mal einiges zu dieser Krise bei. So produzieren wir jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Siedlungsabfall, bis 2050 rechnet die Weltbank mit 3,4 Tonnen.

Wohlgemuth schloss vor ein paar Monaten ihre Masterarbeit ab, für die sie vertiefte Gespräche mit zwei Dutzend Privatpersonen über deren Abfallverhalten führte. Dabei erkannte sie, mit wie vielen Vorurteile unser Umgang mit Weggeworfenem behaftet ist, aber auch mit Scham und schlechtem Gewissen.

Ein Beispiel: Als Schlusspunkt ihrer Interviews bat sie jeweils scheinbar spontan darum, einen Blick in den Kühlschrank werfen zu dürfen. Die Befragten waren zwar unvorbereitet, willigten aber ein. Vor der offenen Kühlschranktür begründeten sie jeweils wortreich, warum sie Essensresten zwar aufbewahren, diese dann aber doch häufig im Kehricht landen.

Fast so intim wie unser Schlafzimmer, der Kühlschrank mit allerlei Resten, die wir möglichst aufbewahren – und dann doch fortwerfen. © Laura Wohlgemuth

Ambivalentes Verhältnis zum Abfall

Laura Wohlgemuths Doktorandenkollege Alessandro Pellanda ging anders vor und recherchierte im Freien. So hielt er sich in verschiedenen Recyclingpärken auf und rapportierte das Verhalten und die Aussagen der Benutzerinnen und Benutzer. «Ich war davon ausgegangen, dass sie vor allem stolz waren, ihren Abfall korrekt zu recyclen. Doch es war viel emotionaler», erinnert sich Pellanda. Vor allem leere Flaschen und Gläser wurden mit Schwung und sichtlicher Erleichterung in den Container geworden. Ging es aber an die Sortierung von seltenen Abfallfraktionen wie Elektroschrott, waren die Personen sofort verunsichert. «Dazu trug bei, dass die Aufsichtsperson sie bei Fehlern barsch zurechtwies.» Damit spricht Pellanda die Praxis an, dass wir uns zwar stets bemühen, etwas mustergültig zu entsorgen, dabei aber immer befürchten, etwas falsch zu machen.

Erfolg für Projekteingabe

Die Lehrveranstaltung «Critical Linguistics as a Pedagogy of Waste», von Professor Crispin Thurlow 2020 erstmals gehalten, wird im aktuellen Herbstsemester wiederholt. Zudem bewilligte kürzlich der Schweizerische Nationalfonds das Projekt «Articulating Rubbish – a Sociolinguistic Approach to the Crisis of Waste» («Abfall artikulieren – eine soziolinguistische Annäherung an die Abfallkrise»). Zum Team gehört neben Crispin Thurlow, Laura Wohlgemuth und Alessandro Pellanda auch Charmaine Yik Lam Kong. Kongs Arbeit hat jene Menschen im Fokus, welche die Überreste des globalen Kapitalismus in Fünfsternhotels, Shopping Malls und Bürogebäuden in Hong Kong wegräumen. Das SNF-Projekt läuft bis 2026 und hat ein Budget von 800‘000 Franken, das in erster Linie für die Anstellung der Doktorierenden genutzt wird.

Kommuniziert wird ständig

Abfall, so gerne wir ihn verdrängen, füllt Gesetzesbücher und Entsorgungskalender mit unzähligen Paragrafen, Anleitungen und Ermahnungen. Auch das Verbrauchsdatum auf dem Fertigsalat informiert über den Zeitpunkt, wann die aufwendig produzierte Zwischenmahlzeit den Weg in den Kehrichtsack anzutreten hat. Dass ein an sich nebensächliches Thema so prominent Einzug in unsere Alltagssprache gefunden hat und dennoch nur ungern darüber gesprochen wird, fasziniert Crispin Thurlow. Gleichzeitig bedeutet «alt» nicht automatisch «ausrangiert»: Im Brockenhaus oder in der Kleiderbörse warten Möbel und andere Gebrauchsgegenstände auf ein zweites Leben. Während in der Regel ein durchgesessenes Polster und verkratzte Armlehnen automatisch das Urteil für den Sperrmüll sind, adelt Patina das gute Secondhand-Stück. Der Abfallgedanke lässt sich noch weiterspinnen: Dass auch unsere eigene Lebenszeit begrenzt ist und wir dereinst «entsorgt» werden müssen, könne durchaus zum schlechten Ruf des Abfalls beitragen, mutmasst Thurlow. Selbstverständlich ist auch die «Abfallbehandlung» auf dem Friedhof streng von der Sprache reguliert, etwa in Verordnungen zur Luftreinhaltung und zum Grundwasserschutz.

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Neben der Zeit spielt auch der Ort eine entscheidende Rolle, welchen Wert wir Resten zuordnen: Eine leere PET-Flasche kann, je nachdem, wo sie sich befindet, als lästiges Littering nerven oder – im Sammelsack – zu kostbarem Wertstoff mutieren. Beide Male wird aber kommuniziert: Im einen Fall ruft die öffentliche Hand unter Bussandrohung dazu auf, Plastikverpackungen nach dem Picknick gefälligst wieder mitzunehmen. Im andern wirbt die Plastikbranche mit dem eingängigen Slogan «Luft raus – Deckel drauf».

Banal, aber allgegenwärtig

Abfall ist ein Thema, über das wir häufig am Familientisch diskutieren. Die Masterarbeiten der beiden untersuchten deshalb einerseits, wie wir im Privaten über Abfall reden. «Andererseits schafften sie Gelegenheit, das eigene Handeln zu reflektieren und darüber mit anderen zu sprechen», erklärt Thurlow, der sich schon vor einigen Jahren aus der Perspektive des Soziolinguisten über die Lieferketten der Tomatenproduktion in Spanien gebeugt hatte. Dabei war ihm aufgefallen, dass der enorme Gemüseausschuss, der im Abfall landet, kaum thematisiert wird. Als dann der Anstoss der Stelle «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» der Universität Bern kam, Nachhaltigkeit in die Lehre zu integrieren, war für ihn klar: Das ebenso banale wie allgegenwärtige Thema Abfall passt für sein Gebiet hervorragend. Wie vielfältig über Müll gedacht, gesprochen und geschrieben werden kann, zeigt die Tatsache, dass in der aktuellen Wiederholung des Seminars «Critical Linguistics as a Pedagogy of Waste» unter anderem ein Praktikant der Sterbeberatung Exit, die Managerin eines Kehrichtverwerters und der Sohn eines Brunnenmeisters sitzen – auch Wasser wird bekanntlich in der Toilette auf Knopfdruck zu Abwasser und also flüssigem Abfall.

Nachhaltigkeit in allen Studiengängen

Serie in uniAKTUELL

Alle Studierenden der Universität Bern sollen sich im Lauf ihres Studiums mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Die Universität Bern integriert Nachhaltige Entwicklung deshalb in die Lehre aller Fakultäten und Fachrichtungen und unterstützt die Dozierenden dabei, entsprechende Veranstaltungen zu konzipieren. uniAKTUELL zeigt in einer losen Serie konkrete Beispiele.

Kellergerümpel und Kehrichtsäcke

«Inzwischen ist bei uns im Forschungsbereich Abfall zum wichtigen Gesprächsstoff geworden», bilanziert Thurlow, obwohl man das Thema eher in der Soziologie, Anthropologie oder Biologie erwarte. Dabei beschränke man sich bewusst nicht auf den akademischen Zirkel, sondern wage sich in den Alltag vor, in dem wir uns alle gleichermassen tummeln. Wohl deshalb schwappt die Diskussion auch auf das Umfeld der Doktorierenden über: Kolleginnen und Kollegen schicken Fotos und Hinweise für weitere Aspekte, denen nachzugehen sich lohne. «Diese Beschäftigung mit Abfall könnte bei der einen oder dem anderen der Beginn eines sozialen Wandels sein», hofft Thurlow. Und daraus wiederum könnte sich, idealerweise, eine Verhaltensänderung möglichst weiterer Kreise in Richtung Nachhaltigkeit ergeben.

Welche Geschichten stecken im Abfallsack? Und welche Wege nimmt der Kehricht, bis er zu Asche wird? © Alessandro Pellanda

Tatsächlich nimmt Laura Wohlgemuth heute Abfall anders wahr und hat auch keine Mühe damit, ihn gegenüber anderen anzusprechen. Alessandro Pellanda seinerseits hat eine viel positivere Einstellung zu dem, was übrigbleibt – es muss nicht alles «entsorgt» werden, man könnte es auch als Rohstoff betrachten. Selbst wenn es sich um Exkremente handelt: «Natürlich stinken sie. Doch wir können sie nicht vermeiden, sondern wir müssen einen anderen Umgang mit ihnen einüben.» Die beiden Doktorierenden werden am Thema dranbleiben: Wohlgemuth wird in ihrer Doktorarbeit Personen nicht mehr zu den Überbleibseln im Kühlschrank, sondern zu ihrem Gehorteten im Keller befragen. Pellanda wiederum will den Lebensweg eines Kehrichtsacks nachverfolgen: Nachdem wir ihn am Strassenrand platziert haben, wandelt er sich vom intimen Tagebuch unseres Konsums zum anonymen Etwas, das verschiedene Stationen durchläuft, bis unsere Reste – und damit gleich auch unser schlechtes Gewissen – eingeäschert werden.

Förderung Nachhaltige Entwicklung durch Bildung

Über das Fördergefäss FNE (Förderung Nachhaltige Entwicklung durch Bildung) können Mitarbeitende der Universität Bern Ressourcen beantragen, um nachhaltigkeitsrelevante Bildungsprojekte an der Universität Bern zu entwickeln. Konkret sollen unterschiedliche Themen mit einer Nachhaltigen Entwicklung (NE) verknüpft werden, nachhaltigkeitsrelevante Kompetenzen gefördert oder Reflexionsprozesse für eine NE angestossen werden. Die FNE-Förderung ist Teil des Projekts «Bildung für Nachhaltige Entwicklung » der Universität Bern. Dieses Projekt unterstützt das Vizerektorat Qualität und Nachhaltig Entwicklung darin, NE stärker in die Bildung der Universität zu integrieren. Es zeigt sowohl verschiedene disziplinäre als auch interdisziplinäre Verknüpfungen mit NE auf und unterstützt die Fakultäten und Institute darin, diese Verbindungen zu verstärken und nach aussen sichtbar zu machen. Neben der FNE werden diverse Unterstützungsangebote wie Arbeitsmaterialien oder Dienstleistungen vom BNE-Team des Centre for Development and Environment (CDE) zur Verfügung gestellt.

«Es braucht den Mut, neue Wege einzuschlagen»

Die Universität Bern, die Berner Fachhochschule, die PHBern und die PH NMS wollen gemeinsam «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» stärken: Studierenden sollen komplexe Probleme der Gegenwart und Zukunft verstehen und angehen können. Lilian Trechsel erklärt, was bereits gut funktioniert und was noch ansteht.

Studierende zeigen Lösungen für nachhaltiges Bauen

©Theodora Peter

Was haben Architektur und Design mit der Umwelt zu tun? In einem Praxisseminar setzten sich Studierende mit Nachhaltigkeitskulturen auseinander. Ihre Erkenntnisse machen sie mit Video-Vorträgen einem breiten Publikum zugänglich. Ein Werkstattbesuch.

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