«Romantische Liebe wird gegenüber Freundschaft bevorzugt»

Die Philosophin Sabine Hohl erachtet es als ungerechtfertigt, dass eine bestimmte Beziehungsform rechtlich und kulturell einen Sonderstatus hat. Sie bringt die Idee der Ehe mit Freunden ins Spiel und sieht für alle Vorteile, wenn Freundschaften und Liebesbeziehungen gleichgestellt würden.

Frau Hohl, woran machen Sie die gesellschaftliche Bevorzugung von romantischer Liebe fest?

Sabine Hohl: Da gibt es eine rechtliche und eine kulturelle Ebene. Einerseits gibt es für die romantische Liebe ein rechtliches Gefäss mit diversen Rechten und Pflichten: die Ehe. Das gibt es für Freundschaften nicht. Oder zumindest wird nicht erwartet, dass sich Freundinnen und Freunde über die Ehe rechtlich absichern und verpflichten würden.

Wäre das denn möglich?

Da man heutzutage Menschen jeden Geschlechts heiraten kann, könnte man theoretisch eine Person nach Wahl heiraten, mit der man freundschaftlich verbunden ist. Aber die Intention des Staates ist natürlich eine andere, das sieht man am deutlichsten, wenn man einen Menschen aus einem anderen Herkunftsland heiratet: Wenn Sie nicht romantisch liiert sind, können Sie der Scheinehe angeklagt werden. Und da zeigt sich auch schon ein handfester Nachteil dieser rechtlichen Ungleichbehandlung von romantischen und freundschaftlichen Beziehungen: Egal, wie wichtig ein enger Freund aus dem Ausland für Sie ist – Sie können ihn nicht heiraten, um mit ihm hier zusammenzuleben.

«Kaum jemand fragt: Mit wem bist du befreundet?»

Wie wird romantische Liebe kulturell bevorzugt?

Das zeigt sich darin, dass romantische Beziehungen einen besonderen gesellschaftlichen Status geniessen, den Freundschaften nicht haben. Man fragt einander oft: Hast du eine Partnerin, wer ist dein Partner? Kaum jemand fragt: Mit wem bist du befreundet? Wie läuft es in deinen Freundschaften? Das führt dazu, dass die meisten Menschen viel Energie in romantische Beziehungen investieren, die mitunter für Freundschaften fehlt. Die US-Philosophin Elizabeth Brake spricht hier von «Amatonormativität». Diese fusst auf der Annahme, dass jeder Mensch eine romantische Beziehung führen sollte und dass diese wichtiger ist als andere Beziehungen. Wenn jemand Single ist, wird dieser Status als temporär und defizitär angesehen. Das spiegelt sich auch in vielen Filmen, aktuell in der norwegischen Netflix-Serie «Home for Christmas», in der die Protagonistin verzweifelt einen Partner sucht, den sie zu Weihnachten den Eltern vorstellen kann.

Mit negativen Auswirkungen nicht nur für Singles, oder?

Richtig. Einerseits werden Menschen ohne Beziehung oft von anderen mit Fragen genervt und mit einem vermeintlichen Mangel konfrontiert: Asexuelle oder aromantische Menschen genauso wie freiwillige und unfreiwillige Singles. Alleinerziehenden wird der Alltag erschwert, weil Schulen oder Arbeitsstellen darauf ausgerichtet sind, dass noch ein Partner oder eine Partnerin da ist. Aber auch für Menschen in einer romantischen Beziehung ergeben sich Nachteile. Viele Männer pflegen kaum Freundschaften. Wenn das Paar sich trennt oder die Partnerin verstirbt, finden sie sich in einer extrem schwierigen Lebenssituation wieder, weil ihr Beziehungsnetz so stark auf diese eine Person ausgerichtet war. Frauen in heterosexuellen Beziehungen wiederum richten sich oft hauptsächlich auf ihren Mann aus. Fast ihre ganze Energie stecken sie in die Paarbeziehung, wenn Kinder da sind, noch in die Familie. Für Freundschaften bleibt oft wenig Zeit und Raum.

«Die gesellschaftliche Bevorzugung und der rechtliche Sonderstatus der romantischen Beziehung sind nicht gerechtfertigt.»

Was müsste sich aus philosophischer Sicht ändern?

Auf kollektiver Ebene ist für mich klar: Die gesellschaftliche Bevorzugung und der rechtliche Sonderstatus der romantischen Beziehung sind nicht gerechtfertigt. Eine Institution wie die Ehe darf keine bestimmte Lebensweise bevorzugen. Man sollte die Ehe für alle Menschen öffnen, die diese Rechte und Pflichten eingehen wollen. Den Staat geht es nichts an, in welcher Form diese Menschen miteinander verbunden sind.

Wie könnte das konkret aussehen?

Dazu gibt es verschiedene Ideen. Einen spannenden, modularen Ansatz hat Elizabeth Brake vor rund zehn Jahren unter der Bezeichnung «minimale Ehe» ins Spiel gebracht: Sie schlägt vor, dass man die verschiedenen Aspekte, die über eine Ehe automatisch geregelt werden, entbündelt; etwa Besuchsrechte im Spital, gegenseitige finanzielle Unterstützung, Erbschaftsfragen oder die Elternschaft. Brake schlägt vor, dass man sich – wenn man das möchte – mit verschiedenen Menschen bezüglich einzelner Aspekte verpflichten kann. Demnach könnte man die einen Freundinnen als Erbinnen festlegen, den anderen Rechte bei Krankheit zugestehen. Mit einer Person lebt man finanzielle Solidarität, mit jemand anderem wohnt man zusammen, mit einer dritten Person teilt man sich die Verantwortung für ein Kind. Man kann frei entscheiden, ob man das alles mit der gleichen Person teilen will oder mit mehreren, ob mit einem Freund oder mit einem romantischen Partner.

Zur Person

Sabine Hohl

ist Ethikerin und politische Philosophin. Sie war als Postdoc am Institut für Philosophie der Uni Bern tätig, ab Frühling 2023 leitet sie an der Uni Basel das vom SNF mit einem Starting Grant geförderte Projekt «Just Parenthood: The Ethics and Politics of Childrearing in the 21st Century».

Vieles könnte man ja schon heute so leben.

Das ist richtig, es gibt Menschen, die als Freunde ein Kind grossziehen, und man kann einer Freundin über Patientenverfügungen Besuchsrechte im Spital einräumen. Aber einerseits ist es komplizierter und aufwendiger zu regeln, und andererseits kommt es vielen gar nicht in den Sinn oder schüchtert sie ein. Kulturelle Normen haben eine starke Wirkungsmacht. Es hilft, wenn etwas gesellschaftlich und rechtlich anerkannt ist.

Sehen Sie Vorteile, wenn Freunde sich die Elternschaft teilen?

Sie diskutieren die Co-Elternschaft viel expliziter und konkreter: Wie organisieren wir uns, wie teilen wir uns die Betreuungsarbeit auf, was ist uns bei der Erziehung wichtig, was sind mögliche Konflikte, wie gehen wir damit um? Heterosexuelle Paare stellen sich diese Fragen im Vorfeld oft zu wenig. Auch gleichgeschlechtliche Paare haben hier einen Vorsprung: Sie müssen mehr Aufwand leisten, um Eltern zu werden, und setzen sich darum mehr damit auseinander. Sie sind auch nicht selten Vorreiter beim freundschaftlichen Co-Parenting, etwa indem lesbische Paare gemeinsam mit einem biologischen Vater ein Kind aufziehen. Ich plädiere dafür, dass alle Elternpaare die Ebenen der Co-Elternschaft und der romantischen Beziehung getrennt betrachten. Das kann helfen, die Rollen als Eltern zu klären und die romantische Beziehung nicht komplett zu vernachlässigen. Und es hilft auch bei einer allfälligen Trennung oder Scheidung.

«Ich plädiere dafür, dass alle Elternpaare die Ebenen der Co-Elternschaft und der romantischen Beziehung getrennt betrachten.»

Wieso behält die romantische Liebe trotz der vielen Trennungen ihren Sonderstatus?

Ich denke, hier spielt die vorherrschende Heteronormativität hinein, nach der die Mann-Frau-Beziehung inklusive Familiengründung immer noch als zentrales Lebensziel gilt. Sicher hängt es auch damit zusammen, dass romantische Beziehungen mit viel Commitment Stabilität kreieren. Da sie nicht selten doch scheitern, ist diese Stabilität allerdings etwas illusorisch. Viele Menschen würden wohl auch sagen, dass sie romantischen Beziehungen Priorität einräumen wollen. Das ist völlig legitim, nur finde ich, dass das ein reflektierter Entscheid sein sollte.

Wofür plädieren Sie genau?

Auf der persönlichen Ebene würde ich dazu aufrufen: Machen Sie sich doch Gedanken darüber, welche Rolle Freundschaft und romantische Liebe in Ihrem Leben spielen und ob das von der Gewichtung her stimmt. Mit wem möchten Sie wohnen? Mit wem möchten Sie die Kindererziehung teilen? Welche Beziehungen sind Ihnen wichtig, und wie möchten Sie diese leben? Vielleicht fahren Sie einmal mit Freunden in den Urlaub statt mit der romantischen Partnerin?

Was würden wir gewinnen, wenn Freundschaft und romantische Liebe den gleichen Stellenwert hätten?

Es wäre entspannter! Diejenigen ohne romantische Partnerin würden von gesellschaftlichen Erwartungen befreit. Wir kreieren so viel Druck durch die Privilegierung romantischer Beziehungen. Man muss den richtigen Partner finden – falls es so etwas überhaupt gibt –, und diese eine Person muss dann so viel abdecken. Wenn die romantische Beziehung scheitert, ist es oft eine Katastrophe. Wenn wir ein Netz aus uns nahestehenden Leuten pflegen, macht uns das resilienter, wenn Lebensumstände sich verändern. Und wir können unsere Bedürfnisse mit unterschiedlichen Menschen erfüllen. Wie oft zwingen Menschen ihre romantische Partnerin ins Kino oder auf eine Wanderung, obwohl diese gar keine Lust drauf hat? Nicht zuletzt kann es auch einfach sehr wertvoll sein und zu einem guten Leben beitragen, wenn man mehrere enge Beziehungen pflegt.

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