«Urteile haben eine gewisse Zufälligkeit»

Der Spielraum zur Auslegung eines Gesetzes ist oft riesig, erklärt Martino Mona. Der Professor für Strafrecht an der Universität Bern ist überzeugt, dass bei Gerichtsurteilen auch Vorurteile und persönliche Einstellungen eine wichtige Rolle spielen.

Herr Mona, auf welcher Grundlage entscheiden Richterinnen und Richter über einen Fall?

Martino Mona: Die faktische Grundlage ist der Sachverhalt, und der ist typischerweise vor Gericht schon erstellt. Die Frage ist dann, welche Gesetzesnorm auf den Fall anwendbar ist.

Von welchen weiteren Faktoren hängt die Urteilsfindung ab?

Oft sprechen der Sachverhalt und vor allem die Gesetze keine klare Sprache. Man weiss zwar ungefähr, was passiert ist und welches Gesetz einschlägig sein könnte. Ob das eine aber wirklich mit dem anderen zusammenpasst, ist weitgehend offen. Es spielt viel mehr Interpretationsleistung mit, als sich Laien typischerweise vorstellen. Eine Gesetzesnorm kann in verschiedene Richtungen ausgelegt werden, es spielen sehr viele Faktoren eine Rolle.

Welche Faktoren sind das?

Die ideologischen und politischen Überzeugungen der Richterinnen und Richter, ihre moralische Einstellung, die Tagesform, die Art, wie das Verfahren abgelaufen ist. Zu glauben, dass das Gesetz und das Gerichtssystem diese Faktoren ausschalten können, ist naiv. Es ist viel ehrlicher und korrekter zu akzeptieren, dass richterliche Entscheidungen persönliche Entscheidungen sind, die vor einem anderen Gericht anders ausfallen könnten.

Und was bedeutet das?

Es bedeutet, dass Urteile immer eine gewisse Zufälligkeit haben. Wenn Gesetze deutlich sprechen würden und nicht erst von den Richterinnen und Richtern mit einem eigenen Verständnis ausgefüllt oder erfasst werden müssten, wären auch die verschiedenen Instanzen überflüssig. Alle würden ja immer gleich entscheiden.

Sind manche Urteile denn falsch?

Es ist nicht so, dass ein Gericht falsch und das nächste richtig entscheidet. Das eine Gericht hat einfach einen Aspekt mehr gewichtet als das andere. Es gibt eindeutige Fehlurteile, die sind aber selten. Das eigentlich Brisante ist, dass eine Urteilsfindung auf der Basis von Gesetzen überhaupt nicht präzise oder kalkulierbar ist. Kein Gesetz spricht so klar, dass es gar keine Spielräume oder unterschiedlichen Auslegungen gibt. Wenn das so wäre, gäbe es ja keinen Rechtsstreit.

In welchen Fällen ist es besonders schwierig, zu einem Entscheid zu kommen?

Man könnte meinen, das sei bei den komplexen Fällen so. Dabei trägt schon die trivialste Norm ein enormes Potenzial an Unordnung und Schwierigkeiten in sich. Für meine Studierenden mache ich oft ein einfaches Beispiel: Im Park steht ein Schild, wonach Hunde an der Leine zu führen sind. Nun denkt man, dass dies eine klare Ansage sei. Aber darüber kann der allergrösste Streit entbrennen. Denn was machen wir, wenn eine Person mit einem Hund kommt, den sie an einer 300 Meter langen Leine führt, der Hund also im ganzen Park frei herumlaufen kann und der Besitzer ihn gar nicht unter Kontrolle hat? Wir sagen dann, dass die Vorschrift nicht so gemeint sei. Der Hundebesitzer erwidert, dass auf dem Schild nicht stehe, wie lang die Leine sein dürfe. Wir müssen dann über den Umstand diskutieren, ob eine 300 Meter lange Leine den Zweck der Vorschrift noch erfüllt – und dann streitet man darüber, was denn genau der Zweck einer solchen Norm ist. Die Norm selbst sagt es nicht.

«Wir können gar nicht anders, als politisch und ideologisch zu urteilen.»

Martino Mona

Können Sie dieses Beispiel noch weiterspinnen?

Ja. Was ist, wenn jemand mit einem Leoparden in den Park kommt? Muss der auch an die Leine? Natürlich sind Leoparden gefährlicher als Hunde, und der Leopard müsste erst recht an die Leine. Der Verteidiger des Leopardenhalters sagt jedoch: Wie soll mein Klient denn wissen, dass auch sein Leopard an der Leine geführt werden muss? Da steht nur, dass Hunde an die Leine gehören. Und was ist mit einem Marder? Und dann spaziert noch ein Hund frei durch den Park, der aber blind ist, nur noch drei Beine und gar keine Zähne mehr hat … Sie sehen: Es explodiert in alle Richtungen. Das Gesetz ist, man muss fast sagen leider, in Worte gefasst, und Worte sind nun mal unpräzise, dehnbar und ambivalent. Sprache deutet nur an, was gemeint sein könnte, und schützt nicht vor Fehlern beim Denken. Wenn dann noch mehrere Gesetze und sich überschneidende Bereiche, etwa das Zivil- und das Strafrecht, zusammenkommen, wird diese Dynamik noch potenziert.

Haben Sie konkrete Ratschläge, wie man zu möglichst objektiven Urteilen gelangen kann?

Es gibt viele Menschen, auch in juristischen Berufen, die nicht wahrhaben wollen, dass das Gesetz diffus, ambivalent und vielschichtig ist. In dem Moment, wo man das realisiert, beginnt automatisch ein Prozess des kritischen Hinterfragens. Mein erster Tipp ist, zu akzeptieren, dass Gesetze nicht klar sind. Auch die moralische Erziehung und die Erfahrung helfen, eigene Vorurteile und Einstellungen zu hinterfragen.

Jede Richterin und jeder Richter bringt persönliche Einstellungen in einen Fall mit.

Ja, und wenn man keine eigenen Wertevorstellungen hätte, könnte man einen Fall auch nicht beurteilen. Wir können gar nicht anders, als ideologisch und politisch zu urteilen. Man muss sich am Ende aber fragen: «Habe ich den Fall jetzt nur so beurteilt, weil ich gewisse egoistische Präferenzen oder verwerfliche Kriterien anwende, die ich nicht anwenden sollte? Hätten andere auch so entschieden?» Dieser Mechanismus hilft, ungute Vorurteile egoistischer Natur zu reduzieren.

Wie objektiv können Sachverständige sein?

Es gibt leider Sachverständige, die ihre Fähigkeiten überschätzen. Problematisch ist vor allem, dass sie annehmen, sie seien weniger anfällig gegenüber kognitiven Verzerrungen. Das fördert unglückliche Urteile. Sachverständige müssen zum Beispiel einschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls ist. Da muss man spekulativ in die Zukunft denken. Menschen sind jedoch sehr schlecht darin, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen. Wenn man sich das eingesteht, urteilt man besser. Bloss fällt es vielen Sachverständigen schwer, sich das einzugestehen. Eine Form von narzisstischer Verblendung.

In manchen Ländern dürfen Richterinnen und Richter keiner politischen Partei angehören. Wer in der Schweiz Richterin oder Richter werden will, muss sogar einer Partei beitreten. Welche Auswirkungen hat das auf deren Entscheidungen?

Diese Eigenheit führt dazu, dass offengelegt wird, dass die Gerichte in der Schweiz selbstverständlich auch politisch urteilen. Das ist der Sinn und Zweck unseres Systems. Man will, dass die politische Grosswetterlage am Gericht abgebildet ist. Das Gesetz gibt vor, wo die äussersten Grenzen liegen. Aber zwischen diesen Grenzen liegt zuweilen ein riesiger Spielraum, in dem politisch und moralisch entschieden wird.

Der Glaube an die Richtigkeit eines Urteils ist in der Bevölkerung hoch. Ist dies gerechtfertigt?

Er ist gerechtfertigt, sofern der Prozess abläuft, wie ich das beschrieben habe. Wichtig ist, dass Offenheit, Raum für Korrekturen und Austausch besteht. Die Bevölkerung soll sehen, dass vor Gericht gestritten wird und unterschiedliche Positionen möglich sind. Starres Denken schadet einem gerechten Urteil viel mehr, als wenn man Zweifel zulässt und Korrekturen ermöglicht. Wichtig ist, dass am Ende eines Prozesses alle Beteiligten das Gefühl haben, dass es eine faire Auseinandersetzung war.

Zur Person

Martino Mona

ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie sowie Mitdirektor des Instituts für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. Den Titel «Beste Entscheidung seines Lebens» müssen sich unzählige Entschlüsse teilen: Bei keinem sei dies vorhersehbar gewesen, meist hätten ihnen Glück und Zufall dazu verholfen.

Entscheidung für – oder gegen – Reue

Den Titel «Beste Entscheidung seines Lebens» müssen sich unzählige Entschlüsse teilen: Bei keinem sei dies vorhersehbar gewesen, meist hätten ihnen Glück und Zufall dazu verholfen. Ob er eine Entscheidung heute bereue? Reue sei sinnlos und selbstsüchtig – bei Fehlverhalten Menschen gegenüber allerdings gut und wichtig. Die Frage, die zu entscheiden Mona täglich schwerfällt, sei: Gamen oder nicht gamen?

Kontakt

Prof. Dr. Martino Mona, martino.mona@krim.unibe.ch

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Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS zeigt viermal pro Jahr, was Wissenschaft zu leisten vermag. Jede Ausgabe fokussiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen thematischen Schwerpunkt und will so möglichst viel an Expertise und Forschungsergebnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bern zusammenführen.

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