Grosse Auswahl, grosses Unglück? Über die Tyrannei der Möglichkeiten

Der Schweizer Soziologe Peter Gross rief vor 30 Jahren die «Multioptionsgesellschaft» aus. Sein Zukunftsszenario einer von unzähligen Wahlmöglichkeiten überforderten Gesellschaft wurde zum Bestseller. Wo stehen wir heute? Wir haben bei Berner Fachleuten nachgefragt.

Ich bin höllisch im Verzug mit dem Text. Es lag nicht an der Recherche, die war inspirierend und facettenreich. Es lag wie so oft am Runterschreiben, am Destillieren und Konkretisieren. Aus dem gesammelten Potenzial aus Elementen, Zitaten, Gedanken muss ein stringenter Text werden, und das heisst eben auch: Aus vielen Optionen muss eine gewählt werden, das lose Geflecht verengt sich zu einem Band, dem entlang die Geschichte läuft. «Kill your darlings», wie ich im ersten Journalismuspraktikum schon gelernt hatte. Oder auch: «Kill your options.» Es ist ein Gefühl, das jede Journalistin, jeder Journalist nur zu gut kennt: Von jedem Text hätte es immer noch eine weit bessere Variante gegeben. Eine, die auch angelegt gewesen wäre im gesammelten Material. Aber es galt sich zu entscheiden, es galt wegzulassen, den einen richtigen Weg finden durch die Notizen. Auch wenn es den natürlich nicht gibt.

Der Schweizer Soziologe Peter Gross hat dem Unbehagen vor gut 30 Jahren einen prägnanten Namen gegeben: Wir leben in einer «Multioptionsgesellschaft», so nannte er sein Buch, das sogleich zu einem Bestseller wurde. «Wobei», gibt sein Kollege Christian Joppke von der Universität Bern zu bedenken, «menschliches Handeln beruht ja immer darauf, dass es mehrere Optionen gibt.» Insofern sei der Begriff auch ein wenig irreführend, im Grunde sei es doch einfach ein «anderes Wort für die Freiheit des Handelns».

Es gibt immer noch etwas Besseres

Freiheit zu handeln, Freiheit zu entscheiden: Es ist vielleicht das grosse Dilemma unserer Zeit. Denn man entscheidet sich ja bekanntlich nicht nur für eine beste Option, sondern gleichzeitig gegen jede Menge andere. Je mehr Auswahlmöglichkeiten man hat, desto mehr potenziell gute Möglichkeiten muss man über Bord werfen, wenn man sich festlegt. Hannah Arendt nannte es die «Tyrannei der Möglichkeiten». Stressfrei kann damit eigentlich nur umgehen, wer sich sicher sein kann, die absolut beste Möglichkeit zu finden. Bloss wie? Je zahlreicher die Optionen, umso stressiger das Leben?

«Die Chance, das für mich beste Produkt zu finden, ist bei grosser Auswahl tatsächlich am grössten.»

Claude Messner

Claude Messner, Direktor der Abteilung für Consumer Behavior an der Uni Bern, ist mit dem Kurzschluss nicht einverstanden, zumindest nicht aus Marketingsicht: Auswahl sei nicht per se schlecht. «Die Chance, das für mich beste Produkt zu finden, ist bei grosser Auswahl tatsächlich am grössten.» Im Prinzip wenigstens. Denn er schiebt gleich ein grosses Aber nach: unsere begrenzten Kapazitäten für die Informationsverarbeitung. «Bei den meisten Konsum-Entscheidungen haben wir es mit so vielen Informationen zu tun, dass wir sie nicht mehr gut verarbeiten können.» Die Folge ist Überforderung, die Konsumentin, der Konsument kommt zu keiner guten Entscheidung und hilft sich letztlich mit «Dann kaufe ich lieber gar nichts». Das wollen Marketingleute natürlich nicht, also studieren sie das Phänomen intensiv. So zeigten zum Beispiel Experimente, dass die gleiche Praline aus einer kleinen Auswahl besser schmeckt, als wenn man sie aus einer unüberschaubar grossen herauspicken musste. Berühmt wurde auch ein paradoxer Effekt einer Effizienzmassnahme: Als die Sortimentspalette der Head&Shoulders-Shampoos aufgeräumt wurde, ging die Marketingabteilung eigentlich von einem Umsatzrückgang aus. Passiert sei aber das Gegenteil, erzählt Messner: Die Konsumentinnen und Konsumenten fanden sich besser zurecht, die Verkaufszahlen stiegen sogar. Gleichzeitig sei unbestritten, dass sie eine grosse Auswahl mögen: Läden profitieren also davon, wenn sie eine Überfülle präsentieren; auf der Seite ist der Anreiz einer Verschlankung des Angebots eher klein.

Zur Person

Claude Messner

ist Professor für Consumer Behavior am Berner Institut für Marketing und Unternehmensführung. Seine beste Entscheidung im Leben war, mit seiner Frau eine Familie zu gründen.

Kaffee-Entscheidung

Kaffeeverzicht nach 16 Uhr ist eine Regel, die einzuhalten er täglich schwerlich entscheiden kann. Bitter bereut er, dass er am 7. Dezember 2011 Berufliches vorzog und im Stadion fehlte, als Basel Manchester aus der Champions League schoss.

Kontakt

Prof. Dr. Claude Messner, claude.messner@unibe.ch

Das Phänomen ist bekannt als Auswahlparadox, im Englischen auch «overchoice» oder «choice overload» genannt. Gross hatte mit seiner Multioptionsgesellschaft nicht unbedingt die überforderten Konsumentinnen und Kosumenten im Sinn, er meinte tatsächlich etwas Grundsätzlicheres: «Die Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten, die Optionensteigerung, ist der augenscheinlichste Vorgang der Modernisierung.» Er meinte also nicht die Überforderung vor zu vollen Regalen, er meinte eine grosse Rastlosigkeit, weil man auf nichts festgelegt ist: Hinter jeder guten Entscheidung wartet womöglich immer noch eine bessere Option. Der Mensch wird zum nie befriedigten Optimierer in eigener Sache. Mick Jagger kannte das Gefühl bekanntlich auch schon, 30 Jahre früher: «I can’t get no, oh, no, no, no, hey, hey, hey. That’s what I say.»

Mick Jagger kannte das Gefühl: «I can’t get no, oh, no, no, no, hey, hey, hey. That’s what I say.»

Das erinnert natürlich auch ein wenig an das (post-)moderne Paarungsverhalten, an Polyamorie, das «Ende der Ehe» (so ein aktueller Bestsellertitel) und Konsorten. Kann man sich überhaupt noch festlegen auf einen Partner, eine Partnerin, wenn es immer noch eine attraktiveren, erfolgreicheren, aufregenderen Person gibt, in Reichweite auf einem Datingportal? Das Phänomen ist als «partner choice overload» bekannt und lässt sich auf die Kurzformel bringen: Je mehr Partnerauswahl es gibt, desto weniger Liebesglück finden wir.

Psychische Krankheiten erschweren Entscheidungen

Was uns auch unglücklich macht: das Gefühl, etwas zu verpassen – «fear of missing out» auf Englisch oder im Internetkurzjargon: FOMO. Die Abkürzung steht für ein Grundgefühl des Jetzt – bin ich am rechten Ort? Sieht nicht das, was meine Freundinnen und Freunde gerade auf Instagram posten, viel schöner, spannender aus? Frage also an den Psychiatriefachmann: Gibt es schon so etwas wie ein FOMO-Syndrom, kann dieses Gefühl krankhaft werden? «Wir können im Moment nicht sagen, dass eine Vielzahl von Optionen Menschen psychisch krank machen würde», sagt Sebastian Walther, stellvertretender Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern. Als problematisch sieht er gleichwohl, «dass alle Aktivitäten einer dauerhaften Bewertung unterzogen werden und damit weniger wert erscheinen, weniger genossen werden können».

Psychiatrisch komplex werde es, wenn Menschen mit bereits bestehenden Erkrankungen betroffen sind. «Wenn Sie beispielsweise durch eine Depression, eine Persönlichkeitsstörung oder eine Zwangserkrankung bereits Mühe haben, Entscheidungen zu treffen, dann ist das Dauerangebot von Möglichkeiten sehr schwer zu handhaben.» Manchen Betroffenen würden sie in der Klinik dann empfehlen, sich ganz gezielt von Social Media oder Handy fernzuhalten, um funktionieren zu können.

Zur Person

Bild: zvg

Sebastian Walther

ist Chefarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Professor für Neurowissenschaft in Bern.

E-Mail-Entscheidung

Er nennt die Familiengründung seine beste Entscheidung. Vermutlich fällt es ihm deshalb so schwer, täglich zu entscheiden, ob er noch schnell eine E-Mail beantwortet oder lieber «gleich nach Hause geht». Jedenfalls erinnert er «keine aktive Entscheidung», die er bereut.

Kontakt

Prof. Dr. Sebastian Walther, sebastian.walther@unibe.ch

Natürlich: Das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite. Dafür hatte übrigens schon Gross’ Kollege, der Pole Zygmunt Bauman, ein schönes Bild parat: Für ihn war der Landstreicher die typische Figur der Moderne – wo wir gerade sind, denken wir schon an den nächsten Ort. Auch er beschrieb die Moderne als einen «besessenen Marsch nach vorne», der letztlich sinnlos sei, denn «kein Ort ist privilegiert, kein Ort besser als ein anderer, da von keinem Ort aus der Horizont näher ist als von jedem anderen». Gross selbst diagnostizierte in seinem Buch einen «tief in die modernen Gesellschaften eingemeisselte[n] und ins Herz des modernen Menschen implantierte[n] Wille[n] zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr. Auf dem Drang nach Mehr gründet die Moderne». Der Soziologe Christian Joppke ergänzt, dass dieser Marsch nach vorne sinnleer geworden sei, was eigentlich schon Marx genau so analysiert habe. Es sei doch das inhärent sinnleere Prinzip der kapitalistischen Warenproduktion, dass die Maschine läuft und läuft und «das einzige, was rauskommt, ist: mehr».

Claude Messner hatte sich an der Stelle übrigens zu einer Ehrenrettung des Marketings herausgefordert gefühlt: «Die Leute denken, dieses diene nur dazu, den Leuten Geld aus der Tasche zu ziehen.» Er sehe das anders: Menschen würden Konsumprodukte auch als Kommunikationsmittel nutzen, um ihre Interessen zu signalisieren, ja ihre Persönlichkeit zu konstituieren – Dinge als «extended self». Auch deshalb sei eine grosse Vielfalt an Produkten gut. «Welches ist die beste Pasta, welche Schleckerei hat die beste Süsse? Diese Frage gibt es im Marketing nicht. Wir gehen davon aus, dass sich Menschen in ihren Bedürfnissen unterscheiden. Und das ist etwas Tolles: Wo es eine Vielfalt an Lebensentwürfen gibt, da braucht es auch eine grosse Vielfalt an Produkten.»

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Ein Luxusproblem

Joppke hatte da wiederum einen etwas anderen Blick: «Es ist wohl ein bisschen veraltet, zu sagen, dass die ganze Gesellschaft in einem Multioptionszustand lebt.» Was Gross noch nicht habe einfangen können, sei eine verbreitete Abkehr von einem positiven Fortschrittsglauben, was damit zu tun habe, dass grosse Teile der Mittel- und Unterschicht in zahlreichen Ländern es inzwischen mit einer Einkommens- und Wohlstandsschrumpfung zu tun bekommen hätten. Der Glaube, dass ihre Kinder ein erfüllteres Leben führen können, sei erschüttert, an die Stelle des «Marschs nach vorne» sei ein «grosser Pessimismus» getreten, eine eigentliche «Fortschrittsangst». Die Multioptionsgesellschaft sei insofern eine Wohlstandsperspektive. Vielleicht zitiert man an der Stelle am besten den Ex-US-Präsidenten Obama, der sein Luxusproblem in einem «Vanity Fair»-Interview unlängst so beschrieben hat: «Sie werden feststellen, dass ich nur graue oder blaue Anzüge trage. Ich versuche, Entscheidungen zu reduzieren. Ich will keine Entscheidungen darüber treffen, was ich esse oder anziehe. Denn ich habe zu viele andere Entscheidungen zu treffen. Sie müssen Ihre Entscheidungsenergie bündeln. [...] Man darf sich nicht ständig von Kleinigkeiten ablenken lassen.» Christian Joppke würde wohl sagen: Für immer mehr Menschen sind das ganz und gar keine »Belanglosigkeiten».

«Es ist wohl ein bisschen veraltet, zu sagen, dass die ganze Gesellschaft in einem Multioptionszustand lebt.»

Christian Joppke

Zur Person

Bild: zvg

Christian Joppke

ist seit 2010 Professor für Soziologie in Bern, vorherige Stationen waren Paris, Vancouver, Florenz, Berkeley und andere.

Bier-Entscheidung

Nach Bern zu kommen aber nennt er die bislang beste Entscheidung seines Lebens. Der täglich neu gefasste Entschluss, kein Bier zu trinken, ist ihm wohl weniger lieb, denn das komme nicht vor. Schlicht vergessen habe er dafür solche Entscheidungen, die er heute bereuen müsste.

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Prof. Dr. Christian Joppke, christian.joppke@unibe.ch

Auch Sebastian Walther gibt zu bedenken, dass man sich «in Situationen, die wirtschaftlich weniger stabil sind als heute, diese vielen Optionen gar nicht leisten können wird». Mit Kulturpessimismus hat er ansonsten nicht viel am Hut: «Die Gesellschaften haben sich stets mit etwas Zeit an neue Technologien anpassen können. Ich würde davon ausgehen, dass die jungen Generationen Wege für einen praktikablen Umgang mit den technischen Möglichkeiten finden werden.»

Weniger Optionen, mehr Lebensqualität?

Auch Gross hoffte übrigens schon auf diese kommenden Generationen. Er ging davon aus, dass wir «ein anderes Verständnis des Möglichen, des Nicht, des Noch-nicht-Wirklichen» entwickeln müssen: «Vielleicht hilft eine noch unbekannte Generation, eine adäquate Beziehung zum Gegebenen zu finden.» Es wird vielleicht nicht die Social-Media-Generation sein, die steckt zu tief im FOMO. Aber warum nicht die Klimajugend? Weniger Optionen, weniger Konsum, weniger Offenheit – und auch Freiheit –, dafür mehr Fokus und bestenfalls auch mehr Lebensqualität: Gross hätte wohl gefallen, was da gepredigt wird an den Demos und Blockaden. Und das aus ganz anderen als aus Klimaschutzgründen.

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Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS zeigt viermal pro Jahr, was Wissenschaft zu leisten vermag. Jede Ausgabe fokussiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen thematischen Schwerpunkt und will so möglichst viel an Expertise und Forschungsergebnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bern zusammenführen.

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