(Kunst-)Zeuginnen und Zeugen gesucht!

Das Institut für Kunstgeschichte arbeitet in innovativer Weise die Geschichte der Schweizerischen Plastikausstellung Biel auf: Die Stadtbevölkerung wird aktiv beteiligt, um deren kollektive Kulturerfahrung zu sichern. Der Schweizerische Nationalfonds finanziert das vierjährige Citizen Science-Projekt.

An der ersten Ausgabe der Schweizerischen Plastikausstellung in Biel 1954 baut der Schweizer Bildhauer Walter Linck seine Brunnenskulptur «Fontaine» auf. Auch heute steht Lincks Skulptur noch im öffentlichen Raum, auf einem Schulhof in der Stadt Bern. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_M03-0221-0001

Bereits seit 1954 wird Biel alle vier bis fünf Jahre in den Sommermonaten zum Ort der Auseinandersetzung um Skulptur im öffentlichen Raum. Dann findet mitten in der Stadt eine neue Ausgabe der Schweizerischen Plastikausstellung (SPA) statt. Sie ist die wichtigste und langlebigste Freiluftausstellung ihrer Art hierzulande. Nur noch selten sind dabei klassische Werke in Marmor oder Bronze zu sehen. Vielmehr geht es inzwischen um die intensive Auseinandersetzung eines breiten Publikums mit urbanen Situationen, die von Skulpturen angestossen werden.

Dann wird der Bahnhofsvorplatz zur Versammlungsstätte auf Zeit – wie 2019, als Thomas Hirschhorn die verschiedenen Bürgerinitiativen Biels in seine Robert Walser Sculpture integrierte. Dann finden über die ganze Stadt verteilt Performances und Interventionen statt, manche in Kooperation mit der Stadtbevölkerung, manche als subtiler Eingriff in das urbane Stadtgefüge – wie 2009 und 2014 für die Ausgaben mit dem Titel Utopics und Le Mouvement. Dann wird verhandelt, welche Aufgaben einer vermeintlich elitären Gegenwartskunst in der Arbeiterstadt Biel zukommen – wie 1986, als das Ausstellungsmotto lautete: «Kunst in den Strassen – Kunst an Hauswänden – Kunst, die sich ins städtische Leben einmischt – Kunst, die im Wege steht.»

Testfeld Realität

Noch heute finden sich an allen Ecken Biels und darüber hinaus die Spuren der verschiedenen historischen Ausgaben. Denn die Ausstellungen gingen einher mit einer städtischen Ankaufspolitik, die das Image von Biel als Stadt der Moderne prägte. Diesen lesbaren Spuren der SPA geht nun das Institut für Kunstgeschichte an der Universität Bern nach. Dem Schweizerischen Nationalfonds ist die Aufarbeitung der Ausstellungsgeschichte eine Finanzierung über vier Jahre wert. Das Forschungsprojekt läuft unter dem Titel «Öffentlichkeiten der Kunst. Die Geschichte der Schweizerischen Plastikausstellung».

Das Projektteam des Instituts für Kunstgeschichte an der Universität Bern: Seraina Peer, Dr. Yvonne Schweizer, Nina Baumgartner, Christopher Kilchenmann und Prof. Dr. Peter J. Schneemann (v.l.n.r.). © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

Im Gegensatz zu den international viel beachteten, breit rezipierten Ausstellungen wie die documenta, die Skulptur Projekte Münster oder die Reihe Sonsbeek im niederländischen Arnhem blieb die SPA bisher weitgehend unerforscht. Erst ein einziges Mal war sie Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie: nachdem die Exponate der 1980er Ausgabe durch Teile der Stadtbevölkerung attackiert oder gar zerstört worden waren. Die Geschehnisse in der seinerzeit von hoher Arbeitslosigkeit gebeutelten Uhrenstadt analysierte der Genfer Kunsthistoriker Dario Gamboni in seinem Buch zum modernen Bildersturm. Und heute? Was bedeutet einer breiten Bevölkerung Kunst in Zeiten leerer Stadtkassen und zunehmender Privatisierung des öffentlichen Raums?

Eine Gegendokumentation zur professionellen Hochglanz-Dokumentation
 

Für das Berner Forschungsteam zeichnet das Ringen um eine breite gesellschaftliche Akzeptanz von Kunst die Besonderheit der SPA aus. Damit deren Geschichte anhand der Erfahrung der Öffentlichkeiten erzählt werden kann, ist das Forschungsprojekt derzeit auf der Suche nach Materialien aus privaten Fotoalben und nach persönlichen Erinnerungen. Schneemann verspricht sich davon Auskunft darüber, wie die verschiedenen Teilöffentlichkeiten die Ausstellung und die mit ihr zusammenhängenden Debatten wahrnehmen.

Eine Szene mit der Skulptur «Redner» vom Schweizer Bildhauer Kurt Laurenz Metzler im Hintergrund, aufgenommen im Jahr 1970. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Baumann, Heinz / Com_L19-0418-0003-0003

Dahinter steht ein Interesse für das Potenzial von Gegendokumentationen. Denn Ausstellungskataloge zeigen hochgradig inszenierte, bereinigte Hochglanzfotografien von Skulpturen, die sich gewissermassen im Dornröschenschlaf befinden: kein Publikum, keine Interaktion ist zu sehen. Diesen offiziellen Bildern ist also nicht zu entnehmen, wie sich die Kunst der Bevölkerung über die Ausstellungsdauer präsentiert, was im Stadtgefüge damit passiert und wie sich die Teilöffentlichkeiten jeweils zur Ausstellung verhalten. Hier existiert also eine Leerstelle: sie verraten selten etwas über die Wahrnehmung, Wertschätzung oder auch Ablehnung der Kunst durch das Publikum.

Citizen Science: Forschung zum Mitmachen per privater Datenspenden

Aus dem Interesse heraus, die Leerstellen der Archive sichtbar zu machen und zu schliessen, hat Yvonne Schweizer die interaktive Webseite publics-arts.ch erstellt, unterstützt von den Digital Humanities an der Universität Bern. Ab diesem Frühjahr können dort Materialien aus privaten Sammlungen zur Bieler Ausstellungsgeschichte hochgeladen werden. Veröffentlicht wird, was auf Urheberrechtsfragen geprüft wurde. Mit dem Launch dieses digitalen Bürger- und Bürgerinnenarchivs wird das Forschungsvorhaben zu einem Citizen Science-Projekt, weil sich die Bieler Bevölkerung am Prozess der Geschichtsschreibung beteiligen kann. So wird der partizipative Anspruch einer Ausstellung im öffentlichen Raum auch im Archiv sichtbar werden.

Die Startseite des digitalen Citizen Science Archivs publics-arts.ch existiert in deutscher und französischer Sprache. (Ausschnitt Screenshot)

Erfahrung mit partizipativen Citizen Science-Projekten sammelte Projektpartner Tobias Hodel mit der Webseite corona-memory.ch. Die Seite ist zu einem umfangreichen digitalen Erinnerungsraum der Pandemie herangewachsen, der langfristig zugänglich gemacht werden soll. Die dabei erprobten Methoden werden nun erstmals auf ein partizipatives Citizen Science-Projekt für den Kunstbereich übertragen. So versammelt die neu aufgeschaltete Webseite Fotografien, Statements, Tonaufnahmen, Gerüchte, Videos und Social Media-Beiträge. Gerade die Archivierung letzterer ist dringend und derzeit vieldiskutiert, denn die in den Sozialen Medien geteilten Inhalte zur SPA sind keineswegs auf Dauer gesichert.

Mit der Webseite publics-arts.ch wächst unter wissenschaftlicher Begleitung ein nachhaltiger Ort für all jene bisher nicht archivierten Erinnerungsstücke, die jede Ausstellungsbesucherin und jeder Ausstellungsbesucher besitzt: unerzählte Geschichten zu den Ausstellungen und Kunstwerken, ungewöhnliche fotografische Ansichten, Urban Myths und Gerüchte. Sie zeigen, dass eine Geschichte der öffentlichen Kunst nicht nur in den Archiven bewahrt wird. Sie lagert auch in den Gedächtnissen und den Speichermedien der Personen, die mit ihr leben.

Über das Forschungsprojekt «Öffentlichkeiten der Kunst. Die Geschichte der Schweizerischen Plastikausstellung (SPA)»

Das SNF-Projekt ist ein Forschungsvorhaben der Abteilung für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart des Instituts für Kunstgeschichte. Über den Zeitraum von vier Jahren (2022 bis 2026) thematisieren verschiedene Formate Leerstellen in der Ausstellungshistoriografie der grössten Schweizerischen Freiluftausstellung für Skulptur – und schliessen die Leerstellen. Ein erstes Angebot ist das digitale Bürger- und Bürgerinnenarchiv publics-arts.ch. Es folgen eine Ausstellung im Neuen Museum Biel (2024), Workshops und Tagungen (Oktober 2023 und 2025) sowie wissenschaftliche Publikationen (2026). Das dreiköpfige kunsthistorische Team – Peter J. Schneemann, Yvonne Schweizer und Seraina Peer – kooperiert dazu mit der Stiftung Schweizerische Plastikausstellung ESS-SPA, mit Forschenden aus den Digital Humanities, dem Museum und Archivwesen sowie der Kunstvermittlung.

Über das Institut für Kunstgeschichte

Das Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern mit seinen fünf Abteilungen (Ältere Kunstgeschichte, Kunstgeschichte der Neuzeit, Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart, Architekturgeschichte und Denkmalpflege, Geschichte der textilen Künste) erforscht und lehrt die europäische und nordamerikanische Kunst in ihrer gesamten Breite von der frühchristlichen Zeit bis in die Gegenwart sowie die moderne Kunstproduktion im globalen Massstab. Primäre Gegenstände sind die Kunstgattungen Architektur, Malerei, Skulptur und Kunsthandwerk (letzteres mit besonderem Schwerpunkt in den textilen Künsten), deren Untergattungen sowie Fotografie und Neue Medien. 

Das Online-Magazin der Universität Bern

uniAKTUELL als Newsletter abonnieren

Die Universität Bern betreibt Spitzenforschung zu Themen, die uns als Gesellschaft beschäftigen und unsere Zukunft prägen. Im uniAKTUELL zeigen wir ausgewählte Beispiele und stellen Ihnen die Menschen dahinter vor – packend, multimedial und kostenlos.

Oben