Künstliche Intelligenz wird die Lehre verändern, aber nicht verdrängen

Die Entwicklung textgenerierender Künstlicher Intelligenz (KI) verläuft rasant und wird Lehre und Forschung verändern. Wie genau, können wir noch nicht sagen. Die Universität ist der Hort der Reflexion des Neuen und soll sich entsprechend nicht vor Innovation fürchten, sondern sie vielmehr aufnehmen und nutzen.

Unsere Wissensgesellschaft erfährt durch die Digitalisierung eine disruptive Transformation. Um die Tiefe der Veränderung zu illustrieren, hat die emeritierte Harvard-Professorin Shoshana Zuboff ihr Erlebnis des Blitzeinschlags in ihr Haus als Metapher beigezogen. Im um sich greifenden Feuer schloss sie Türen und suchte noch Fotoalben zwecks Rettung zusammen, als ein Feuerwehrmann sie packte, nach draussen zog, worauf das ganze Haus in einem grossen Feuerball explodierte. Zuboff hatte sich an ihren Erfahrungen orientiert und schätzte deshalb die Bedrohung komplett falsch ein. Sie dachte, sie hätte Zeit, während sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr befand. Alles, was bis zum Blitz gegolten hatte, war auf einen Schlag obsolet. Denselben fundamentalen Einschnitt sieht sie in der Digitalisierung. Was bedeutet das für den universitären Unterricht? War ChatGPT der Blitz, der im November 2022 in die Hochschullehre eingeschlagen hat? Fliegt uns nun gleich das Haus um die Ohren?

Menschen finden Antworten

Ich tendiere dazu, diese Frage zu verneinen. Wenig eignet sich besser für Dystopien als die Wortkombination von «künstlich» und «Intelligenz». Die menschliche Psyche lässt uns Ängste höher gewichten als Hoffnungen, und die grösste Angst betrifft jede Art von Verlust. «Künstlich» ist der Gegenpol zu «menschlich», und «Intelligenz» impliziert «intelligenter als wir». Die Furcht vor der KI gilt dem potenziellen Kontrollverlust des Menschen gegenüber der Maschine. Die Dystopie geht allerdings immer davon aus, dass die Menschen nicht auf die Neuerung reagieren, sondern reine Objekte einer Entwicklung ausserhalb ihres Einflusses bleiben.

Wir sind aber Subjekte, und die Geschichte zeigt, dass wir Antworten finden auf technische Umbrüche. Die Universität ist der geeignete Ort, um diese Antworten anzudenken, auszutesten und zu reflektieren. Hier finden die besten Geister zusammen, um die Gesellschaft voranzubringen. Die Universität Bern hat das Thema «Mensch in der digitalen Transformation» entsprechend als Schwerpunkt in die Strategie 2030 aufgenommen, und hierzu gehört der Umgang mit den neuen Möglichkeiten durch KI.

Die Diskussion wird aktuell stark von der rasenden Entwicklung der KI vor sich hergetrieben. Um vom reaktiven Modus zurück in den aktiven Modus zu finden, kann es nicht schaden, einen Schritt zurückzutreten und die zu diskutierende Frage kurz zu reflektieren. Die organisationswissenschaftliche Entscheidungstheorie bietet uns hier mit dem sogenannten «Garbage Can Model of Organizational Choice» eine hilfreiche Perspektive. Der Ansatz geht von beschränkter Rationalität aus und stellt deshalb die funktionale Logik von Entscheidungen infrage, die besagt, dass Lösungen geschaffen werden, um Probleme zu lösen. Vielmehr geht der Ansatz davon aus, dass Lösungen und Probleme unabhängig voneinander existieren und nur unter bestimmten situativen Bedingungen gekoppelt werden. Es gibt also Lösungen auf der Suche nach Problemen, die sie lösen könnten. Ich denke, das ist eine gute Sichtweise auf unsere Herausforderung: ChatGPT ist die Lösung, aber für welches Problem?

KI bringt Disziplinen zusammen

Diese Frage scheint in der laufenden Debatte noch nicht geklärt, weder für die universitäre Lehre noch für die Forschung generell. Der Perspektiventag zu «Interaktiven Sprachmodellen in Lehre und Forschung», der an der Universität Bern am 21. April 2023 stattfand, hat wichtige Erkenntnisse und Einsichten geliefert, die für die weitere Diskussion berücksichtigt werden wollen.

«Der Mensch will etwas schaffen. Daran ändert auch die KI nichts.»

Fritz Sager

Eine erste Erkenntnis lautet, dass die Maschine bei all ihren beeindruckenden Fähigkeiten zwar noch beruhigend blöd ist, dass das aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so bleiben wird. Die Art, wie wir die heutige KI nutzen können, wird nicht die Nutzung von morgen sein. Die Entwicklung wird nicht aufhören, und wir tun gut daran, uns eine gewisse geistige Flexibilität anzueignen.

Eine zweite Erkenntnis ist, dass KI die akademischen Disziplinen zusammenbringt, indem sie alle vor gemeinsame Herausforderungen stellt. Die Antworten werden unterschiedlich ausfallen müssen, aber es gibt kein Fach, das sich den Fragen der KI entziehen kann.

Drittens ist die Lehre nicht isoliert, die neuen Möglichkeiten verändern auch die Forschung generell. Was bei Lernkontrollen die Frage der Eigenleistung ist, findet sich auf einem weiteren Skalenniveau in der Forschung, wo die traditionelle Publikation mit identifizierbarer Autorinnen- und Autorenschaft neu definiert werden muss.

Eine vierte Erkenntnis halte ich für besonders wichtig. Der Mensch will etwas schaffen. Daran ändert auch die KI nichts. Die Studierenden waren denn am Perspektiventag auch diejenigen, die der KI besonders zurückhaltend gegenübertraten, stellt sie doch ihre eigene Leistung infrage. Der menschliche Schaffenswille wird sich die KI zunutze machen, aber er wird durch sie nicht ersetzt werden.

Zur Person

Prof. Dr. Fritz Sager

ist Vizerektor Lehre und Professor für Politikwissenschaft am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern. Seine Schwerpunkte sind die Umsetzung und Wirkung öffentlicher Politiken, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik und die politische Rolle der Verwaltung.

Kontakt:

Prof. Dr. Fritz Sager

fritz.sager@unibe.ch

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