Kindswegnahmen bei Jenischen: die Rolle der Kirche

Katholische Institutionen waren aktiver in Kindswegnahmen aus jenischen Familien involviert als bisher bekannt, zeigt eine religionswissenschaftlich-zeitgeschichtliche Dissertation zum Thema. Die antiziganistisch motivierten Aktivitäten hatten grundlegende Auswirkungen auf die Religiosität von Jenischen.

Von Carla Hagen 08. Februar 2023

Szene aus der jährlichen Wallfahrt der Jenischen zum Kloster Einsiedeln, ungefähr im Jahr 2000. © Bildarchiv Radgenossenschaft der Landstrasse / Urs Walder
Szene aus der jährlichen Wallfahrt der Jenischen zum Kloster Einsiedeln, ungefähr im Jahr 2000. © Bildarchiv Radgenossenschaft der Landstrasse / Urs Walder

Im Frühjahr 1961 macht sich eine Fürsorgerin des katholischen Drittordens Seraphisches Liebeswerk (SLW) in Begleitung einer Polizeiassistentin auf den Weg zum Wohnwagen der Familie Gottier. Vier Kinder zwischen vier und sieben Jahren werden von ihren jenischen Eltern getrennt und in ein Kinderheim gebracht. Die Fürsorgerin berichtet anschliessend, die Kinder hätten «wirklich wie die Korberkinder» ausgesehen, auch ihr «Gebaren» sei entsprechend gewesen. Die Kinder kehren nie wieder zu ihren Eltern zurück.

Wie die noch unveröffentlichte Studie «Bekenntnisse zum (Un-)Glauben. Jenische, Seraphische Liebeswerke und Religion in der Schweiz des 20. Jahrhunderts» zeigt, waren die SLW aktiver in die Kindswegnahmen aus jenischen Familien eingebunden als bisher angenommen. Zudem wurde deutlich – und auch dies widerspricht in neuster Zeit gemachten Aussagen von hochrangigen Mitgliedern der SLW –, dass sie dabei zwar mehrheitlich im Auftrag der Gemeinde handelten, aber die Kindswegnahmen teilweise auch wider die Empfehlungen der Gemeindebehörden durchführten.

Katholische Institutionen suchten zeitweise proaktiv nach entsprechenden «gefährdeten» Kindern und Jugendlichen, indem Pfarrpersonen wie auch Gemeindevertreterinnen und Gemeindevertreter offensiv angeschrieben, Druck auf die betroffenen Familien ausgeübt und rechtliche Mittel ergriffen wurden, um das Anliegen der «Rettung von gefährdeten Kindern» durchzusetzen.

Jenische als «besondere Menschengattung»

In den über ihre Kinder angelegten Akten wurden Jenische als homogene Einheit – als «besondere Menschengattung» – aufgefasst, die sich durch einen pathologischen Charakter und eine «unstete Lebensweise» konstituierte. Den Eltern attestierte man eine grundlegende triebhafte Veranlagung, die sich in gewalttätigem Verhalten, einer rein auf dem Lustprinzip basierenden Arbeitshaltung sowie einer ausschweifenden, hemmungslosen und abnormen Sexualität zeigen würde. Sie galten als minderbegabt und wurden als «schmutzig» empfunden, sowohl körperlich als auch im Sinne von hinterlistiger Manipulation anderer.

Auszug aus der Akte eines jenischen Kindes, 1961: Die Berichterstattung über jenische Eltern war geprägt von antiziganistischen Stereotypen. Gerüchte und Mutmassungen wurden ungeprüft zu Fakten, die weitreichende Auswirkungen auf das Leben der jenischen Eltern und ihrer Kinder hatte.
Auszug aus der Akte eines jenischen Kindes, 1961: Die Berichterstattung über jenische Eltern war geprägt von antiziganistischen Stereotypen. Gerüchte und Mutmassungen wurden ungeprüft zu Fakten, die weitreichende Auswirkungen auf das Leben der jenischen Eltern und ihrer Kinder hatte.

Auch von den Kindern erwartete man bereits, dass sich von klein auf ihre angeblichen diebischen, lügnerischen, arbeitsscheuen und gewalttätigen Veranlagungen zeigen. In religiöser Hinsicht wurde ihnen aufgrund ihres «angeborenen Zigeunerbluts» radikaler Opportunismus vorgeworfen: Falls sie denn einer Konfession angehörten, würde dies nicht ihrer aufrichtigen religiösen Gesinnung entsprechen, sondern der Täuschung dienen.

Die seraphische Auffassung der Jenischen sowie auch die im Zusammenhang mit ihnen verwendete Wortwahl erinnern an den «Menschenschlag», wie ihn der nationalsozialistische Rassentheoretiker Robert Ritter definierte. Die Differenz zwischen Jenischen und «korrekten, brauchbaren Menschen» wurde allerdings in den SLW nicht rein eugenisch, sondern mit einem Mischansatz aus erblicher Veranlagung und Milieutheorie begründet. Die darauf basierende Logik erlaubte es, die Kindswegnahmen, die strenge religiöse Erziehung, aber auch ein Scheitern derselben zu legitimieren.

Nachwirkungen auf die religiöse Praxis von Jenischen

Erfahrungen, die Jenische im 20. Jahrhundert mit bestimmten kirchlichen Institutionen und Akteuren gemacht haben, waren auch für die individuelle religiöse Praxis der betroffenen Generation sowie ihrer Nachkommen von zentraler Bedeutung. Unabhängig vom Ausmass der Eingriffe in die persönliche Biografie standen und stehen jenische Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vor der Herausforderung, diese Ereignisse einzuordnen und eine stimmige Religiosität zu entwickeln.

Zudem stellt sich ihnen bis heute die damit zusammenhängende grundlegende Frage, was es bedeutet, jenisch zu sein, und inwiefern sie sich selbst als Jenische wahrnehmen. Waren Jenische Ungläubige, wie die seraphischen Fürsorgerinnen glaubten? Oder verfügten sie über magische Kräfte und lebten eine «Religion der Lebenslust», wie ihnen populärwissenschaftliche Publikationen bis in die 1980er Jahre hinein nachsagten? Jenische Religiosität wurde bisher nicht empirisch untersucht, und doch äusserten sich verschiedene Studien bis weit ins 20. Jahrhundert mit despektierlichen Aussagen über sie.  

Unter den weitgehend katholischen Jenischen in der Schweiz setzte in den 1980er Jahren eine Konversionswelle zur aus Frankreich stammenden evangelikalen «Zigeunermission» ein. Heute lebt nur eine kleine Gruppe Jenischer eine Art institutionellen Katholizismus, wie aus den Interviews mit jenischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hervorging. Die jenische Lebensweise ist für sie eng verbunden mit religiösen Praktiken, die soziale wie alltagspraktische Funktionen übernehmen.

Andersherum werden Religionspraktiken in diesem Milieu auch stark vom Selbstverständnis als Jenische geprägt. So organisieren sie beispielsweise zusammen mit der Katholischen Fahrendenseelsorge – welche die katholische Kirche nicht zuletzt als Reaktion auf die zunehmenden Konversionen gegründet hat – jährlich die Wallfahrt zur Schwarzen Madonna in Einsiedeln. Dieser Anlass hat jenischer Religiosität in den letzten Jahren zwar mediale Aufmerksamkeit beschert, doch distanzieren sich heute tatsächlich die meisten Jenischen vom Katholizismus, von der Kirche oder auch von Religion generell. Das Spektrum reicht von der Haltung, Religion als wertgeschätzte Nebensache anzusehen, bis zu derjenigen, Religion vehement abzulehnen. Diese Entwicklungen folgen einerseits dem generellen Trend der Kirchenflucht, stehen andererseits jedoch auch im Zusammenhang mit den zwanghaften Versuchen, Jenische zu «guten Christen» zu erziehen: Je mehr sie einer strengen katholischen Erziehung unterworfen waren, desto radikaler wandten sie sich vom Glauben ab und bekennen sich heute zum «Unglauben».

Seit Ende letzten Jahres werden die thematisch verwandten Resultate des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» (NFP 76), publiziert. Dessen Ergebnisse werden durch die hier vorgestellte Studie ergänzt, wobei diese auch neue Blicke auf die Thematik des Antiziganismus erlaubt. Die spezifische Form des Rassismus, die sich gegen Menschen richtet, die als «Zigeuner» stigmatisiert werden, erfordert eine Auseinandersetzung mit antiziganistischen Stereotypen in (Wissenschafts-)Geschichte, Sprache und Kultur sowie in eigenen Wahrnehmungs- und Denkmustern.

Dr. Carla Hagen verfasste die noch unveröffentlichte Studie «Bekenntnisse zum (Un-)Glauben. Jenische, Seraphische Liebeswerke und Religion in der Schweiz des 20. Jahrhunderts» im Rahmen ihrer Dissertation. © zvg
Dr. Carla Hagen verfasste die noch unveröffentlichte Studie «Bekenntnisse zum (Un-)Glauben. Jenische, Seraphische Liebeswerke und Religion in der Schweiz des 20. Jahrhunderts» im Rahmen ihrer Dissertation. © zvg

Die Studie verfolgt die Spur antiziganistischer Strukturen und Bilder in historischen Dokumenten und thematisiert im Prozess der Interviews und deren Deutung internalisierte Rassismen. Dies sind Mechanismen, die darauf hinweisen, dass die antiziganistische Diskriminierung fortbesteht und im Alltag von Jenischen nach wie vor ein aktuelles Thema ist. In Medien, Schulen, in der Politik und Wissenschaft wird dies selten thematisiert. Einen Anlass, sich hierzu Gedanken zu machen, könnte die Aktionswoche der Stadt Bern gegen Rassismus bieten (18. bis 25.3.2023).

Zur Autorin

Dr. Carla Hagen ist seit Februar 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im NFP80-Projekt «How Worldviews Shape Social Responsibility: Religious and Secular Narratives of the Body, the Virus, and the State in the Covid-19 Crisis» am religionswissenschaftlichen Institut an der Universität Bern. Ihre Dissertation, die in Kürze erscheinen wird, hat sie am Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Universität Fribourg verfasst und im März 2022 eingereicht.

Über das Institut für Religionswissenschaft

Religionen als gesellschaftsgestaltende Kräfte spielen heute in lokalen wie globalen Kontexten eine immer bedeutsamere Rolle — so bestimmen beispielsweise religiöse Semantiken zunehmend die aktuelle Tagespolitik. Eine theoretische und empirische Auseinandersetzung mit dem Thema Religion ist somit die zentrale Aufgabe der Religionswissenschaft: Sie beschäftigt sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mit Religion in ihren kulturellen, sozialen und historischen Kontexten, indem sie sich ihrem Gegenstand von einer Aussenperspektive her nähert. Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft erforscht damit nicht «die Religion» als eine hinter verschiedenen Phänomenen verborgene Wahrheit, sondern von Menschen entworfene religiöse Weltdeutungen in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen. Am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bern sind zwei Disziplinen in Forschung und Lehre vertreten: Religionswissenschaft und Zentralasiatische Kulturwissenschaft.

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