Wie Rausch erste religiöse Gemeinschaften schuf

In der Frühzeit der Menschheit halfen gemeinsame Rauschzustände, aus Einzelnen besser überlebensfähige Kollektive zu formen, sagt Jens Schlieter, der den Zusammenhang von Religion, Drogen und Rausch erforscht. Kann Rausch auch heute noch hilfreich sein?

Wie kommt es, dass Sie sich als Religionswissenschaftler für Rauschmittel interessieren?

Jens Schlieter: Mein Interesse wurde durch Schilderungen von Nahtoderfahrungen geweckt. Viele Nahtoderfahrungen sind in Rauschzuständen gemacht worden. Bei seinem ersten Selbstversuch mit LSD hatte dessen Entdecker, der Schweizer Chemiker Albert Hofmann, den Eindruck, dass er in einem Zwischenbereich von Leben und Tod schwebe. Bei weiteren Versuchen ist er in tief beglückende Zustände gelangt, sodass er zeitlebens daran festgehalten hat, dass solche Zustände für interessierte, intellektuell ausgerichtete Menschen zu Zwecken der Selbsterforschung oder aber auch der Psychotherapie erlaubt bleiben sollen. Das Faktum, dass das, was Menschen in Nahtoderfahrungen als Vision berichten, auch von Rauschzuständen durch Drogen berichtet wird, hat mich nach dem Zusammenhang zwischen Religion und psychoaktiven Substanzen forschen lassen.

Wie hängen denn Rauschzustände und religiöse Visionen zusammen?

Mich interessiert zunächst, ob Menschen, die ganz ohne religiöse Sozialisation sind, überhaupt Rauschvisionen haben, die spirituell bedeutsam sind. Kinder und Jugendliche, die in visionären Religionsgemeinschaften sozialisiert werden, berichten, ohne psychoaktive Substanzen genommen zu haben, von emotional intensiven Erfahrungen des übersteigerten Glücks, von veränderten Wahrnehmungen oder davon, in einer Situation ganz aufzugehen. Ich gehe davon aus, dass spirituell ausgerichtete Menschen, die das als positiv in Erinnerung haben, später vermehrt psychoaktive Substanzen einsetzen könnten, um erneut zu diesen früher erlebten Zuständen zu gelangen. John C. Lilly, ein amerikanischer Mediziner und spiritueller Neoschamane, berichtet in seiner Autobiografie, dass er unter LSD an seine fromme katholische Jugend erinnert wurde und das Gefühl hatte, in einer Kirche niederzuknien, um sich wie damals dem Göttlichen nahe zu fühlen. Für ihn waren die mystischen Erfahrungen seiner Jugend der Ausgangspunkt, um seine Rauscherfahrung einordnen zu können.

«Rauschzustände wurden seit Menschengedenken gesucht, um die Realität auf Abstand zu halten.»

Jens Schlieter

Wie lässt sich ein Rauscherlebnis von der Realität abgrenzen?

Über den Rausch ergeben sich spektakuläre Wirkungen wie veränderte Raum- und Zeitwahrnehmung, Halluzinationen und visionäre Täuschungen. In Abgrenzung dazu würde ich von einem Realitätsbegriff ausgehen, der Realität als das Übermächtige beschreibt, zu dem Menschen sich verhalten müssen. Der amerikanische Science-Fiction-Autor Philip K. Dick hat folgende Realitätsdefinition aufgestellt: «Realität ist das, was, wenn du aufhörst, daran zu glauben, trotzdem nicht weggeht.» Von der Wahrnehmung der Realität abweichende Zustände werden in der Differenz zum Alltagsbewusstsein definiert. In diesem sind wir darauf angewiesen, dass wir alle den Alltag auf eine ähnliche Weise empfinden, beispielsweise für die Koordination von Arbeitsprozessen, Verabredungen und so weiter.

Was bringt es einem Menschen, sein Alltagsbewusstsein zu verlassen?

Rauscherfahrungen werden als Mittel betrachtet, die in die Tiefendimension der Welt und der eigenen Person hineinführen. Zugleich wurden Rauschzustände seit Menschengedenken gesucht, um die oftmals übermächtig wirkende Realität auf Abstand zu halten. Gewisse religiöse Prozesse haben hier Ähnlichkeiten. Denn auch sie streben nach einer Überwindung des Alltäglichen. Religion und Rausch können eine Sehnsucht artikulieren – einerseits, um in unbekannte Bereiche vorzustossen, und andererseits, um sich von durch Endlichkeit bestimmte Emotionen zu distanzieren.

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Wie wirken sich kollektive Rauschzustände auf eine Gruppe aus?

Der französische Soziologe Emile Durkheim ging davon aus, dass das Rauscherleben wie ein kollektives Aufschäumen beschrieben werden kann. Rauschzustände führten in der Frühzeit dazu, dass eine Gemeinschaft ihre Wahrnehmung verlor, eine Ansammlung von einzelnen Menschen zu sein, und zu einem kollektiven Ganzen wurde. Im Ausleben eines kollektiven Rauschs fühlt sich die Gemeinschaft emotional verbunden. Dies ist für die gemeinsame Identitätsbildung wichtig. Gemeinschaften, die das vermögen, hat Durkheim in der Frühphase der Menschheitsentwicklung als besser überlebensfähig erachtet.

Hängt denn die Bildung religiöser Gemeinschaften mit dem visionären Rausch zusammen?

Menschen haben wohl immer schon psychoaktive Substanzen zu sich genommen. Man weiss von frühen Vorkommnissen des Genusses von Psilocybinpilzen und Peyotekakteen in Nordamerika. Auch in der Fauna kann man beobachten, dass sich Tiere, zum Beispiel Schimpansen in Guinea, an vergorenem Palmsaft berauschen. Sollte die Hypothese stimmen, dass die Praktiken der Schamanen in der frühen Menschheitsgeschichte Eurasiens die ältesten greifbaren religiösen Praktiken darstellen, dann könnten auch hier schon Rauschmittel eine Rolle gespielt haben. Höhlenmalereien und anderes zeigen, dass Schamanisierende Seelenreisen unternommen haben. Die am Rausch Beteiligten glaubten, sich zum Beispiel in Vögel zu verwandeln, um in Kontakt mit positiven sowie negativen Mächten zu kommen, um letztlich Krankheiten von der Gemeinschaft abzuwenden. Oder um Einzelne zu heilen. Weil es in dieser Phase der Menschheitsentwicklung noch kein Verständnis von Alltagswelt, sondern nur eine einzige grosse Welt gab, war das Wunderhafte wie Bedrohliche des Rausches Ausdruck dieser Welt, zu der auch übermächtige Ereignisse wie etwa Erdbeben gehörten.

Welche frühesten Beschreibungen von Rauschzuständen gibt es als Quellen?

In der indischen Tradition wird Soma, zugleich ein Getränk und eine Gottheit, in den Gesängen des Rigveda beschrieben, der zu den ältesten Überlieferungen der indischen Tradition zählt. In diesen Gesängen werden offenkundig psychedelische Rauschzustände präzise beschrieben. In einem Gesang sagt eine berauschte Person, dass sie nach dem Genuss von Soma fliegt und sich ihre «Flügel ausbreiten, einer von ihnen berührt die Erde, der andere den Himmel». Dabei wird in der Beschreibung deutlich, dass man sich klar darüber war, dass diese Zustände in den dem Trunk zugeführten Substanzen begründet liegen. Interessant daran ist, dass diese Wirkung in einem religiösen Zusammenhang steht. Der Soma-Trunk wird als das Göttliche verstanden, und sein ritueller Gebrauch bedeutet, dass man diese göttliche Stärke in sich aufnimmt.

Zur Person

Jens Schlieter

hat Philosophie, Vergleichende Religionswissenschaft, Tibetologie und Buddhismuskunde in Bonn und Wien studiert. Seit Juni 2009 ausserordentlicher Professor für systematische Religionswissenschaft an der Universität Bern. Er befasst sich unter anderem mit Ideengeschichte und Ethik des Buddhismus, Theorie der Religion sowie Theorie aussergewöhnlicher Erfahrungen.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Jens Schlieter

jens.schlieter@unibe.ch

Göttliche Stärke also als ein Ausdruck des Gefühls, berauscht zu sein?

Ja, neben den erwähnten Wirkungen ist ein sehr bedeutsames Moment psychoaktiver Substanzen, dass sich die Emotionalität verändert. Viele werden etwa sehr empfänglich für Musik, insbesondere für rhythmische Musik. Es ist wahrscheinlich, dass sich in der Frühphase der Religionsentwicklung die menschliche Emotionalität über die Rauschwirkung vertiefen konnte. Und dass diese entgrenzenden und die Vereinzelung aufhebenden Wirkungen massgeblich zur religiösen Weltsicht einer Gruppierung beigetragen haben. Auf die veränderte Emotionalität richtet sich auch die Aufmerksamkeit von heutigen Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Sie wollen psychedelische Substanzen einsetzen, in der Hoffnung, dass beispielsweise blockierte traumatisierende Erfahrungen erneut durchlebt werden können, aber ohne die begleitende Emotionalität, sodass sich Zustände erreichen lassen, in denen Menschen unter kontrollierter Substanzgabe in der Lage sind, Erinnerungen zu besprechen und zu wiederholen, ohne in eine Retraumatisierung zu verfallen.

Knüpft die begleitete Einnahme von LSD oder anderen Psychedelika in einer Psychotherapie an religiöse Vorstellungen an?

Viele religiöse oder philosophische Lehren verbinden mit Weisheit, sich selbst möglichst genau zu kennen. Dazu gehört, einen Blick wie von aussen auf sich zu werfen und in Erfahrung zu bringen, wie Wut oder Ärger entsteht. Wer die Entstehungsphase dieser Gefühle in sich genau beobachten kann, kann versuchen, diese Prozesse zu steuern. Und zwar zu einem Zeitpunkt, wo es noch möglich ist, negative Gefühle zu unterbrechen, weil die allerersten Anzeichen in diesem Prozess sichtbar geworden sind. Dazu dient die subjektive Verlangsamung der Zeit, um möglichst automatisierte Antworten auf Prozesse zu vermeiden, in denen man nicht länger die Hoheit hat. In einem psychedelischen Rauschzustand können sich viele offenbar einer solchen intensiven Selbstbeobachtung widmen. Die Prozesse sind anscheinend so verlangsamt, dass die Entstehung von Gefühlen und von Wahrnehmungen besser beobachtet werden kann. In asiatischen Kultivierungspraktiken dienen bestimmte Meditationen diesem Zweck, aber substanzfrei.

Gibt es denn Religionen, die dem Rausch gar keine positive Wirkung zuschreiben?

Eine rauschkritische Tradition ist der Buddhismus mit fünf Geboten, an die sich jeder Laienbuddhist und erst recht Mönche und Nonnen halten müssen. Eines lautet, keine berauschenden Getränke zu sich zu nehmen. Wobei im Buddhismus der tantrischen Tradition der Gebrauch von Rauschmitteln in kultischen Zusammenhängen gestattet worden ist. Im Islam wurde bereits in früher Zeit ein Alkoholverbot ausgesprochen. Es gibt schon im Koran alkoholkritische Stellen, und andererseits Passagen, in denen Wein geschätzt wird. Alkohol galt aber zumeist als enthemmend und unrein, vor allem im Rahmen der Gebete. In der osmanischen Zeit wurden vermehrt Opium und Haschisch eingenommen. Gerade um eine Begegnung mit Gott oder dem Göttlichen hervorzurufen, sind im zeremoniellen Umgang oft solche psychoaktiven Substanzen eingesetzt worden, die im Gegensatz zu Alkohol das beobachtende Bewusstsein und das Erinnerungsvermögen weniger stark beeinträchtigen.

Warum ist im Christentum der Wein so präsent?

Wein wurde in der christlichen Religion schon früh mit geselligen Festen verbunden. Das erste Wunder von Jesus, Wasser in Wein zu verwandeln, geschah im Rahmen eines rauschenden Festes und besetzte damit indirekt auch Alkohol positiv. Ebenso die christliche Wandlungszeremonie mit Wein als Blut Christi zeugt hiervon. Seit der Frühzeit wurde der Wein in verschiedensten monotheistischen Traditionen hochgeschätzt, aber auch kritisch gesehen, als Aggressionen auslösend. In der christlichen Tradition waren asketisch ausgerichtete Kirchenväter oder die Reformatoren Luther und Zwingli kritisch eingestellt. Das Merkmal der Sucht oder Abhängigkeit galt interessanterweise jedoch nicht als entscheidend, vielleicht, weil sich der religiöse Umgang mit Alkohol im ritualisierten Gebrauch an Festtagszeiten klar vom Alltagsgebrauch unterschied und sich dadurch Abhängigkeiten seltener einstellten.

Könnten sich im Zusammenhang mit liberalisiertem Drogenkonsum erneut religiöse Gruppierungen bilden?

Aufgrund der voranschreitenden Individualisierung und Säkularisierung würde ich nicht davon ausgehen, dass heutzutage Rauschmittel und Rauschzustände im Kern neuer Gemeinschaftsbildungen stehen. Denn die Individualisierung in der Gesellschaft ist zu weit vorangeschritten, und wir wissen von der pharmakologischen Forschung psychoaktiver Substanzen, dass Rauschwirkungen unterschiedlich ausfallen, wahrscheinlich viel unterschiedlicher als in der Frühzeit.

Lässt sich das noch ein wenig ausführen?

Rauschwirkungen sind im gesteigerten Individualismus so unterschiedlich, dass eine Vergemeinschaftung allein um den Rauschmittelgenuss herum nicht mehr möglich scheint. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Rausch zunehmend für didaktische oder explorative Zwecke eingesetzt wird, in Gemeinschaften, die schon bestehen. Aber die Wirkung eines Rausches ist in unserer Gesellschaft eher als zentrifugal zu sehen, auch als betäubend und vereinzelnd, wie in der Opioidkrise in den USA. Und nicht als bündelnd wie noch in der Frühzeit. Schon seit den 1960er-Jahren suchen Menschen über den psychedelischen Rausch nach Einsichten in und über ihr Selbst oder um zu ästhetischer, künstlerischer Inspiration oder intensivem Glücksempfinden zu gelangen. Dieser Wunsch nach Rausch ist in westlichen Gesellschaften damit eher als Ausdruck einer Suche nach individuellen Lebensformen zu verstehen – oder eben jüngst auch in therapeutischer Begleitung als Mittel zur Wiederherstellung der psychischen Gesundheit.

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