Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen?

Der freie Wille begründet in der Rechtswissenschaft die individuelle Verantwortlichkeit, die Philosophie hinterfragt dagegen seine Existenz, während die Psychologie empirisch untersucht, wie wir zu Entscheidungen gelangen. Nur ein interdisziplinärer Blick erlaubt eine ganzheitliche Sicht auf die Frage der Willensfreiheit.

Nach dem Mittagessen stehe ich im Uni-Café für einen Kaffee an. Während ich warte, taucht in meinem Kopf eine verlockende Frage auf, die Sie vielleicht auch von sich selbst kennen: Soll ich zum Kaffee noch ein Dessert nehmen? Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, weniger Süsses zu essen. Aber als ich an der Reihe bin, kaufe ich trotz besserem Wissen einen Riegel Schokolade. Täglich treffen wir viele kleine und grosse Entscheidungen, manche auch gegen unsere besten Interessen. Doch unter welchen Voraussetzungen sind unsere Entscheidungen wirklich frei und selbstverantwortlich? Braucht es dafür bestimmte Entscheidungsfähigkeiten? Diese und ähnliche Fragen haben mich schon während meines Jus-Studiums fasziniert. In meiner interdisziplinären Dissertation habe ich mich daher intensiv mit der Frage beschäftigt, ob und wie lange Menschen trotz einer Demenzerkrankung noch in der Lage sein können, rechtlich wirksame Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel ein gültiges Testament aufzusetzen.

Willensfreiheit – ein rechtliches Prinzip

Unsere Rechtsordnung geht davon aus, dass Individuen grundsätzlich eigenständige Entscheidungen treffen können. Dies spiegelt sich bereits in der Vertragsfreiheit wider, die es uns erlaubt, Verträge mit Personen unserer Wahl abzuschliessen, selbst wenn diese Verträge unseren eigenen Interessen widersprechen. Allerdings sind Verträge dann nichtig, wenn rechtliche Schutzmechanismen greifen, beispielsweise wenn wir getäuscht oder gezwungen wurden oder wenn wir aufgrund fortschreitender Demenz nicht mehr bei klarem Verstand sind. Auch im Strafrecht werden wir für unser strafbares Verhalten zur Verantwortung gezogen. All dies ergibt nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass wir Menschen grundsätzlich die Fähigkeit haben, uns frei für oder gegen ein Rechtsgeschäft oder eine Straftat zu entscheiden. Aus rechtlicher Sicht schien die Frage nach dem freien Willen daher für mich als studierte Juristin eindeutig beantwortet zu sein.

Starke Argumente gegen freien Willen

Diese Gewissheit wurde jedoch schnell erschüttert, als ich mich in die philosophische Diskussion um die Willensfreiheit vertiefte. Umstritten war bereits, was mit dem Begriff gemeint ist. Als Ausgangspunkt erschien mir als Juristin eine Definition sinnvoll, welche die Willensfreiheit als die Fähigkeit beschreibt, Entscheidungen zu treffen, die weder durch vorbestimmte Ursachen noch durch externe Faktoren beeinflusst sind. Doch daraufhin ergab sich die Frage, ob der Verlauf der Welt und unseres persönlichen Lebens vollständig durch Naturgesetze vorherbestimmt ist oder ob auch Zufälle eine Rolle bei unseren Entscheidungen spielen können.

Bald wurde mir jedoch klar, dass beide Betrachtungsweisen gegen einen freien Willen sprechen: Wenn alle unsere Entscheidungen bereits durch Faktoren wie Genetik, Erziehung und andere Umwelteinflüsse vorherbestimmt sind, dann sind sie lediglich das Ergebnis einer determinierten Abfolge von Ereignissen und nicht auf unseren eigenen Willen zurückzuführen. Gleiches gilt aber auch, wenn Entscheidungen rein zufällig getroffen werden, da sie dann ausserhalb unserer bewussten Kontrolle liegen.

Rechtswissenschaft, Psychologie und Philosophie prägen das Denken von Ann Krispenz.

Eine mögliche Lösung für dieses philosophische Problem bot sich in einer Definition des Freiheitsbegriffs an, die mit dem Konzept des Determinismus vereinbar zu sein schien. Damals überzeugten mich philosophische Ansichten, welche die Willensfreiheit als die Freiheit sahen, vor einer Entscheidung innezuhalten und vorbestimmende Faktoren zu erkennen und zu reflektieren, um sich gegebenenfalls bewusst für ein Verhalten zu entscheiden, das diesen Faktoren entgegenwirkt. Dennoch blieb auch bei dieser Definition die Frage offen, warum die Fähigkeit, innezuhalten und zu reflektieren, nicht ebenfalls determiniert und ausserhalb unserer Kontrolle sein sollte.

Die philosophische Diskussion über die Willensfreiheit stellte mich also vor ein Dilemma. Einerseits ergaben die philosophischen Argumente gegen die Existenz des freien Willens für mich Sinn, andererseits empfand ich mich bei meinen eigenen Entscheidungen als frei. War das alles nur eine schöne Illusion? Ich begann ein Psychologiestudium und suchte darin nach weiteren Antworten.

Unbewusste Prägungen

Als empirische Wissenschaft beschäftigt sich die Psychologie mit den Faktoren, die das menschliche Erleben und Verhalten beeinflussen. Insbesondere die Entscheidungspsychologie untersucht, wie Entscheidungsprozesse ablaufen und inwieweit wir tatsächlich Informationen sammeln, bewerten und gewichten, die für bewusste Entscheidungen notwendig sind. Eine wichtige Erkenntnis der psychologischen Forschung ist, dass Entscheidungen nicht nur von inneren, psychischen Faktoren, sondern auch von äusseren Faktoren beeinflusst werden: Menschen treffen beispielsweise unterschiedliche Entscheidungen, wenn ihnen dieselben Informationen in unterschiedlichen Situationen präsentiert werden. Wenn wir etwa bereits ein teures Kleidungsstück im Warenkorb haben, so geben wir gern noch ein bisschen mehr Geld für ein Accessoire aus, das wir andernfalls gar nicht gekauft hätten. Zudem neigen wir dazu, weitere Beweise für bereits bestehende Überzeugungen zu suchen, während wir widerlegende Informationen vernachlässigen.

«Die (Illusion von) Willensfreiheit scheint eine wichtige Funktion für unsere geistige Gesundheit zu erfüllen.»

Ann Krispenz

Komplexe Entscheidungen können zudem aufgrund unzureichender Informationen, Zeitmangel oder fehlender Motivation nicht immer rational getroffen werden. Wenn ich beispielsweise ein Handy kaufen möchte, kann ich schnell von der Vielzahl der verfügbaren Optionen überfordert sein und greife daher lieber auf ein Gerät eines mir bekannten Herstellers zurück. Dadurch übersehe ich wahrscheinlich günstigere, aber gleichwertige Alternativen, was meine Entscheidung aus wirtschaftlicher Sicht wenig rational erscheinen lässt. Dies machen sich zum Beispiel grosse Marken zunutze, die ihr Marketing entsprechend ausgestalten.

Darüber hinaus werden bewusste Entscheidungsprozesse in der Regel von unbewussten psychologischen Prozessen beeinflusst. Insbesondere spielen frühere Erfahrungen eine grosse Rolle, da unser Gehirn aufgrund dieser Erfahrungen schematische Denk- und Verhaltensmuster entwickelt, die uns in der Regel nicht bewusst sind, aber automatisch bei Entscheidungen zum Tragen kommen. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn ich mich im Uni-Café für die Schokolade entscheide, weil diese in mir unbewusst positive Erinnerungen an meine Grossmutter weckt.

Selbsterkenntnis durch Selbstreflexion

Als Menschen haben wir jedoch die Fähigkeit, uns selbst und unser Handeln zu beobachten und zu analysieren. Diese Fähigkeit ist vor allem in psychotherapeutischen Kontexten relevant. Auch hier wird anerkannt, dass Menschen aufgrund ihrer biologischen Voraussetzungen (wie ihrer Gene) sowie ihrer Erziehung und ihrer Umwelterfahrungen geprägt sind. Gleichzeitig geht man davon aus, dass wir nicht machtlos diesen Prägungen ausgeliefert sind, sondern dass wir sie – mit therapeutischer Hilfe – erkennen und verändern können.

Die (Illusion von) Willensfreiheit scheint zudem aus psychologischer Sicht eine wichtige Funktion für unsere geistige Gesundheit zu erfüllen: Studien zeigen, dass wir in Angst und Depressionen verfallen können, wenn wir unsere Lebensumstände als unkontrollierbar empfinden. Nicht zuletzt ist die Vorstellung von Willensfreiheit tief in unserem menschlichen Selbstverständnis verwurzelt. In meiner heutigen Tätigkeit als pädagogische Psychologin suche ich daher nach Wegen, um die Selbstwirksamkeit meiner Studierenden und ihre Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion zu stärken. Möglicherweise war das ja genau so vorherbestimmt.

Zur Autorin

Ann Krispenz

hat an der Universität Heidelberg Rechtswissenschaft studiert und dort zum Thema «Testierfähigkeit und Willensfreiheit» promoviert. Für ihre interdisziplinäre Doktorarbeit hat sie in Mannheim zusätzlich Psychologie studiert und ein zweites Mal promoviert. Seit 2015 unterrichtet und forscht sie an der Universität Bern in der Abteilung Pädagogische Psychologie.

Welches war die beste Entscheidung Ihres Lebens?

Mit 32 Jahren noch einmal zu studieren. Das ermöglichte mir eine Karriere an der Uni Bern.

Welche tägliche Entscheidung fällt Ihnen schwer?

Zwischen Snooze und Morgensport. Oft siegt das Bett, obwohl Bewegung besser wäre.

Gibt es eine Entscheidung, die Sie heute bereuen?

Dass ich nicht nach Italien gezogen bin, als ich die Chance dazu hatte.

Kontakt:

Dr. Dr. Ann Krispenz

ann.krispenz@unibe.ch

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