Wer sich einsam fühlt, sollte gezielt gegensteuern

Seit ein paar Jahren ist viel von der «Volkskrankheit Einsamkeit» die Rede. Ob wir tatsächlich einsamer sind als früher, ist zwar wissenschaftlich nicht belegt. Doch ist es in jedem Fall empfehlenswert, sich bei «sozialem Durst» um Kontakte zu kümmern, damit die Einsamkeit nicht chronisch wird.

Text: Béatrice Koch 16. März 2023

Die Individualisierung ist einer der gesellschaftliche Faktoren, die Einsamkeit fördern können. © pexels

Als Grossbritannien 2018 eine «Ministerin für Einsamkeit» einsetzte, sorgte das auch hierzulande für Schlagzeilen. Die Lockdowns während der Corona-Pandemie verstärkten die Debatte über «Einsamkeit als Volkskrankheit» weiter. Tatsächlich gibt es gesellschaftliche Faktoren, die Einsamkeit befördern können: Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, wechseln öfter Wohnort und Freundeskreis, immer mehr Menschen leben allein, und die Familien werden kleiner.

«Wir haben heute weniger Bezug zu gemeinschaftlichen Aktivitäten und Verbindlichkeiten. Vereine und auch die Kirchen kämpfen mit Mitgliederschwund», sagt Isabelle Noth, Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Universität Bern. Ob tatsächlich mehr Leute einsam sind als früher, lasse sich nur schwer nachweisen. «Aber ganz offensichtlich empfinden die Menschen Einsamkeit heute stärker», ist Noth überzeugt.

Allein ist nicht gleich einsam

Die Frage, wie verbreitet Einsamkeit ist, sei nicht einfach zu beantworten, sagt Tobias Krieger, Forschungsgruppenleiter am Psychologischen Institut der Universität Bern. Sein Team untersucht die Wirksamkeit eines Online-Interventionsprogramms bei chronischer Einsamkeit (siehe Nebentext). Einsamkeit ist keine diagnostizierbare Krankheit. Vielmehr handelt es sich – anders als die soziale Isolation, die objektiv wahrnehmbar ist – um ein subjektives Gefühl. Einsamkeit ist auch nicht dasselbe wie Alleinsein: Menschen, die häufig allein sind, fühlen sich nicht zwangsläufig einsam. Umgekehrt kann auch jemand, der von Menschen umgeben ist, einsam sein.

«Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das auftritt, wenn das individuelle Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit nicht befriedigt ist», erklärt Krieger. «Diese Diskrepanz kann sowohl die Qualität als auch die Quantität sozialer Beziehungen betreffen.» Insofern ist Einsamkeit immer schmerzhaft, denn sie ist nicht selbst gewählt. Alleinsein hingegen kann durchaus gewollt und als positiv empfunden werden.

Chronische Einsamkeit bedeutet Stress

Laut der Gesundheitsbefragung des Bundes von 2017 (die Ergebnisse der neuesten Erhebung werden Ende 2023 veröffentlicht) fühlen sich etwa 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren oft oder sehr oft einsam. Nimmt man diejenigen dazu, die sich manchmal einsam fühlen, kommt man auf 40 Prozent. Allerdings sind diese Angaben mit vielen Unsicherheiten behaftet: Gerade weil es sich um eine subjektive Empfindung handelt, kann allein schon die Art der Fragestellung die Resultate beeinflussen. Kommt hinzu, dass sich nicht jede Form von Einsamkeit negativ auswirkt: «Die allermeisten Menschen haben schon einmal Einsamkeit erlebt», sagt Krieger. Situative Einsamkeit nennt es die Wissenschaft, wenn wir uns beispielsweise an einem Sonntagabend mehr Gesellschaft wünschen, die Einsamkeitsgefühle jedoch bereits nach kurzer Zeit wieder verschwinden. Auch vorübergehende Einsamkeit, die häufig bei grossen Veränderungen wie Umzug, Jobwechsel oder Trennung auftritt, ist vielen von uns bekannt. Krieger: «Dieses Gefühl ist zunächst einmal hilfreich. Es dient als Warnsignal, das uns motivieren kann, etwas an der Situation zu ändern und aktiv zu werden. Einsamkeit kann somit als ‹sozialer Durst› bezeichnet werden.»

«Das Gefühl der Einsamkeit dient als Warnsignal, das uns motivieren kann, etwas an der Situation zu ändern und aktiv zu werden»
Tobias Krieger

Problematisch hingegen ist die andauernde oder chronische Einsamkeit, die zur Belastung wird – wobei unter Fachleuten kein Konsens darüber besteht, ab welcher Zeitspanne Einsamkeit als chronisch bezeichnet werden sollte. Das Warnsignal kann in diesem Fall nicht mehr in Aktivität umgesetzt werden, und für die Betroffenen scheint der Zustand unkontrollierbar. Chronische Einsamkeit kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken, denn sie bedeutet Stress. Und dieser wiederum kann zu psychischen und körperlichen Beschwerden wie Depression, schlechtem Schlaf und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Dabei besteht häufig eine Wechselwirkung: Einsamkeit kann depressiv machen, ebenso wie eine Depression zu Einsamkeit führen kann. Ob Einsamkeit heute stärker grassiert als früher oder nicht: Tatsache ist, dass sich viele Menschen chronisch einsam fühlen, was gravierende Folgen für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem hat. Krieger: «Einsamkeit und ihre gesundheitlichen Folgen sind wichtige Themen. Es ist gut, dass sie öffentlich stärker wahrgenommen und diskutiert werden.»

Dass Corona das Bewusstsein für psychische Störungen geschärft habe, sei ein positiver Aspekt der Pandemie, sagt auch Stefanie Schmidt, Leiterin der Klinischen Psychologie des Kindes- und Jugendalters der Universität Bern, die die Auswirkungen der Coronapandemie auf Jugendliche im Kanton Bern untersucht. Es erstaunt nicht, dass während der Coronapandemie die Zahl der Menschen, die sich einsam fühlten, deutlich gestiegen ist. So zeigten Studien aus Deutschland und der EU übereinstimmend, dass sich vor allem junge Erwachsene während der ersten Zeit der Pandemie weit einsamer fühlten als zuvor.

Ob dieser Anstieg anhält, wird sich erst noch zeigen. Gemäss Schmidts Beobachtungen haben Jugendliche massiv unter den Massnahmen gelitten: «Während der Pandemie wurden die Kontakte stark eingeschränkt. Dabei sind gerade im frühen Jugendalter die Kontakte zu Gleichaltrigen oft wichtiger als jene zur Familie. In der Folge fühlten sich die Jugendlichen häufig einsam und mit ihrem sozialen Umfeld nicht mehr verbunden.» Hinzu kommt, dass in der Jugend soziale Kontakte für das Selbstwertgefühl besonders wichtig sind.

Jugendliche reagieren hypersensitiv

Chronische Einsamkeit hat verschiedene Ursachen. Ein schlechter Gesundheitszustand, prekäre finanzielle Verhältnisse oder die Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten Gruppe können eine Rolle spielen, aber auch negative Bindungserfahrungen in der Vergangenheit oder der Verlust eines nahestehenden Menschen. Einsame Menschen haben zudem häufig ein eher schlechtes Selbstwertgefühl und neigen dazu, Signale aus ihrem sozialen Umfeld negativ zu deuten. Sie fühlen sich in Gesellschaft oft unerwünscht, was wiederum das Einsamkeitsgefühl steigern kann – ein Teufelskreis.

Hilfe und Selbsthilfe

Online-Behandlung

Professionelle Internetprogramme für Selbsthilfe und Psychotherapie sind eine niederschwellige Behandlungsart, die sich bei diversen psychischen Störungen und Phänomenen als wirksam erwiesen haben. Die Universität Bern nimmt auf diesem Gebiet eine führende Rolle ein: Thomas Berger, Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie, ist ein Pionier in der Entwicklung, Testung und Umsetzung von Therapien zur Prävention und Behandlung psychischer Probleme mittels Apps und Websites. Für diese Leistung bekam er 2021 den Marcel-Benoist-Preis, der unter Forschenden als «Nobelpreis der Schweiz» gilt.

Auch bei andauernden Einsamkeitsgefühlen gibt es ein Online-Angebot: Das in Schweden entwickelte Programm SOLUS zeigt auf, wie sich der Teufelskreis der Einsamkeit durchbrechen lässt. Es beruht auf den Grundsätzen der kognitiven Verhaltenstherapie und wurde an der Universität Bern ins Deutsche übersetzt und erweitert. Das Programm besteht aus neun Modulen zu verschiedenen Aspekten der Einsamkeit, die anhand theoretischer Inputs und Übungen helfen sollen, das Erleben und Verhalten im Alltag zu verändern. Wie wirksam die deutsche SOLUS-Version ist, untersucht derzeit das Team um Tobias Krieger am Institut für Psychologie.

Eine Übersicht zu Online-Behandlungsprogrammen, die an der Universität Bern erforscht werden und für die zum Teil noch Teilnehmende gesucht werden, findet sich unter www.online-therapy.ch.

 

Mit der Zeit entwickeln viele Betroffene einen Schutzmechanismus, meiden soziale Situationen und halten sich in Gesellschaft eher bedeckt. Laut Stefanie Schmidt sind Jugendliche dafür besonders anfällig: «Sie reagieren hypersensitiv gegenüber sozialer Zurückweisung. Sie fühlen sich rascher zurückgewiesen als ältere Erwachsene und können zudem auch schlechter mit Zurückweisung umgehen.» Dabei identifizieren sich gerade Jugendliche stark über das Feedback von Gleichaltrigen. Hier spiele auch die Digitalisierung eine Rolle: «Online gibt es postwendend eine Belohnung, beispielsweise in Form von Likes. Dadurch werden Erwartungen geschürt, die sich in einer realen Begegnung nicht erfüllen. Das kann ebenfalls dazu führen, dass jemand unzufrieden mit sozialen Kontakten ist und sich einsam fühlt.» Inwiefern die Digitalisierung generell Einsamkeit fördert, ist jedoch umstritten. Wer sie aktiv zur Kontaktpflege oder zum Knüpfen neuer Kontakte nutzt, kann der Einsamkeit durchaus auch entgegenwirken.

Weil Einsamkeit verschiedene Ursachen hat, gibt es auch kein Patentrezept, das auf alle Betroffenen angewendet werden kann. Manchen hilft ein einfacher Griff zum Telefon, anderen eine Verhaltenstherapie, um nachteilige Gedanken und Verhaltensweisen zu erkennen und zu verändern oder an sozialen Fertigkeiten zu arbeiten. Einige brauchen Gelegenheiten und Orte, um andere Menschen zu treffen. «Spüre ich, dass mir die Einsamkeit zu schaffen macht, kann ich bewusst meine Kontakte pflegen und Orte aufsuchen, wo ich Gleichgesinnte treffe – online oder real», rät Stefanie Schmidt. Gleichzeitig müsse die Allgemeinheit allen Menschen eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Auch die Seelsorge könne hier Hilfe bieten, so Isabelle Noth: «Seelsorge kann Beziehungen mit Menschen in allen Lebenslagen aufbauen, sie aufsuchen und sie aktiv einladen, damit sie sich wieder zugehörig fühlen.»

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Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem neuen Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS zeigt viermal pro Jahr, was Wissenschaft zu leisten vermag. Jede Ausgabe fokussiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen thematischen Schwerpunkt und will so möglichst viel an Expertise und Forschungsergebnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bern zusammenführen.

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