Wie das weltweit erste Fixerstübli entstand

Mitte der 1980er Jahre fand eine Neufokussierung der Drogenpolitik von der Repression hin zum Überleben statt – nicht zuletzt angesichts von AIDS. Mit der Folge, dass in der Stadt Bern vor 37 Jahren das weltweit erste Fixerstübli entstand.

Offene Szene im Kocherpark.
Offene Szene im Kocherpark.

Am 17. Juni 1986 wurde an der Berner Münstergasse 12 das weltweit erste Fixerstübli eröffnet – mit durchschlagendem Erfolg. Das innovative, staatlich tolerierte und von der öffentlichen Hand finanzierte Angebot fand nicht nur rasch Nachahmer in Basel und Zürich, sondern auch zunehmend internationale Beachtung – von Deutschland über Kanada bis nach Australien.

Für einmal die Schnellsten

20 Jahre später resümierte Fixerstübli-Mitgründer Hans Peter Wermuth im «Bieler Tagblatt», dass bis 1986 nur jenen geholfen worden sei, die angaben, mit dem Fixen aufhören zu wollen. «Mit dem abstinenzorientierten Vorgehen haben wir jedoch viele Süchtige nicht erreicht», so der frühere Gassenarbeiter. «Was wir taten, war Pionierarbeit. Für einmal waren die Berner die Schnellsten.» Und das zu einer Zeit, zu der man anderswo in der Schweiz unverändert propagierte, dass Beratung, stationärer Entzug und Entwöhnung in einer therapeutischen Gemeinschaft der einzig anerkannte Ausstieg aus den Drogen seien.

Mitte der Achtzigerjahre verschob sich die Zürcher Drogenszene auf den Platzspitz neben dem Landesmuseum und machte als «Needle Park» global von sich reden. Und auch auf der Berner Münsterplattform formierte sich eine offene Drogenszene. Mit 50 bis 100 Menschen war sie «eher klein und die Verelendung noch nicht so gross. Richtig gewachsen sind die Szenen erst später – auf dem Schänzli und im Kocherpark», erinnert sich Robert Hämmig, der 1984 von der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik angestellt wurde und in diesem Rahmen bei Contact, der Berner Stiftung für Suchthilfe, als Assistenzarzt arbeitete. «Auf der Strasse hatte meine Anbindung an die Universitätsklinik kaum einen Effekt», sagt Hämmig, «aber sie trug dazu dabei, die Ideen der Berner Drogenarbeit international zu verbreiten, zum Beispiel auf Konferenzen.»

Die Situation verschärft sich

Seit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes von 1975 stand der Drogenkonsum schweizweit unter Strafe. Die Politik kannte lange nur eine Antwort auf die Problematik: Repression. In den Achtzigerjahren verschärfte sich die bereits desolate Situation auf der Gasse durch das Aufkommen von Aids. «Die Drogenabhängigen sind reihenweise an der Krankheit gestorben», erzählt Hämmig, der von sich sagt, dass er ein Herz für Süchtige habe. In Holland habe man zu dieser Zeit bereits realisiert, dass HIV über Blut übertragen werde. «Somit war eigentlich klar, dass man eine Spritzenabgabe machen müsste, die in Zürich allerdings verboten gewesen war mit dem Argument, dass diese den Drogenkonsum fördert.»

Zur Person

Robert Hämmig

studierte an der Universität Bern Medizin und liess sich zum Psychiater ausbilden. 1984 wurde er von der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik angestellt (die später zu den Universitären Psychiatrischen Diensten mutierten) und hat in diesem Rahmen für die Stiftung Contact gearbeitet – bis 2017. Bis Ende 2022 erbrachte er mit seinem eigenen Betrieb weiterhin die ärztliche Dienstleistung für die Stiftung Contact, seither betreibt er eine psychiatrische Praxis.

Die Berner Fachleute liessen sich davon nicht entmutigen und fragten beim Kantonsarzt und beim Kantonsapotheker nach, ob im Kanton Bern ein Verbot hinsichtlich einer Spritzenabgabe existiere. «Weil es keinen derartigen Passus im Gesetz gab, sagte man uns, dass wir Spritzen abgeben können», erinnert sich Hämmig: «Dies unter der Auflage, es nicht an die grosse Glocke zu hängen.» In der Folge sei die erste Spritzenabgabe im Kanton Bern 1985 auf der Jugendberatung Oberaargau (JBO) in Langenthal erfolgt – durch die Drogenhilfe. Die Stadt Bern folgte wenig später.

Die Bevölkerung hat genug

In der 2013 erschienenen Masterarbeit von Judith Wietlisbach mit dem Titel «Die Geschichte des Berner Fixerstübli – Entwicklungstendenzen von Ende der 1970er Jahre bis 1994» beschrieb Marc Wehrlin, ehemaliger Präsident der Stiftung Contact, die Situation der Drogenabhängigen wie folgt: «Wer nicht aus der Drogenszene aussteigen wollte, hatte Beizenverbot, durfte sich nirgends drinnen aufhalten und sich auch nicht draussen zusammentun, verlor seine Arbeit und hatte mit Beschaffungskriminalität zu kämpfen.» Aus dieser Erkenntnis heraus sei die Anlaufstelle entstanden, die, so Wehrlin, eigentlich nur als Aufenthaltsort für Fixerinnen und Fixer dienen sollte.

Zur Person

Julia Wietlisbach

schloss 2013 ihren Master in Geschichte und BWL an der Universität Bern ab. Heute ist sie Co-Leiterin des Strassenfestivals Buskers Bern.

Manche Berner Beizer hätten damals ihre Kaffeelöffel durchbohrt, erinnert sich Hämmig, um zu verhindern, dass mit ihnen Substanzen aufgekocht werden. Trotz allen Massnahmen hielten sich viele Drogenabhängige in den Toiletten der Berner Restaurants auf. Umso mehr, als im November 1985 der Berner Gemeinderat die Schliessung der Münsterplattform verfügte – offiziell wegen Reparaturarbeiten – und so deren offene Drogenszene vertrieb.

Der Entscheid führte zu heftiger Kritik, wie Julia Wietlisbach in ihrer Masterarbeit beschreibt: Anwohnende deckten den Berner Gemeinderat mit Beschwerdebriefen ein, da sich die offene Drogenszene erst in die Münster- und Herrengasse und dann auf die Kleine Schanze verschoben hatte.

Toilettenanlagen der sogenannten Milchbar auf der Kleinen Schanze zur Zeit der offenen Drogenszene.
Toilettenanlagen der sogenannten Milchbar auf der Kleinen Schanze zur Zeit der offenen Drogenszene.

Dass ein Fixerstübli nicht nur eine Antwort auf die zunehmende Verelendung der Szene, sondern auch auf die Beschwerden der Anwohnenden sein kann, wusste damals allerdings noch niemand. Laut Robert Hämmig – dessen Aufgabe es in erster Linie war, die Klientinnen und Klienten von Contact psychiatrisch zu versorgen – entstand das Fixerstübli mehr aus Zufall. Den Raum zu betreiben, habe ein abteilungsübergreifendes Projekt der Stiftung Contact dargestellt: «Beteiligt waren unter anderem die Beratungsstelle, an der ich angesiedelt war, die Gassenarbeit und die Präventionsstelle.» Als der Raum an der Münstergasse 12 am 17. Juni 1986 eröffnet wurde, sei unklar gewesen, ob dieser überhaupt von Drogenabhängigen genutzt werden würde, blickt Hämmig zurück. «Doch nach und nach tauchten sie auf, packten ihre Siebensachen aus, setzten sich vor den Augen des anwesenden Sozialarbeiters ihre Spritze – was so nicht vorgesehen war – und gingen wieder ihrer Wege. Somit war unversehens das Berner Fixerstübli gegründet.»

Eine Tatsache, die sich rasch herumgesprochen habe. «Mit der Konsequenz, dass mehr und mehr Leute an die Münstergasse strömten.» Alle am Projekt Beteiligten hätten im Fixerstübli Dienste übernommen und kamen so in Kontakt mit den Nutzerinnen und Nutzern, rekapituliert Hämmig. «Ich selbst zum Beispiel habe Dutzende von Abszessen aufgeschnitten.»

Bei 1000 Überdosierungen keine Toten

Die Berner Justiz war dem Fixerstübli wohlgesinnt: Im Juli 1988 liess der damalige Berner Generalprokurator (Oberstaatsanwalt) verlauten, das Angebot sei legal, solange dort keinerlei Handel von Betäubungsmitteln stattfinde und die Stiftung Contact eine ständige soziale und medizinische Betreuung gewährleiste. Ein Rechtsgutachten stützte den Beschluss. Zum Angebot des Fixerstübli gehörten saubere Spritzen, Präservative, eine medizinische Grundversorgung und die Überwachung des Konsums. In diesem Rahmen sei es gemäss Hämmig in über 30 Jahren zu keiner Überdosierung mit Todesfolge gekommen: «Im Fixerstübli, aber auch im Kocherpark haben wir uns um rund 1000 Überdosierungen gekümmert und die Betroffenen beatmet.»

Im Fixerstübli – hier an der Nägeligasse.
Im Fixerstübli – hier an der Nägeligasse.

Methadontherapie und Heroinabgabe

1994 wurde die Kontakt- und Anlaufstelle Murtenstrasse zum Methadon-Therapiezentrum (MeTz) umgenutzt, um politisch die Heroinabgabe (KODA) zu unterstützen. «Dadurch wollte man erreichen, dass die Heroinverschreibung bei der Bevölkerung auf grössere Akzeptanz stösst», sagt Hämmig zu den Beweggründen. Somit habe sich die Substitutionstherapie massiv ausweiten lassen. Im Rahmen des seit 2008 gesetzlich verankerten Viersäulenmodells der Schweizer Drogenpolitik, das Prävention, Therapie, Schadensminderung und weiterhin Repression («Regulierung und Vollzug») umfasst, begann die Stiftung Contact, auch vermehrt mit der Berner Polizei zusammenzuarbeiten.

«Seither hat sich das Ganze weiter beruhigt. Heute regt man sich über die Kontakt- und Anlaufstelle nicht mehr auf», bilanziert Hämmig. Zur aktuellen Berner Drogenszene sagt der Experte: «Im Moment ist die Lage ruhig. Vorgänge wie in Zürich oder Genf, wo der Drogenkonsum im öffentlichen Raum stark zugenommen hat, verzeichnen wir derzeit nicht. Natürlich wird bei uns ebenfalls Kokain beziehungsweise Crack geraucht, aber das ist schon seit Jahren so.»

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