Ackern für LSD – Mutterkornproduktion im Hinterland

LSD erzählt nicht nur von Hippies und Selbsterfahrungstrips, sondern auch von Bäuerinnen und Bauern, die im Emmental auf ihren Feldern Mutterkorn für die Basler Chemie produzierten. Der Anbau des LSD-Ausgangsstoffs veränderte auch die bäuerliche Welt fundamental.

Text: Beat Bächi 15. Januar 2024

Fotografie: Aus Nachlass Albert Hoffmann, Institut für Medizingeschichte UniBE (IMG)

Die Bauern im vorindustriellen Europa lebten in einem Zustand fast permanenter Halluzination, betäubt durch ihren Hunger oder durch mit halluzinogenen Stoffen gepanschtes Brot. Die vom Mutterkorn ausgelösten Halluzinationen waren also alles andere als absichtlich hervorgerufen worden. Vor allem das von den ärmeren Bevölkerungsschichten verzehrte Roggenbrot war häufig mit Mutterkorn verseucht. Mutterkorn (Claviceps purpurea) ist ein Pilz, der als Parasit vorzugsweise auf Roggen wächst.

Brot, das aus mit Mutterkorn befallenem Roggen hergestellt wurde, führte zu Epidemien, ausgelöst von einer Krankheit, die als Antoniusfeuer bekannt war. Zu den Symptomen gehören Krampfanfälle, Hautläsionen, psychotische Störungen und eine trockene Gangrän, die dazu führen kann, dass Finger oder Zehen ihr Gefühl verlieren und abfaulen.

Vom Gift zum Medikament

Während Jahrhunderten taten deshalb die Landwirte ihr Bestes, um den geernteten Roggen vom Mutterkorn zu befreien sowie das Wachstum des Mutterkorns zu unterdrücken, etwa durch die Züchtung von Roggensorten, die weniger anfällig für Mutterkornbefall waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Mutterkorn dann von einem Gift zu einem Medikament. Es wurde nun vor allem in der Geburtshilfe eingesetzt. Führend auf diesem Gebiet war seit den 1920er-Jahren das Basler Chemie- und Pharmaunternehmen Sandoz. Da Mutterkorn Gebärmutterkontraktionen auslöst, wurde es eingesetzt, um Nachgeburtsblutungen zu stoppen, die Geburt zu beschleunigen oder Schwangerschaftsabbrüche auszulösen. Daher wohl auch der Name Mutterkorn. Eine weitere gängige Dialektbezeichnung für Mutterkorn war «Wolfszähne».

Mit der medizinischen Verwendung wurden nun die den Roggen befallenden «Wolfszähne» von den Bauern gesammelt und nach Basel an Sandoz geliefert, die es zu medizinischen Präparaten verarbeitete. Der grösste Teil dieses natürlich gewachsenen Mutterkorns stammte aus dem Emmental, wo es im relativ feuchten Klima den Roggen infizierte.

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Anbauschlacht für die Pharmafirma Sandoz

Mutterkorn wurde somit ein knappes und teures Gut. Deshalb begann Sandoz 1939, Mutterkorn auf den Feldern der Bauern in industriellem Massstab anzubauen. Die künstliche Herstellung von Mutterkorn beruhte darauf, dass die blühenden Roggenähren mit einer durch In-vitro-Kultur gewonnenen Sporensuspension infiziert wurden. Das heisst, der von Sandoz hergestellte Impfstoff wurde über Nadeln – sei es durch eine spezielle «Pistole», Brettchen oder später durch eine mit 16 000 Nadeln bestückte Impfmaschine – in die Roggenähren gespritzt, und später wurden die Mutterkörner von Hand mit einem sogenannten Segel oder später mit Erntemaschinen gelesen.

«Die «Wolfszähne» wurden von den Bauern gesammelt und nach Basel an Sandoz geliefert.»

Diese Mutterkornkampagne kontrastiert scharf mit dem kollektiven Gedächtnis der Schweiz, in dem der Zweite Weltkrieg als die Zeit der Anbauschlacht in Erinnerung ist. Denn der Mutterkornanbau machte grosse Mengen Roggen für den Menschen ungeniessbar. Als Brotgetreide ist Mutterkornroggen nicht mehr verwendbar, und er eignet sich auch bloss eingeschränkt als Futtergetreide. Was den Behörden die Bewilligung erleichterte, war seine volkswirtschaftliche Bedeutung: Sandoz bezahlte den Bauern bereits während der Kriegsjahre mehrere Millionen Franken für den Mutterkornanbau, und zahlreiche Arbeitslose fanden in schwierigen Zeiten Beschäftigung. In der Folge sollte sich der Mutterkornanbau zum volkswirtschaftlich bedeutsamsten Arzneimittelanbau der Schweizer Geschichte mausern.

Patentrechte und Pestizide

Da Sandoz auch einen Bauernhof in der Klus in Baselland besass, beschäftigte sich das Unternehmen auch gleich selbst mit der Roggenzucht. Die Arbeit, die schliesslich zu einer neuen, für den Mutterkornbefall besonders anfälligen Roggensorte führte, war enorm. So mussten für den neu gezüchteten, tetraploiden Kluser Roggen nur schon aus 50 000 Roggenpflanzen die fünf vielversprechendsten «Elitepflanzen» für die weitere Züchtung ausgewählt werden.

Diesen enormen Aufwand wollte Sandoz durch neuartige Eigentumsrechte absichern. So informierte Sandoz Mitte der 1950er-Jahre die von ihr mit Kluser Roggen belieferten Landwirte, dass sie den von Sandoz gezüchteten Roggen nicht für eigene Zwecke verwenden und das Saatgut auch nicht behalten, wiederverwenden oder verkaufen dürften. Insofern versuchte Sandoz, seinem Mutterkornroggen gleichsam neu Eigentumsrechte einzuimpfen. Auch wenn es bis Ende der 1970er-Jahre in der Schweiz keine Eigentumsrechte an lebenden Organismen geben sollte, so wurden bei der Züchtung und dem Anbau landwirtschaftlicher Nutzpflanzen private Eigentumsrechte zusehends höher gewichtet als die bäuerlichen Nutzungsrechte.

«Flower-Power und Biotech haben gar nicht so unterschiedliche Wurzeln.»

Der von Sandoz gezüchtete Kluser Roggen erforderte als Kunstsorte im Vergleich zu den bis dahin gebräuchlichen Land- und Zuchtsorten eine wesentlich intensivere Düngung und einheitlichere Produktionsbedingungen. Er war auch anfälliger für andere Parasiten und Schädlinge als Mutterkorn, und sein Anbau verlangte deshalb nach neuen Pflanzenschutzmitteln – ein weiteres Geschäftsfeld von Sandoz.

Die Mutterkornproduktion war nicht nur wichtig für die Geschichte der Pflanzenzucht (später sollte aus Sandoz die Firma Syngenta hervorgehen), sondern auch für die traditionelle Biotechnologie. Denn die Mutterkornalkaloide konnten schliesslich durch Fermentation in Bioreaktoren hergestellt werden – nachdem Sandoz extra für diesen Zweck eine ehemalige Bierbrauerei gekauft hatte. Deshalb wurde der Mutterkornanbau auf den Feldern der Schweizer Bauern 1976 ziemlich abrupt gestoppt. Sandoz bedankte sich bei den Bäuerinnen und Bauern mit einem Goldvreneli.

LSD und die Technisierung der Landwirtschaft

Als LSD-Entdecker Albert Hofmann 1938 bei Sandoz zum ersten Mal aus Mutterkorn LSD-25 synthetisiert hatte, war eine kleine Menge für Tierversuche verwendet worden. Da es am Uterus von Kaninchen, dem damaligen Standardmodell für Mutterkornversuche, keine besonderen gefässverengenden Eigenschaften zeigte, drohte diese Substanz in Vergessenheit zu geraten. Es war wohl vor allem dem Anbau von Mutterkorn in industriellem Massstab geschuldet, dass Hofmann die Versuche mit dieser Substanz 1943 wieder aufnahm. Sein dokumentierter Selbstversuch ging als erster LSD-Trip in die Geschichte ein.

Aber auch für seine Sicht auf sein dem Mutterkorn entsprungenes «Sorgenkind» LSD waren die neuen landwirtschaftlichen Produktionsweisen nicht unerheblich. Die seit Ende der 1960er-Jahre insbesondere über die USA schwappende Drogenwelle wurde von Hofmann selbst rückblickend als Folge von Materialismus, Naturentfremdung und der Technisierung der Landwirtschaft zu erklären versucht. So meinte er: «Es ist kein Zufall, dass LSD zuerst in den USA als Rauschdroge in Umlauf kam, in dem Land, in dem Industrialisierung, Technisierung auch der Landwirtschaft und Verstädterung am weitesten fortgeschritten sind.» Dass gerade der Mutterkornanbau in der Schweiz entscheidend zu eben dieser Chemisierung und Technisierung beigetragen hatte, schien ihm entgangen zu sein.

Wenn man berücksichtigt, wie der Ausgangsstoff für die LSD-Produktion angebaut wurde, ist LSD gerade keine Antithese zum grassierenden Materialismus und zur Technisierung der Landwirtschaft – sondern selbst ein aktives Element dieser Transformationsprozesse. So gesehen haben Flower-Power und Biotech gar nicht so unterschiedliche Wurzeln.

Zur Person

Bild: zvg

Beat Bächi

forscht gegenwärtig in einem vom SNF geförderten Projekt zu «Nutztieren im Anthropozän» an der Universität Zürich. Zuvor war er am Institut für Medizingeschichte der Universität Bern tätig, wo der Nachlass von Albert Hofmann der Forschung zugänglich gemacht wird und sein Buch «LSD auf dem Land. Produktion und kollektive Wirkung psychotroper Stoffe» (Konstanz University Press 2020) entstanden ist.

Kontakt

Dr. Beat Bächi

beat.baechi@uzh.ch

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Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

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