Walsert es?

Forschende der Universität Bern haben eine künstliche Intelligenz entwickelt, die Texte im Stil von Robert Walser schreiben kann. Wer in diesen Tagen die Schweizerische Nationalbibliothek besucht, kann den Textgenerator selbst ausprobieren. Nur: Ist das Kunst – und wenn ja, wessen?

Von Laura Strub 03. November 2022

Robert Walser (1878–1956) wird von einer Künstlichen Intelligenz imitiert, die von den Digital Humanities an der Universität Bern erzeugt wurde.  © Keystone SDA / Robert Walser-Stiftung Bern. Bild: Carl Seelig; Montage: Melanie Brandel
Robert Walser (1878–1956) wird von einer Künstlichen Intelligenz imitiert, die von den Digital Humanities an der Universität Bern erzeugt wurde. © Keystone SDA / Robert Walser-Stiftung Bern. Bild: Carl Seelig; Montage: Melanie Brandel

 

Ein Textgenerator, der aktuell in der Schweizerischen Nationalbibliothek von den Besucherinnen und Besuchern bedient werden kann, ermöglicht kurze Texte im Stil des Schweizer Schriftstellers Robert Walser zu produzieren. Dieser Textgenerator ist eine Künstliche Intelligenz (KI), die basierend auf alten Texten des berühmten Autors neue Sätze kreieren kann: Die KI hat das Werk Robert Walsers gelesen und sich beigebracht, seinen Schreibstil zu imitieren. Dazu übernimmt sie wichtige Aspekte von Walsers Arbeit und setzt sie neu um. Erzeugt haben diese KI Forschende der Digital Humanities der Universität Bern.

Die Aufgabe des Textgenerators  besteht darin, vorgegebene Wörter in Sätze zu implementieren, die in ihrer Struktur, ihren Aussagen und dem Stil aus einer menschlichen Perspektive den Texten von Robert Walser so ähnlich wie möglich kommen. Dafür muss nicht nur die Satzstruktur stimmen, auch der semantische und pragmatische Inhalt muss immer passen. Es wird also neue Literatur geschaffen, die jedoch Grundsatzfragen aufwirft: Steht diese neu geschaffene Literatur für sich selbst, oder ist sie «nur» eine Imitation? Kann diese Imitation als Kunst gewertet werden? Und wer ist nun der Autor oder die Autorin dieser kurzen Werke? Die Künstliche Intelligenz? Der Erschaffer der KI? Oder doch Robert Walser?

Robert Walser (1878 – 1956) gilt heute als einer der wichtigsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts, der auch internationale Bekanntheit erlangt hat – nicht nur für seine Werke und im Nachlass überlieferten Texte, sondern auch für seine einzigartigen «Mikrogramme», insgesamt 526 Blätter mit kleinster Bleistiftschrift. Der Autor schaffte es in seinen Werken, Heiterkeit und existenzielle Ängste beobachtungsgenau zu verknüpfen und die literarische Moderne mitzuprägen. Doch zu Lebzeiten war Walser nach eigenen Angaben «bodenlos erfolglos» und hatte trotz hoher Produktionsrate Mühe, seine Kosten zu decken. Seine letzten 30 Jahre verbrachte der Autor in der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Herisau, in der nach seinem Tod eines der heute archivierten Konvolute zutage kam.

Im Robert Walser Zentrum in Bern wird heute ein Archiv betrieben, in dem grosse Teile von Walsers Manuskripten, eine Sammlung zu seiner Rezeption in Literatur und Theater und eine ausführliche Presse-Sammlung über den Autor unterhalten wird. Ziel ist die Sicherung, Inventarisierung, Erforschung und Vermittlung der Walser-Bestände, wobei auch eine Forschungsbibliothek und eine Wechselausstellung organisiert werden.

Am Zentrum Digitale Editionen & Editionsanalyse ZDE der Universität Zürich wird zudem eine kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte Robert Walsers erarbeitet, sowohl als Buchausgabe als auch als digitale Edition. Für Forschende besonders interessant sind die erfassten Kontexte. Somit können nicht nur die Feuilletontexte, sondern zugleich auch das Zeitungsumfeld im Faksimile gelesen werden, was erweiterte Interpretationsmöglichkeiten und Erkenntnisse zulässt. Der berühmte Autor kann somit nicht nur für sich allein, sondern auch im Umfeld seiner damaligen Arbeitsumgebung gelesen und analysiert werden.

Die Schweizerische Nationalbibliothek will mit dem «Walser-Generator» das Weiterdenken provozieren: Mit der Anmassung, einen etablierten Autor maschinell zu reproduzieren, wird den künstlichen, neuronalen Netzwerken eine menschliche Note verliehen, indem sie etwas bisher den Menschen Vorbehaltenes – Kunst – erschreckend menschengetreu imitieren. Durch den Textgenerator wird Walser fassbar und der Zugang zu Literatur und deren Autorinnen und Autoren wird erweitert – man kann mit ihnen auf eine neue Art und Weise in Interaktion treten.

Doch die Diskussion darum, wie viel ihrer Aufgabe eine Maschine wirklich versteht, ist hitzig. Die Besucherinnen und Besucher sollen für die neuen Möglichkeiten sensibilisiert werden und den spielerischen Umgang damit finden. In einer Abendveranstaltung am 7. November 2022 wird mit einem Walser-Experten und einer Schriftstellerin über die Möglichkeiten und Gefahren künstlicher Textproduktion diskutiert.

Über die Veranstaltung

Im Rahmen der Ausstellung «Aufgeschrieben. Stift, Taste, Spracherkennung» in der Schweizerischen Nationalbibliothek geht eine Abendveranstaltung der Frage auf den Grund, ob Künstliche Intelligenz Literatur kreieren kann: Round Table mit Tobias Hodel (Digital Humanities, Universität Bern), Sarah Elena Müller (Künstlerin und Autorin) und Christian Walt (Walser-Edition, Universität Zürich), Moderation: Esther Schneider. Lesung: Germaine Sollberger am 7. November 2022, 18 bis 19:30 Uhr.

Über die Digital Humanities an der Universität Bern

Die Digital Humanities forschen zu Themen im Umkreis digitaler Text- und Bildanalysen, digitaler Edition und der Reflexion des Einflusses digitaler Methoden auf die Geisteswissenschaften. Lehre und Weiterbildung sind zentrale Stützen der Professur, um digitale Kompetenzen zu verbreiten.

Über die Autorin

Laura Strub ist Studierende an der Universität Bern in den Fächern Soziolinguistik und Digital Humanities. Als Hilfsassistentin bei Prof. Dr. Tobias Hodel, Digital Humanities, ist sie in die Organisation und Durchführung von Events und Projekten involviert. So erhält sie Einblicke in die aktuelle Forschung und kann das Team aus einer linguistischen Perspektive unterstützen.

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