Um die tieferen historischen Dimensionen und damit auch den ideologischen Überbau des Konflikts zu beleuchten: Worin unterscheiden sich die Perspektive Russlands und die Perspektive der Ukraine im Wesentlichen?
Die Geschichte und die mit dem Konflikt verbundenen Weltbilder spielen sowohl aus der Perspektive der Ukraine als auch Russlands eine zentrale Rolle: Geschichte wird hier als eine Waffe eingesetzt. Putin hat in seinen Reden am 21. und 24. Februar 2022 klar gesagt, dass es für ihn keine Ukraine als Nation gibt, sondern er die Bevölkerung als «Kleinrussen» ansieht, die zu Russland gehören. Putins Vorstellung geht auf das 19. Jahrhundert zurück – eine imperiale Vorstellung. Die durch Lenin ermöglichte Eigenständigkeit der Ukraine zu Beginn der Sowjetunion sei, so Putin, ein Fehler gewesen: sie wäre immer ein Teil Russlands gewesen.
Da ist ein Faktencheck notwendig: Ja, die Ukraine war über die längste Zeit kein eigenständiger Staat. Was wir als Ukraine kennen, gehörte zu sehr unterschiedlichen Grossreichen. Das war Polen-Litauen, Teile der Ukraine gehörten aber auch zur Habsburger Monarchie, zum Russischen Reich, teilweise zum Osmanischen Reich. Das lag an der Sozialstruktur: die Ukraine bestand aus einer eher bäuerlichen Bevölkerung und andere traten als Gutsherrschaft oder als Verwaltungsherrschaft auf.
Trotzdem versteht sich die Ukraine heute als souveräner Staat mit einer langen Tradition, die auf die Kiewer Rus um das Jahr 1000 nach Christus zurückgeht (Anm. d. Red.: Die Kiewer Rus war ein mittelalterliches, altostslawisches Grossreich, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus gilt). Aber auch Russland beansprucht die Kiewer Rus als Ursprung für die heutige russische Nation. Es ist ein Kampf um die Kiewer Rus – es geht also quasi darum, wem die Geschichte gehört. Das aber ist Teil von Geschichtskonstruktionen. Die Geschichte gehört niemandem.
Wie hat sich der Westen zu dieser Frage gestellt?
Auch im Westen wurde der Ukraine sehr oft abgesprochen, dass sie ein eigener Staat oder eine eigene Nation sei. Auch noch beim «Euromaidan» 2014 war das spürbar, als es in Fachkreisen von Osteuropaexpertinnen und -experten einen teilweise heftigen Streit gab. Viele sagten, «die Ukraine gehörte doch immer zu Russland, sollen die das doch haben». Diese Sichtweise ignoriert, dass schon früher die Menschen in der Ukraine sich als eigene nationale Gemeinschaft verstanden haben und es Bestrebungen für einen eigenen Staat gab. Das geht auf die Kosaken-Gemeinschaften am Dnjepr im 17. Jahrhundert zurück, die so etwas wie einen Protonationalismus herausgebildet haben. Im 19. Jahrhundert kam es tatsächlich zu einer Nationalbewegung und einem eigenen nationalen Verständnis.
Spätestens seit 1991 ist die Ukraine tatsächlich unabhängig, eine Mehrheit in der ukrainischen Sowjetrepublik hatte dafür gestimmt. 30 Jahre unabhängiger Staat kann und darf man völkerrechtlich nicht ignorieren. Es gibt eine eigene ukrainische Sprache, sie ist kein Dialekt des Russischen, und eine eigene ukrainische Kultur.
Welche Folgen des Angriffskriegs sehen Sie als für die Ukraine wahrscheinlich an?
Ich glaube, dass die Ukraine als Nation sehr gestärkt aus dem Krieg hervorgehen wird. Die halten wahnsinnig zusammen. Es ist ein Zeichen von Mut und Tapferkeit und ein Zusammenhalt, der uns alle, glaube ich, wahnsinnig erstaunt. Und diesen Menschen wird nun fürchterliches Leid angetan. Die Ukraine wird am Ende nicht die militärische Gewinnerin, sondern die moralische Gewinnerin sein. Aber die Verluste werden sehr herbe sein. Wahrscheinlich wird es auch zu Territorialverlusten kommen.