Ukraine-Krieg: Geschichte als Waffe

Was sind die Hintergründe des Ukraine-Kriegs seitens Russlands und der Ukraine, welche Fehler hat der Westen gemacht und wie steht es um den Rückhalt für Putin in der russischen Bevölkerung? Osteuropa-Expertin Carmen Scheide gibt Antworten und schätzt ein, wie die ukrainische Nation aus dem Krieg hervorgehen wird.

Wie sich der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine historisch einbetten lässt, erklärt die Geschichtswissenschaftlerin Carmen Scheide von der Universität Bern. Das Bild zeigt ukrainische Menschen auf der Flucht beim Überqueren der polnischen Grenze © wikicommons
Flüchtende ukrainische Menschen beim Überqueren der polnischen Grenze am 7. März 2022 (© wikicommons). Wie sich der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, vor dem bislang über zwei Millionen Menschen geflohen sind, historisch einbetten lässt, erklärt die Geschichtswissenschaftlerin Dr. habil. Carmen Scheide von der Universität Bern.
Welche Ursachen liegen der Invasion Russlands in die Ukraine aus sicherheitspolitischer Sicht zugrunde?

Die Ursachen sind sehr komplex und liegen, grob gesagt, in zwei unterschiedlichen Entwicklungen der Ukraine und Russlands seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991. Die Ukraine hat keinen linearen, aber doch einen klaren Weg Richtung Westen eingeschlagen, spätestens 2014 mit den Maidan-Unruhen, als klar war, dass es freie Wahlen und eine starke Zivilgesellschaft gibt. Auch hat die Ukraine in den letzten Jahren enorm erfolgreiche Reformprojekte auf den Weg gebracht, allen voran die Umorganisierung der kommunalen Selbstverwaltung: die Macht wurde von Kiew tatsächlich an die Regionen weitergegeben, was im Land für eine starke Demokratisierung gesorgt hat.

In Russland haben wir eine andere Entwicklung: Seit 2000 regiert ununterbrochen Putin. Die kurze Präsidentschaft von Medwedew war nur ein Scheinwechsel. Putin konnte so Strukturen aufbauen, von denen zu Recht als «System Putin» und als «Vertikale der Macht» gesprochen wird. Putins Verständnis vom Staat ist ein vormodernes Staatsverständnis, in dem es um die Absicherung einer autoritären Herrschaft geht. Dazu arbeitet Putin eng mit Militär und Geheimdienst zusammen und schürt über Privilegien-Systeme möglichst stabile Loyalitäten. Das ist durchaus mit der Kommunistischen Partei am Ende der Sowjetunion vergleichbar.

«System Putin»: Das vormoderne Staatsverständnis Putins sieht vor, eine autoritäre Herrschaft abzusichern – wie die Kommunistische Partei am Ende der Sowjetunion, sagt Historikerin Carmen Scheide. © Pixabay
«System Putin»: Das vormoderne Staatsverständnis Putins sieht vor, eine autoritäre Herrschaft abzusichern – wie die Kommunistische Partei am Ende der Sowjetunion, sagt Historikerin Carmen Scheide. © Pixabay

Auf der Strecke blieb ganz klar, dass Politik sich auch um die Menschen im Land kümmern muss und die Aufgaben eines Staates antizipiert. Das sieht man in einem desolaten Sozialbereich. Putin hat in Reaktion auf das, was im postsowjetischen Raum geschah, spätestens seit 2004, die russische Zivilgesellschaft immer mehr eingeschränkt. Es gibt nur noch eine im sozialen Bereich tätige Zivilgesellschaft, die Putin sogar benutzt, weil der Staat hier so schlecht aufgestellt ist. Die politische Zivilgesellschaft hat Putin hingegen mit aller Gewalt unterdrückt, und noch mal sehr forciert seit 2012, als deutlich wurde, dass diese Präsidentenwahlen gefälscht waren. Putin hat aber Zuspruch im eigenen Land.

Welche Bedeutung haben in diesem Krieg die Nato und die europäischen Bemühungen um eine neue Sicherheitsordnung seit dem Zerfall der Sowjetunion?

Es gab Phasen der Abrüstung, es gab auch im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE immer wieder Gespräche zwischen der Nato und Russland. Heute sagt Putin, dass seine Sicherheitsinteressen durch die Nato nie gewahrt worden seien. Hier wird eine lange Aufarbeitung von allen Seiten notwendig sein: Was war die Rolle der USA? Wo hätte man Verhandlungschancen gehabt, tatsächlich eine europäische Sicherheitslösung zu schaffen? Putin hat allerdings nie akzeptiert, dass die freien Staaten in Osteuropa auch eine freie Bündniswahl haben.

Was spätestens seit 2004 immer schlechter wurde, ab 2007 fast nicht mehr und in den letzten Jahren gar nicht mehr funktioniert hat, war ein permanenter Dialog zwischen der Nato und Russland. Das war sicherlich auf allen Seiten ein riesengrosser Fehler: Hier nicht gemeinsam zu überlegen, und Gesprächsformate nicht zu pflegen. Also hat auch der Westen Fehler gemacht, die diese Eskalation erklären können. Aber Putin hat Völkerrecht gebrochen: Seinen Angriffskrieg kann kein Fehler der Vergangenheit rechtfertigen.
Die Gespräche zwischen der Nato und Russland wurden seit 2004 immer stärker vernachlässigt. Ein «riesengrosser Fehler», sagt Carmen Scheide. Das Bild zeigt die Nato-Aussenministerinnen und Aussenminister bei einem Treffen in Brüssel 2021. © Wikicommons
Die Gespräche zwischen der Nato und Russland wurden seit 2004 immer stärker vernachlässigt. Ein «riesengrosser Fehler», sagt Carmen Scheide. Das Bild zeigt die Nato-Aussenministerinnen und Aussenminister bei einem Treffen in Brüssel 2021. © Wikicommons
Um die tieferen historischen Dimensionen und damit auch den ideologischen Überbau des Konflikts zu beleuchten: Worin unterscheiden sich die Perspektive Russlands und die Perspektive der Ukraine im Wesentlichen? 

Die Geschichte und die mit dem Konflikt verbundenen Weltbilder spielen sowohl aus der Perspektive der Ukraine als auch Russlands eine zentrale Rolle: Geschichte wird hier als eine Waffe eingesetzt. Putin hat in seinen Reden am 21. und 24. Februar 2022 klar gesagt, dass es für ihn keine Ukraine als Nation gibt, sondern er die Bevölkerung als «Kleinrussen» ansieht, die zu Russland gehören. Putins Vorstellung geht auf das 19. Jahrhundert zurück – eine imperiale Vorstellung. Die durch Lenin ermöglichte Eigenständigkeit der Ukraine zu Beginn der Sowjetunion sei, so Putin, ein Fehler gewesen: sie wäre immer ein Teil Russlands gewesen.

Da ist ein Faktencheck notwendig: Ja, die Ukraine war über die längste Zeit kein eigenständiger Staat. Was wir als Ukraine kennen, gehörte zu sehr unterschiedlichen Grossreichen. Das war Polen-Litauen, Teile der Ukraine gehörten aber auch zur Habsburger Monarchie, zum Russischen Reich, teilweise zum Osmanischen Reich. Das lag an der Sozialstruktur: die Ukraine bestand aus einer eher bäuerlichen Bevölkerung und andere traten als Gutsherrschaft oder als Verwaltungsherrschaft auf.

Trotzdem versteht sich die Ukraine heute als souveräner Staat mit einer langen Tradition, die auf die Kiewer Rus um das Jahr 1000 nach Christus zurückgeht (Anm. d. Red.: Die Kiewer Rus war ein mittelalterliches, altostslawisches Grossreich, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus gilt). Aber auch Russland beansprucht die Kiewer Rus als Ursprung für die heutige russische Nation. Es ist ein Kampf um die Kiewer Rus – es geht also quasi darum, wem die Geschichte gehört. Das aber ist Teil von Geschichtskonstruktionen. Die Geschichte gehört niemandem.

Wie hat sich der Westen zu dieser Frage gestellt?

Auch im Westen wurde der Ukraine sehr oft abgesprochen, dass sie ein eigener Staat oder eine eigene Nation sei. Auch noch beim «Euromaidan» 2014 war das spürbar, als es in Fachkreisen von Osteuropaexpertinnen und -experten einen teilweise heftigen Streit gab. Viele sagten, «die Ukraine gehörte doch immer zu Russland, sollen die das doch haben». Diese Sichtweise ignoriert, dass schon früher die Menschen in der Ukraine sich als eigene nationale Gemeinschaft verstanden haben und es Bestrebungen für einen eigenen Staat gab. Das geht auf die Kosaken-Gemeinschaften am Dnjepr im 17. Jahrhundert zurück, die so etwas wie einen Protonationalismus herausgebildet haben. Im 19. Jahrhundert kam es tatsächlich zu einer Nationalbewegung und einem eigenen nationalen Verständnis.

Spätestens seit 1991 ist die Ukraine tatsächlich unabhängig, eine Mehrheit in der ukrainischen Sowjetrepublik hatte dafür gestimmt. 30 Jahre unabhängiger Staat kann und darf man völkerrechtlich nicht ignorieren. Es gibt eine eigene ukrainische Sprache, sie ist kein Dialekt des Russischen, und eine eigene ukrainische Kultur.

Welche Folgen des Angriffskriegs sehen Sie als für die Ukraine wahrscheinlich an? 

Ich glaube, dass die Ukraine als Nation sehr gestärkt aus dem Krieg hervorgehen wird. Die halten wahnsinnig zusammen. Es ist ein Zeichen von Mut und Tapferkeit und ein Zusammenhalt, der uns alle, glaube ich, wahnsinnig erstaunt. Und diesen Menschen wird nun fürchterliches Leid angetan. Die Ukraine wird am Ende nicht die militärische Gewinnerin, sondern die moralische Gewinnerin sein. Aber die Verluste werden sehr herbe sein. Wahrscheinlich wird es auch zu Territorialverlusten kommen.

Carmen Scheide: «Die Ukraine wird am Ende nicht die militärische Gewinnerin, sondern die moralische Gewinnerin sein.» © zvg
Carmen Scheide: «Die Ukraine wird am Ende nicht die militärische Gewinnerin, sondern die moralische Gewinnerin sein.» © zvg
Die Universität Bern hat ihre Solidarität erklärt und ist bereits aktiv geworden …

Ja. Das gleiche muss es aber auch für russische Forschende geben, die unter Druck geraten, weil sie sich mit der Ukraine solidarisieren. Man muss jetzt sehr genau aufpassen, dass man nicht Russland aus allem ausschliesst. Im Gegenteil: Wir müssen auch die liberalen Russinnen und Russen zwingend unterstützen, da sie vor einer Verhaftung aus Russland fliehen müssen, weil sie beispielsweise eine Petition gegen den Krieg unterschrieben haben.

Wir gross schätzen Sie den Rückhalt für Putin in der russischen Bevölkerung ein und welche Chancen sehen Sie, dass sie von dem durch die massive inländische Propaganda geschürten Glauben abfällt und sich gegen Putin auflehnt?

Die Perspektive des Westens ist stark auf Moskau und vielleicht noch St. Petersburg gerichtet, also auf urbane Eliten, wo es immer noch ein liberales Potenzial mit klaren kritischen Haltungen gegenüber dem Krieg gibt. Von dort kommen auch die Bilder protestierender Menschen. Es ist auch ein sehr wichtiges Zeichen, dass wir diesen kritischen Menschen Raum geben. Wir sehen aber keine Bilder von dem riesigen übrigen Land und seinen Menschen. Wahrscheinlich steht dort eine Mehrheit hinter Putin und hat auch kaum Zugang zu anderen Medien als den russischen Staatsmedien. Insbesondere das staatliche Fernsehen ist immer noch ein Leitmedium, das seit Jahren klare Sprachregelungen hat.

Selbst wenn jetzt mehr russische Mütter und Väter fragen, was mit ihren Söhnen passiert, die, ohne es zu wissen, zu einem Einsatz im Angriffskrieg gegen die Ukraine geschickt werden und als tote Söhne zurückkehren – ein sehr empfindlicher Punkt, den wir von den Soldatenmüttern aus dem Tschetschenien-Krieg kennen – ist es nicht so, dass die Mehrheit der Leute wahrscheinlich einen Aufstand machen wird. Am ehesten noch vorstellbar ist, dass sich die Lebensverhältnisse durch die Sanktionen so stark verschlechtern, dass der Protest aus sozialen Gründen gross wird.

Wenn russische Soldaten als tote Söhne zu ihren Müttern zurückkehren, wird dies allein nicht zu einem Aufstand der Bevölkerung Russlands führen, meint Carmen Scheide. Das Bild zeigt russische Soldaten 2000 in Tschetschenien © Wikicommons
Wenn russische Soldaten als tote Söhne zu ihren Müttern zurückkehren, wird dies allein nicht zu einem Aufstand der Bevölkerung Russlands führen, meint Carmen Scheide. Das Bild zeigt russische Soldaten 2000 in Tschetschenien © Wikicommons
Ich glaube, dass die Leute, wie wir es aus der späten Sowjetzeit kennen, sich politisch passiv verhalten und sich zurückziehen. Es ist schwierig, eine Opposition aufzubauen, wenn man vergiftet oder verhaftet wird, wenn alles unterdrückt wird. Wer ist denn schon so mutig und geht auf die Strasse, um sich freiwillig verhaften zu lassen, wenn man Kinder hat? Ich erwarte daher keine Revolution in Russland, aber ich erwarte eine Erosion des Ganzen: Auf uns rollt die grosse Frage zu, wie es in den nächsten 10 bis 15 Jahren mit Russland weitergeht. Ich gehe von sehr grossen Veränderungen aus. In welche Richtungen wissen wir nicht, aber irgendwann ist die Zeit von Putin zu Ende.

Über Carmen Scheide

Dr. habil. Carmen Scheide ist als Historikerin Expertin für die Geschichte Osteuropas, im Besonderen für die Geschichte der Ukraine, Russlands und der Sowjetunion.

Carmen Scheide hat seit 2016 die Dozentur Geschichte Osteuropas am Historischen Institut der Universität Bern inne. Zuvor war sie auch an den Universitäten St. Gallen, Basel, Konstanz und Freiburg i.Br. tätig. In einem ihrer derzeitigen Forschungsvorhaben beschäftigt sich Carmen Scheide mit den «Kriegserfahrungen und Gewaltverarbeitungen in der ukrainischen Provinz, 1941 bis heute als europäische Verflechtungsgeschichte».

Kontakt:

carmen.scheide@unibe.ch
Webseite von Carmen Scheide

Universität Bern: Solidarität mit der Ukraine

Die Universität Bern verurteilt die Invasion Russlands in die Ukraine aufs Schärfste und unterstützt ukrainische Studierende und Forschende. Die Universität Bern steht solidarisch an der Seite der Ukraine und ihrer Hochschulen. Sie unterstützt die Erklärung von swissuniversities, den Aufruf des Hochschulnetzwerks The Guild sowie Statements ihrer Partner-Institutionen und Netzwerke zur Solidarität aller demokratischen Staaten mit der Ukraine.

Über die Autorin

Nina Jacobshagen ist Redakteurin und Themenverantwortliche für «Interkulturelles Wissen» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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