Toleranz, Selbstkritik und Lernfähigkeit

Was braucht es, dass gesellschaftliche Spaltungen eine Gesellschaft voranbringen statt zu spalten? Ein Interview mit Politikwissenschaftler Markus Freitag und Vizerektorin Virginia Richter, das soeben in der neuen UniPress-Ausgabe «Gespaltene Gesellschaft?» erschienen ist.

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Markus Freitag und Vizerektorin Prof. Dr. Virginia Richter, beide von der Universität Bern, vergleichen im Gespräch über gesellschaftliche Spaltungen die Schweiz mit anderen Ländern. © Dres Hubacher

Herr Freitag, die Pandemie ist zumindest in der Schweiz auf dem Rückzug und hat ihren Schrecken verloren. Beginnt jetzt auch für die gebeutelte Gesellschaft die Zeit der Heilung?
Markus Freitag: Manche Wunden werden sicher verheilen, aber es werden auch sichtbare Narben bleiben. Der Konflikt wird sich nach der Pandemie verlagern: Im Nachklang von Covid-19 werden wir uns die Frage stellen müssen, wie die krisenbedingten Löcher in der Staatskasse zu stopfen sind. Es wird zu Verteilungskämpfen kommen – auch in der Schweiz. 

Virginia Richter, die Pandemie hat aufgedeckt, was schon lange latent war: Gräben, die man bisher nur vage erahnte. Kam die massive Auflehnung der Massnahmengegner für Sie überraschend? 
Virginia Richter: Die Auseinandersetzung ist nicht schlagartig ausgebrochen. Schon in den Jahren zuvor hat sich der Ton verschärft. Die Flüchtlingskrise 2015 etwa polarisierte unser Land und Europa ebenfalls stark: Die einen riefen eine neue Willkommenskultur aus, die anderen wollten die Grenzen schliessen.

Dennoch hat die Pandemie weit stärker polarisiert …
Richter: Das stimmt. Denn im Unterschied zu eher abstrakten Konflikten wie der Migration betrifft uns die Pandemie alle sehr persönlich: in der körperlichen Unversehrtheit, in der persönlichen Freiheit, in den sozialen Kontakten. Daher war zu erwarten, dass sich daran besonders erbitterte Kämpfe entzünden. 

Wir erleben zwar Demos von Corona-Skeptikerinnen und -Skeptikern, aber grössere, themenübergreifende Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich oder die Reichsbürger in Deutschland fehlen hierzulande … 
Richter: Die Schweiz kennt eine hervorragende Kultur des Aushandelns. Die Demokratie ist hierzulande auf eine starke Bürgerbeteiligung angelegt, zudem konnte zweimal über das Covid-Gesetz abgestimmt werden. Das ist weltweit wohl einzigartig. Die Fähigkeit, sich gegenseitig zuzuhören, Kompromisse auszuhandeln und so das Gesicht zu wahren – das alles sind gute Voraussetzungen, um mit hoch kontroversen Fragen zivilisiert umgehen zu können.

«Eine hervorragende Kultur des Aushandelns»: Virginia Richter über das politische System der Schweiz © Dres Hubacher
«Eine hervorragende Kultur des Aushandelns»: Virginia Richter über das politische System der Schweiz © Dres Hubacher

Freitag: In Frankreich rumort es schon lange zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Das soziale und wirtschaftliche Gefälle in unserem Nachbarland hat eine ganz andere Qualität als jenes bei uns. Einer Landbevölkerung, die einen grossen Teil der Kosten etwaiger Benzinpreiserhöhungen zu tragen hat, steht eine Elite in den grossen Städten gegenüber, die keinerlei Bewusstsein für diese Ungleichheit hat und welche die Leidtragenden arrogant übergeht. In der Schweiz haben wir im Gegensatz dazu vielfältige wirtschaftliche und politische Verstrebungen, die verhindern, dass eine sich Region komplett abgehängt fühlt.

Also kann unser Föderalismus besser mit gesellschaftlichen Konflikten umgehen als der französische Zentralismus?
Freitag: Ja, bei uns gibt es verschiedene Mitsprachemöglichkeiten, neben föderalen Elementen wie dem Ständemehr auch die regelmässigen Abstimmungen auf allen Staatsebenen. Am Beispiel Pandemie: Nach der zweiten Covid-Abstimmung hat die Vehemenz der Proteste deutlich nachgelassen.

Richter: In Frankreich entlädt sich die Wut, weil einige Beschlüsse einsam vom Präsidenten gefällt werden. In Deutschland wiederum gibt es diese berühmt-berüchtigten Ministerpräsidentenkonferenzen. Sie sind im politischen System eigentlich gar nicht vorgesehen und werden entsprechend argwöhnisch beäugt. Ganz anders in der Schweiz: Hier macht der Bundesrat einen Vorschlag, schickt ihn in die Vernehmlassung, dann wird entschieden – das ist ein gut eingespielter demokratischer und transparenter Prozess.

Wie weit nützt unser Wohlstand, um mit Bedrohungen gelassener umzugehen?
Richter: Da ist schon etwas dran: Der Wohlstand in der Schweiz entschärft Konflikte. Die Impfverweigerer konnten sich ihre Haltung leisten, weil die Schweiz ein hervorragendes, allgemein zugängliches Gesundheitssystem bietet. In den USA hingegen stürzt ein schlecht krankenversicherter Covid-Patient in die Armut. 

Freitag: Unser Land kann einem Grossteil der Bevölkerung intakte Lebenschancen bieten. Es gibt kaum Abgehängte, wie man es aus Frankreich, Grossbritannien und den USA kennt. Das Bildungssystem ist ebenfalls eine zentrale Grösse: Jedem und jeder können wir einen Platz reservieren. Dazu kommen die vielfältigen Möglichkeiten, sich politisch einzubringen. Schliesslich bindet das System der Konkordanz Minderheiten ein. Natürlich kennt auch die Schweizer Demokratie Gewinnerinnen und Verlierer. Aber sie wechseln ab: Dass man als Gruppe bei Abstimmungen nicht immer auf der Verliererseite steht, ist ein wichtiges Signal.

Markus Freitag: «Das System der Konkordanz bindet Minderheiten ein». © Dres Hubacher
Markus Freitag: «Das System der Konkordanz bindet Minderheiten ein». © Dres Hubacher

In den USA machte die neue Linke mit Kampagnen wie «Me too» und «Black Lives Matter» auf sich aufmerksam, die auch in Europa wirken … 
Richter: … wobei ich ihre Vehemenz etwas hinterfrage, da wird einiges überzeichnet: Bei uns arbeitet doch die Mehrheit der so abgekanzelten «weissen Männer» teamorientiert, will sich nicht mit aller Macht durchsetzen und beteiligt sich an der Erziehungsarbeit. Umgekehrt sind auch die Reaktionen überzogen: Wer sich von «Me too» bedroht fühlt, ist eine kleine Minderheit – allerdings eine gut sichtbare. Dazu gehören auch Chefredaktoren und Professoren, die durchaus einen guten Zugang zu Medien haben und sich Gehör zu verschaffen wissen. Ausgerechnet diese lamentieren dann lautstark, wie rassistisch oder sexistisch es sei, wenn sie nicht länger nur als Individuum betrachtet werden. Statt ihre narzisstische Kränkung lautstark zu beklagen, sollten sie einsehen, dass alle Menschen zunächst einmal als Mitglieder sozialer Gruppen kategorisiert werden. 

Wie weit greifen diese Bewegungen Probleme auf, die auch bei uns tatsächlich existieren?
Freitag: Ich bin kein Experte für Identitätspolitik, stelle aber wie die Schriftstellerin Nele Pollatschek unlängst in «Die Zeit» fest, dass es zwei unversöhnliche Lager gibt: Die Universalisten pochen darauf, der Mensch könne nicht auf ein einziges Kriterium beschränkt werden, die Welt sei vielfältiger. Zudem sei es mit der Ungleichheit nicht so dramatisch und man solle doch die echten Probleme angehen, statt die Gesellschaft zu spalten. Das andere Lager, das sich der Identitätspolitik verschrieben hat, will den Benachteiligten eine Stimme geben und Ungleichheit aller Art radikal ausmerzen, etwa mit Quoten, einer gendergerechten Sprache oder Anti-Diskriminierungsmassnahmen.

Harmonie sieht anders aus …
Freitag: Aus meiner Sicht müssten beide Lager jeweils eine Frage für sich beantworten: Die Universalisten müssten zur Kenntnis nehmen, dass es durchaus objektiv feststellbare Ungerechtigkeiten gibt – und Wege aufzeigen, wie sie diese angehen wollen. Denn es ist heikel, aus einer Mehrheitsposition der Minderheit Vorgaben zu machen. Und den Identitätspolitikerinnen würde ich die Frage stellen, wie man es schafft, die von ihnen vertretenen Partikularinteressen so zu bündeln, dass die Gesellschaft nicht weiter fragmentiert wird und der soziale Kitt porös wird. Ziel muss es sein, dass sich die beiden Lager diesen Fragen stellen und aufeinander zugehen. 

Richter: Tatsächlich verabsolutieren sich beide Positionen und sehen den eigenen blinden Fleck nicht. Heilsam wäre eine gewisse Selbstbefragung, mehr Selbstskepsis. Die Umsetzung ist natürlich schwierig, weil sich die zwei Gruppen kaum treffen. Es tönt vielleicht naiv, aber am Schluss geht es schlicht darum, wieder miteinander zu reden.

Freitag: Viele kaprizieren sich auf ihrer Position. Bei diesem Scheuklappendenken wirken Social Media wie ein Katalysator: Sie ermöglichen Blasen, in denen es vor allem um Schlagworte geht. Es sind alte Werte, die nottun: Respekt, Zuhören, Toleranz. Man muss lernen, eine Meinung, die man zwar für falsch hält, trotzdem zu respektieren. Die Schweiz hat dafür gute Voraussetzungen, weil sie eine Kultur der Kompromisse lebt. Gemäss meinen Forschungen stufen sich 40 Prozent der Befragten als «verträglich» ein: Sie sind für Vermittlung zu haben.

Zum Sprechen gehört neuerdings auch das Gendern – das ist anstrengend …
Richter: In einer Gruppe kann man den ersten Schritt tun, indem man zu Beginn fragt, wie das Gegenüber angesprochen werden will. Die andere Seite könnte entgegenkommen, indem sie die politisch korrekte Anrede weniger hart einfordert. Immerhin haben nicht alle immer jede Verästelung der korrekten Anrede präsent. 

Wie mächtig ist denn Sprache überhaupt?
Richter: Sprache hat keine magische Kraft. Wer gendert, erhöht damit nicht automatisch den Frauenanteil in einem Verwaltungsrat. Aber Sprache verändert das Denken. Ob ich Nutte, Prostituierte oder Sexarbeiterin sage, produziert ein ganz anderes Bild. Leider verwenden wir Begriffe und Beschimpfungen oft gedankenlos.

Eine weitere Bruchlinie ist seit Jahrzehnten bekannt, wird jedoch erst seit kurzem politisch bewirtschaftet: Der Stadt-Land-Graben. Markus Freitag, Sie forschen zum Thema Agglomeration, zum Übergang von Stadt und Land. Hat sich diese Hassliebe in den letzten Jahren tatsächlich akzentuiert?
Freitag: Natürlich gibt es Unterschiede, was die politischen Einstellungen auf dem Land und in den Kernstädten angeht: Landwirtschaft, Aussenpolitik, Migration oder Gleichstellung. Doch diese Mentalitätsunterschiede sind nicht neu. Und streng genommen leben nur 15 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Wenn also «das Land» eine Volksabstimmung gewonnen hat, muss es schon den einen oder anderen Überläufer gegeben haben …

Oder leben auch in der Stadt «Ländlerinnen»? 
Freitag: Tatsächlich verstehen sich viele Menschen als «Menschen vom Land», obwohl sie gemäss der strengen statistischen Definition nicht dort wohnen. Wir arbeiten gerade in einem europäischen Projektverbund zum Thema, um mehr Klarheit zu schaffen. In der Agglomeration etwa leben viele Menschen, die zwar in die Stadt pendeln, sich mental aber dem Land verbunden fühlen. Auch Kleinstädte scheinen von den Mentalitäten hie und da eher dem Ländlichen zugewandt. Von einem harschen Stadt-Land-Graben zu sprechen, greift also zu kurz.

Auch diesen Gegensatz scheint die Schweiz also ganz gut zu meistern. Könnte unser kleinteiliges Land sogar als Labor dienen, um Lösungsansätze zu entwickeln, die auch andernorts greifen?
Freitag: Ich lebe seit über 25 Jahren in der Schweiz und bin durchaus der Meinung, dass hier Innovationen durch die Kleinteiligkeit gefördert werden. Die föderale Struktur ist ein wunderbares Experimentierfeld zur Entwicklung neuer Ideen.

Blicken wir in die Zukunft: Welche gesellschaftlichen Konflikte warten noch auf uns?
Freitag: Falls die Pandemie wirklich vorbei ist, wird uns die Umwelt- und Klimakrise weiter beschäftigen, erst recht im Zuge der Verteilungskämpfe um knapper werdende finanzielle Ressourcen. Eine weitere Front könnte sich zwischen Alten und Jungen auftun, oder zwischen Anhängern der politischen Öffnung zur EU und Isolationistinnen.

Wie könnte sich die Gesellschaft rüsten, um konstruktiv mit alten und noch kommenden Spaltungen umzugehen?
Richter: Die grosse Gefahr ist die affektive Polarisierung: Dass man sich also mit seiner Gruppe komplett im Recht fühlt und mit anderen Gruppen keinen Dialog mehr führt. Ob es ums Private oder ums Politische geht: Wir mögen zwar furchtbar klug sein, aber auch wir können uns irren …

Soll die Universität ebenfalls etwas beitragen gegen spaltende Entwicklungen? 
Richter: Unbedingt! Als Bildungsinstitution ist es unsere Aufgabe, über die eigene Position zu reflektieren und sie zu objektivieren. Thesen sind nicht sakrosankt, sondern gehören diskutiert. An der Uni soll auch gelehrt werden, zur eigenen Idee auf Distanz zu gehen und liebgewordene Überzeugungen zu hinterfragen. So funktioniert nun mal Wissenschaft. Die Universität ist auch verantwortlich dafür, Lehrpersonen auszubilden, die dieses selbstkritische Denken weiter in die Bevölkerung und vor allem in die junge Generation hinaustragen.

Freitag: Da bin ich sehr einverstanden – umso mehr, als unser Berufsstand gelegentlich Mühe hat, sich von anderen Vorstellungen überzeugen zu lassen. Es wäre aber ganz allgemein wohltuend, nicht immer auf der eigenen Meinung zu beharren, eigene Fehler einzugestehen, andere Ideen zu akzeptieren – und dafür den anderen vielleicht sogar einmal ein Lob auszusprechen.

Neue UniPress-Ausgabe: «Gespaltene Gesellschaft?»

Dieses Interview ist soeben in der neuen Ausgabe des UniPress erschienen und wurde für «uniaktuell» leicht gekürzt übernommen.

Über Virginia Richter

Prof. Dr. Virginia Richter hat seit September 2007 die ordentliche Professur für moderne englische Literatur an der Universität Bern inne. Seit dem Frühjahr 2021 ist sie Präsidentin des Forums für Universität und Gesellschaft; Anfang August 2021 trat sie ihr Amt als Vizerektorin Entwicklung der Universität Bern an.

Kontakt:

virginia.richter@unibe.ch

Über Markus Freitag

Prof. Dr. Markus Freitag ist ordentlicher Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Er widmet sich der Einstellungs- und Verhaltensforschung in den Disziplinen der politischen Soziologie und politischen Psychologie.

Kontakt:

markus.freitag@unibe.ch
 

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