In den USA machte die neue Linke mit Kampagnen wie «Me too» und «Black Lives Matter» auf sich aufmerksam, die auch in Europa wirken …
Richter: … wobei ich ihre Vehemenz etwas hinterfrage, da wird einiges überzeichnet: Bei uns arbeitet doch die Mehrheit der so abgekanzelten «weissen Männer» teamorientiert, will sich nicht mit aller Macht durchsetzen und beteiligt sich an der Erziehungsarbeit. Umgekehrt sind auch die Reaktionen überzogen: Wer sich von «Me too» bedroht fühlt, ist eine kleine Minderheit – allerdings eine gut sichtbare. Dazu gehören auch Chefredaktoren und Professoren, die durchaus einen guten Zugang zu Medien haben und sich Gehör zu verschaffen wissen. Ausgerechnet diese lamentieren dann lautstark, wie rassistisch oder sexistisch es sei, wenn sie nicht länger nur als Individuum betrachtet werden. Statt ihre narzisstische Kränkung lautstark zu beklagen, sollten sie einsehen, dass alle Menschen zunächst einmal als Mitglieder sozialer Gruppen kategorisiert werden.
Wie weit greifen diese Bewegungen Probleme auf, die auch bei uns tatsächlich existieren?
Freitag: Ich bin kein Experte für Identitätspolitik, stelle aber wie die Schriftstellerin Nele Pollatschek unlängst in «Die Zeit» fest, dass es zwei unversöhnliche Lager gibt: Die Universalisten pochen darauf, der Mensch könne nicht auf ein einziges Kriterium beschränkt werden, die Welt sei vielfältiger. Zudem sei es mit der Ungleichheit nicht so dramatisch und man solle doch die echten Probleme angehen, statt die Gesellschaft zu spalten. Das andere Lager, das sich der Identitätspolitik verschrieben hat, will den Benachteiligten eine Stimme geben und Ungleichheit aller Art radikal ausmerzen, etwa mit Quoten, einer gendergerechten Sprache oder Anti-Diskriminierungsmassnahmen.
Harmonie sieht anders aus …
Freitag: Aus meiner Sicht müssten beide Lager jeweils eine Frage für sich beantworten: Die Universalisten müssten zur Kenntnis nehmen, dass es durchaus objektiv feststellbare Ungerechtigkeiten gibt – und Wege aufzeigen, wie sie diese angehen wollen. Denn es ist heikel, aus einer Mehrheitsposition der Minderheit Vorgaben zu machen. Und den Identitätspolitikerinnen würde ich die Frage stellen, wie man es schafft, die von ihnen vertretenen Partikularinteressen so zu bündeln, dass die Gesellschaft nicht weiter fragmentiert wird und der soziale Kitt porös wird. Ziel muss es sein, dass sich die beiden Lager diesen Fragen stellen und aufeinander zugehen.
Richter: Tatsächlich verabsolutieren sich beide Positionen und sehen den eigenen blinden Fleck nicht. Heilsam wäre eine gewisse Selbstbefragung, mehr Selbstskepsis. Die Umsetzung ist natürlich schwierig, weil sich die zwei Gruppen kaum treffen. Es tönt vielleicht naiv, aber am Schluss geht es schlicht darum, wieder miteinander zu reden.
Freitag: Viele kaprizieren sich auf ihrer Position. Bei diesem Scheuklappendenken wirken Social Media wie ein Katalysator: Sie ermöglichen Blasen, in denen es vor allem um Schlagworte geht. Es sind alte Werte, die nottun: Respekt, Zuhören, Toleranz. Man muss lernen, eine Meinung, die man zwar für falsch hält, trotzdem zu respektieren. Die Schweiz hat dafür gute Voraussetzungen, weil sie eine Kultur der Kompromisse lebt. Gemäss meinen Forschungen stufen sich 40 Prozent der Befragten als «verträglich» ein: Sie sind für Vermittlung zu haben.
Zum Sprechen gehört neuerdings auch das Gendern – das ist anstrengend …
Richter: In einer Gruppe kann man den ersten Schritt tun, indem man zu Beginn fragt, wie das Gegenüber angesprochen werden will. Die andere Seite könnte entgegenkommen, indem sie die politisch korrekte Anrede weniger hart einfordert. Immerhin haben nicht alle immer jede Verästelung der korrekten Anrede präsent.
Wie mächtig ist denn Sprache überhaupt?
Richter: Sprache hat keine magische Kraft. Wer gendert, erhöht damit nicht automatisch den Frauenanteil in einem Verwaltungsrat. Aber Sprache verändert das Denken. Ob ich Nutte, Prostituierte oder Sexarbeiterin sage, produziert ein ganz anderes Bild. Leider verwenden wir Begriffe und Beschimpfungen oft gedankenlos.
Eine weitere Bruchlinie ist seit Jahrzehnten bekannt, wird jedoch erst seit kurzem politisch bewirtschaftet: Der Stadt-Land-Graben. Markus Freitag, Sie forschen zum Thema Agglomeration, zum Übergang von Stadt und Land. Hat sich diese Hassliebe in den letzten Jahren tatsächlich akzentuiert?
Freitag: Natürlich gibt es Unterschiede, was die politischen Einstellungen auf dem Land und in den Kernstädten angeht: Landwirtschaft, Aussenpolitik, Migration oder Gleichstellung. Doch diese Mentalitätsunterschiede sind nicht neu. Und streng genommen leben nur 15 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Wenn also «das Land» eine Volksabstimmung gewonnen hat, muss es schon den einen oder anderen Überläufer gegeben haben …
Oder leben auch in der Stadt «Ländlerinnen»?
Freitag: Tatsächlich verstehen sich viele Menschen als «Menschen vom Land», obwohl sie gemäss der strengen statistischen Definition nicht dort wohnen. Wir arbeiten gerade in einem europäischen Projektverbund zum Thema, um mehr Klarheit zu schaffen. In der Agglomeration etwa leben viele Menschen, die zwar in die Stadt pendeln, sich mental aber dem Land verbunden fühlen. Auch Kleinstädte scheinen von den Mentalitäten hie und da eher dem Ländlichen zugewandt. Von einem harschen Stadt-Land-Graben zu sprechen, greift also zu kurz.
Auch diesen Gegensatz scheint die Schweiz also ganz gut zu meistern. Könnte unser kleinteiliges Land sogar als Labor dienen, um Lösungsansätze zu entwickeln, die auch andernorts greifen?
Freitag: Ich lebe seit über 25 Jahren in der Schweiz und bin durchaus der Meinung, dass hier Innovationen durch die Kleinteiligkeit gefördert werden. Die föderale Struktur ist ein wunderbares Experimentierfeld zur Entwicklung neuer Ideen.
Blicken wir in die Zukunft: Welche gesellschaftlichen Konflikte warten noch auf uns?
Freitag: Falls die Pandemie wirklich vorbei ist, wird uns die Umwelt- und Klimakrise weiter beschäftigen, erst recht im Zuge der Verteilungskämpfe um knapper werdende finanzielle Ressourcen. Eine weitere Front könnte sich zwischen Alten und Jungen auftun, oder zwischen Anhängern der politischen Öffnung zur EU und Isolationistinnen.
Wie könnte sich die Gesellschaft rüsten, um konstruktiv mit alten und noch kommenden Spaltungen umzugehen?
Richter: Die grosse Gefahr ist die affektive Polarisierung: Dass man sich also mit seiner Gruppe komplett im Recht fühlt und mit anderen Gruppen keinen Dialog mehr führt. Ob es ums Private oder ums Politische geht: Wir mögen zwar furchtbar klug sein, aber auch wir können uns irren …
Soll die Universität ebenfalls etwas beitragen gegen spaltende Entwicklungen?
Richter: Unbedingt! Als Bildungsinstitution ist es unsere Aufgabe, über die eigene Position zu reflektieren und sie zu objektivieren. Thesen sind nicht sakrosankt, sondern gehören diskutiert. An der Uni soll auch gelehrt werden, zur eigenen Idee auf Distanz zu gehen und liebgewordene Überzeugungen zu hinterfragen. So funktioniert nun mal Wissenschaft. Die Universität ist auch verantwortlich dafür, Lehrpersonen auszubilden, die dieses selbstkritische Denken weiter in die Bevölkerung und vor allem in die junge Generation hinaustragen.
Freitag: Da bin ich sehr einverstanden – umso mehr, als unser Berufsstand gelegentlich Mühe hat, sich von anderen Vorstellungen überzeugen zu lassen. Es wäre aber ganz allgemein wohltuend, nicht immer auf der eigenen Meinung zu beharren, eigene Fehler einzugestehen, andere Ideen zu akzeptieren – und dafür den anderen vielleicht sogar einmal ein Lob auszusprechen.