Speisetabus – die kulturelle Konstruktion des Ekels

Die meisten Gesellschaften kennen Speisetabus, die aber unterschiedliche Nahrungsmittel betreffen. Allein die Vorstellung, etwas Tabuisiertes zu essen, ruft bei ihren Mitgliedern Ekel hervor. Daraus ergibt sich das Paradox, dass ein unwillkürlicher körperlicher Affekt wie Ekel kulturell konstruiert wird.

Von Heinz-Peter Znoj 20. Dezember 2022

Heinzpeter Znoj isst im Haus der Religionen Bern ein ayurvedisch-koscher-vegetarisch-glutenfreies Menu. © Dres Hubacher

 

Nahrungsmitteltabus gibt es in fast allen Gesellschaften, und sie betreffen meistens Fleisch von bestimmten Tieren, selten auch Pflanzen – so dürfen etwa Angehörige der in Indien beheimateten Religion des Jainismus nicht nur kein Fleisch, sondern auch kein Wurzelgemüse essen. In der Schweiz sind Hunde- und Katzenfleisch tabu, in den angelsächsischen Ländern zusätzlich Pferdefleisch. Würde uns ein Teller mit Hunderagout vorgesetzt, würden wir ihn fast sicher empört und angewidert zurückweisen.

Speisetabus sind ein rätselhaftes Phänomen. Weshalb hat fast jede Gesellschaft solche Tabus? Wie kommt es, dass sie mit heftigem Widerwillen gegen die gemiedenen Speisen verbunden sind? Und warum bezeichnen wir sie überhaupt mit einem polynesischen Lehnwort?

Tabus überwinden wurde zur aufklärerischen Pflicht

Überliefert hat das Wort «tabu» James Cook im Logbuch seiner dritten Reise in den Pazifik 1777 anlässlich eines Besuchs auf Tonga: «Not one of them would sit down, or eat a bit of anything. ... On expressing my surprise at this, they were all taboo, as they said: which word has a very comprehensive meaning; but, in general, signifies that a thing is forbidden.»
Die als Tabu bezeichneten Meidungsgebote in Polynesien waren vor der Christianisierung äusserst streng. Die gewöhnliche Bevölkerung durfte gewisse Kultplätze nicht aufsuchen und bestimmte Gegenstände weder sehen noch berühren; Frauen durften nicht gemeinsam mit Männern essen und mussten bestimmte Speisen meiden, die Männern vorbehalten waren. Frauen und Männer durften die Totemtiere ihres Clans nicht essen. Bei Widerhandlung gegen eines der vielen Tabus drohten ihnen Krankheit und Tod – sei es als automatische Sanktion infolge des Tabubruchs selbst, sei es als Todesstrafe in Folge der Empörung, die er in der Gemeinschaft auslöste.


Den zeitgenössischen europäischen Beobachtern erschien dieses Tabusystem umständlich, schwer nachvollziehbar und mit willkürlicher Grausamkeit gegen jene verbunden, die dagegen verstiessen. Im Zeitalter der Aufklärung illustrierte das Tabu auf ideale Weise die angebliche Unfähigkeit der «Wilden», rational begründete Gesetze zum Wohle aller einzuführen. Das Tabu wurde so in Europa zum Inbegriff von Dogmatismus und Rückständigkeit, und seine Überwindung zur aufklärerischen Pflicht. So ging der Begriff in die europäischen Alltagssprachen ein und bezeichnet seither affektiv stark besetzte, sozial wirksame Verbote, die unabhängig von formellen rechtlichen Verboten bestehen können und sich meist einer rationalen Begründung entziehen. Bis heute haftet im allgemeinen Sprachgebrauch dem Begriff «Tabu» die Konnotation von Irrationalität und blindem Traditionalismus an: Tabus gelten oft als «falsch», und wer sie «durchbricht», gehört zur Avantgarde. Wer dagegen ein Tabu verteidigt, läuft Gefahr, als reaktionärer Kleingeist zu gelten.

Tabus haben eine rationale Begründung

Die Sozialanthropologie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, fremde Gesellschaften zu verstehen, hat demgegenüber immer versucht, selbst in Tabus eine verborgene Rationalität aufzudecken. Besonders hervorgetan hat sich dabei der amerikanische Kulturanthropologe Marvin Harris mit der These, dass Speisetabus grundsätzlich immer eine rationale Begründung in den ökologischen Umständen ihrer Entstehungszeit haben. Das Schweinefleischtabu in Judentum und Islam erklärt Harris damit, dass zu seiner Entstehungszeit im Nahen Osten die Wälder, der natürliche Lebensraum von Schweinen, zurückgegangen waren und Schweine deshalb auf Bauernhöfen gehalten und gefüttert werden mussten. So wurden sie zu Nahrungskonkurrenten der Menschen und, weil sie zudem auf unhygienische Weise in Ställe eingepfercht wurden, zur Gefahr für die menschliche Gesundheit. Das Verbot des Schweinefleischkonsums habe diese Gefahren ein für alle Mal gebannt.
Eine weitere Erklärung für die jüdischen Speisetabus gibt Mary Douglas. Sie verweist darauf, dass im Alten Testament die Speisetabus mit einem Klassifikationssystem für Tiere begründet werden. Nach Leviticus ist es den Juden und Jüdinnen erlaubt, wiederkäuende Paarhufer wie Ziegen, Schafe und Kühe zu essen. Weiter dürfen sie viele Tiere essen, die weder Wiederkäuer noch Paarhufer sind, wie zum Beispiel Hühner. Wiederkäuer ohne gespaltene Hufe, wie Hasen, sind dagegen verboten. Ebenso sind Paarhufer, die nicht wiederkäuen, wie eben Schweine, verboten. Mary Douglas argumentiert, dass die alttestamentarischen Speisetabus Tiere betreffen, die nicht in die Norm passen, dass Paarhufer meist auch Wiederkäuer sind, und Unpaarhufer gewöhnlich nicht wiederkäuen. Solche Tiere stören gewissermassen die natürliche Ordnung und gelten daher als unrein. Daraus leitet sie ab, dass Tabus Gegenstände und Handlungen betreffen, die gängigen Klassifikationsschemata widersprechen, die Ordnung und Orientierung in der Welt schaffen. Sie verwandeln die Klassifikationen, die einem Weltbild zugrunde liegen, in psychologische Reflexe.

Ich halte Douglas’ Interpretation von Tabus für besonders interessant, weil sie begreiflich macht, wie sich Tabus perpetuieren können: Sie können wichtige Bestandteile eines kohärenten Weltbildes sein, das über Generationen tradiert wird, lange nachdem seine Ursprünge in Vergessenheit geraten sind. Doch meines Erachtens kann sie damit lediglich den Konservatismus plausibel machen, mit der man an Tabus als unhinterfragten Regeln festhält. Den körperlichen Ekel vor dem verbotenen Fleisch kann sie mit ihrem Ansatz ebenso wenig erklären wie dies Harris mit der Erklärung von Speisetabus mit deren ökologischer Nützlichkeit kann. Der kollektiv empfundene Ekel ist jedoch meines Erachtens entscheidend für die Wirksamkeit von Speisetabus.

© Dres Hubacher

Ekel lässt sich gemeinsam erlernen

Dies zeigt sich am Beispiel einer zum Islam konvertierten Gruppe, die das Schweinefleischtabu erst dann konsequent beachtete, als die Mitglieder das damit verbundene Ekelgefühl kollektiv erlernt hatten. Sabine Zurschmitten untersuchte in ihrer Dissertation 2013, wie sich ein Dorf im Westen der Insel Flores in Indonesien in eine katholische und eine islamische Hälfte aufteilte. Ursprünglich waren dort Animismus und Ahnenkult praktiziert worden, und das Schwein war die Grundlage jedes rituellen Mahls. Im Zuge von Missionen bekannte sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts ein Teil des Dorfes zum Katholizismus und ein anderer zum Islam. Zunächst hatten diese unterschiedlichen Konfessionen keinen grossen Einfluss auf das Sozialleben im Dorf. Man heiratete weiterhin untereinander und veranstaltete gemeinsame Festessen, an denen auch nominelle Musliminnen und Muslime Schweinefleisch assen. Ab den 1980er-Jahren wurden an Festen getrennte Fleischgerichte für muslimische und katholische Gläubige eingeführt, doch man ass und feierte weiterhin gemeinsam. 20 Jahre später trennte sich die Festgemeinde für das Essen nach Religionsgruppen. Diese Trennung vollzog sich vor dem Hintergrund verschärfter konfessioneller Gegensätze in ganz Indonesien und damit einhergehend einer immer stärkeren öffentlichen Zurschaustellung der muslimischen Speisetabus einerseits und einer Zelebrierung des öffentlichen Konsums von Schweine- und Hundefleisch durch Christen und Christinnen andererseits. Hundefleisch war in ganz Flores traditionell gemieden worden, doch erhielt es im Zuge der Solidarisierung mit christlichen Gruppen in anderen Teilen Indonesiens, die teilweise traditionell Hundefleisch konsumieren, auch in Flores den Status einer «christlichen» Speise. Vor allem junge katholische Männer überwinden dafür demonstrativ ihren Ekel vor Hundefleisch. Musliminnen und Muslime reagierten in Gegenwart von essenden Katholikinnen und Katholiken immer stärker mit körperlichen Äusserungen des Ekels, worüber diese sich wiederum empörten, sodass im Dienste der Konfliktvermeidung auf das gemeinsame Essen verzichtet wurde. Interessant dabei ist, dass sich ältere Musliminnen und Muslime erinnern, bis in die 1980er-Jahre an Gemeinschaftsritualen selbst noch Schweinefleisch gegessen zu haben. Heute ekelt es sie jedoch, und sie geben an, selbst den Anblick Schweinefleisch essender katholischer Verwandter nicht mehr zu ertragen. Indem sie ihren Ekelempfindungen sichtbar Ausdruck verleihen, identifizieren sie sich affektiv mit der eigenen Gruppe und grenzen sich durch körperliche Aversion von der andern ab.

Kreativ mit Speisetabus umgehen

Dies bestätigt die These des Kulturpsychologen Paul Rozin, wonach der Ausdruck von Ekel, der ursprünglich, wie schon von Charles Darwin vermutet, der Warnung anderer vor unverträglicher Nahrung gedient hatte, im Lauf der menschlichen Evolution die Funktion übernahm, Widerwillen gegen normabweichendes Verhalten auszudrücken. Nahrungstabus vereinen beides: Sie sozialisieren den Ekel vor einer «unverträglichen» Nahrung und den Widerwillen, eine strikte soziale Norm zu durchbrechen. Ein Nebeneffekt solchen sozialisierten Widerwillens ist es, die Gruppenidentität gegenüber jenen zu stärken, die sich nicht an die eigenen Tabus halten.
Das Studium der Speisetabus richtet so die Aufmerksamkeit auf affektive Bindungs- und Abstossungskräfte in der Konstitution von Gesellschaft. Gerade in unserer multikulturellen Gesellschaft gilt es, sie nicht einfach als rückständig und irrational zu verurteilen, sondern im Dienste eines friedlichen Zusammenlebens zu respektieren und allenfalls kreativ damit umzugehen.

Über Heinzpeter Znoj

ist ordentlicher Professor am Institut für Sozialanthropologie und forscht in Indonesien zu traditioneller Landwirtschaft und zum Widerstand gegen Landnahmen durch Plantagenunternehmen. Zu seinen Interessen gehören das globale Nahrungsmittelsystem und die Anthropologie des Essens.

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