Psychische Krankheit und soziale Akzeptanz

Psychische Erkrankungen beeinflussen das Leben Betroffener umfassend. Der Berner Neurowissenschaftler Sebastian Walther sprach über Verbreitung und Folgen wie auch über die Entwicklung der gesellschaftlichen Akzeptanz. Zudem stellte er seine Forschung zur nonverbalen Kommunikation psychisch Erkrankter vor.

Von Salomé Zimmermann 15. November 2022

Prof. Dr. Sebastian Walther ist Chefarzt der Berner Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UPD sowie Professor für Neurowissenschaft an der Universität Bern. Alle Fotos © Universität Bern/Bild: Stefan Wermuth

 

Was stellen sich die meisten Menschen unter psychischer Krankheit vor? Mit dieser Frage eröffnete Sebastian Walther sein Referat im Rahmen der Vortragsreihe «Diversität» an der Universität Bern, organisiert von der Abteilung für Chancengleichheit. «Viele denken an schwere psychische Erkrankungen und entsprechend an Kliniken draussen vor der Stadt im Grünen, möglichst weit weg von der Gesellschaft – eine Vorstellung, die aus dem 18. Jahrhundert stammt», erläuterte der Professor und Chefarzt.

Sebastian Walther zeigte anhand von Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation WHO auf, dass psychische Erkrankungen im Gegensatz zu dieser veralteten und stigmatisierenden Vorstellung weit verbreitet sind und mitten in der Gesellschaft vorkommen. «Aktuell leidet jede siebte Person weltweit an einer psychischen Erkrankung», sagte Walther, «die Mehrheit davon an Angststörungen oder Depressionen». Depressionen seien weltweit ähnlich verbreitet, in Westeuropa gebe es aber etwas mehr Angststörungen als in anderen Erdteilen. Frauen sind insgesamt häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als Männer.

Besonders eindrücklich ist die Anzahl der Menschen, die mindestens einmal im Verlauf ihres Lebens eine psychische Erkrankung erleiden: Es handelt sich um ein Drittel der weltweiten Bevölkerung. Die Folgen sind massiv – für die Betroffenen, ihr Umfeld und die gesamte Gesellschaft. So verkürzten psychische Erkrankungen das Leben, erläuterte Walther. Vor allem durch Suizide, aber auch durch mannigfaltige körperliche Begleiterkrankungen gingen viele Lebensjahre verloren. Psychische Leiden würden sich auf alle Lebensbereiche auswirken: auf Wohnen und Haushalt, Familie und Freundschaften, auf Arbeit, Freizeit und gesellschaftliche Teilhabe.

Arbeit trotz psychischer Erkrankung

«Die meisten psychisch Erkrankten arbeiten trotz ihrer Beeinträchtigung, und das ist auch wichtig und gut so», sagte Walther. Unabdingbare Voraussetzungen dafür seien das Verständnis des Arbeitgebers, ein schrittweiser Wiedereinstieg und angepasste Arbeitsbedingungen.

Derzeit erfolgt laut Sebastian Walther ein bedeutsamer Schritt in Richtung mehr gesellschaftlicher Akzeptanz, welche dringend nötig sei. Und zwar geschehe dies dank prominenter Personen, die sich zu ihren psychischen Erkrankungen bekennen. «Niemand ist vor psychischer Erkrankung gefeit, auch wir Universitätsprofessoren beispielsweise nicht – es kann jeden und jede treffen», sagte Walther. In irgendeiner Form komme fast jeder Mensch in Kontakt mit psychischen Erkrankungen. Wenn nicht selbst betroffen, dann doch indirekt im privaten oder beruflichen Umfeld. Der Referent hob hervor, dass Abweichungen von der Norm neben den skizzierten Nachteilen auch Vorteile bringen können. So könnten etwa Teams bereichert werden durch spezifische Fähigkeiten mancher psychisch Erkrankter – beispielsweise durch deren Fokus auf Details, durch ausgeprägte Logik und Ausdauer, durch feine Wahrnehmung von Dissonanzen, durch Kreativität und flexibles Denken sowie durch Begeisterungsfähigkeit und prosoziales Verhalten. Entscheidend seien der jeweilige Blickwinkel auf die Eigenheiten und die jeweiligen Umstände.

Die gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Erkrankungen nehme zu und dies sei auch dringend nötig, so Sebastian Walther.

 

Psychische Krankheit und nonverbale Kommunikation

Nach diesen allgemeinen Ausführungen zu psychischen Erkrankungen richtete Sebastian Walther den Fokus auf seine aktuelle Forschung, welche die Veränderung des Sozialverhaltens bei schweren psychischen Erkrankungen untersucht. Zusammen mit seinem Team konnte er nachweisen, dass bei schizophrenen Patientinnen und Patienten die Gestik und Mimik deutlich verändert sind. Diese Störungen in der nonverbalen Kommunikation führen zu Missverständnissen und zu sozialem Ausschluss. Je auffälliger dieses Defizit in Gestik und Mimik sei, desto weniger gelinge es den Erkrankten, sich sozial zu integrieren. Die Neurowissenschaftlerinnen und Psychiaterinnen um Sebastian Walther erkannten, dass bei Menschen mit Schizophrenie die Struktur und Funktion des Netzwerkes im Gehirn verändert ist, das zur Planung und Interpretation von Gesten benötigt wird. Hier versucht die Forschungsgruppe, mittels Magnetstimulation kritische Bereiche gezielt anzuregen und mit Therapie zu ergänzen. «Wir bereiten gewissermassen das Hirn bestmöglich vor, damit die folgenden Psychotherapien besser anschlagen», so Walther. Diese Therapien bestünden unter anderem darin, mit den Betroffenen Gestik und Mimik zu trainieren, um die nonverbale Kommunikation zu erleichtern und dadurch den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.

«Wir untersuchen derzeit ebenfalls, ob dieses Training auch via Virtual Reality und mit digitalen Avataren geschehen könnte», sagte Sebastian Walther. Er und sein Team hoffen, dass mit den aus ihren Forschungen abgeleiteten Trainings und Therapien den Patientinnen und Patienten nachhaltig geholfen werden kann. Bei Erfolg könnte das Vorgehen auch auf andere psychische Erkrankungen ausgeweitet werden, so Walther.

Über Sebastian Walther

Prof. Dr. Sebastian Walther ist Chefarzt und stellvertretender Direktor der Berner Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, zudem Professor für Neurowissenschaft an der Universität Bern und Forschungsgruppenleiter des Zentrums für Translationale Forschung. Seine Forschung zielt darauf ab, problematische Verhaltensweisen psychisch Erkrankter zu verstehen und schliesslich Mittel zur Verringerung der Krankheitslast bereitzustellen.

Über die Vortragsreihe «Diversität»

Die Vortragsreihe zu Diversitätsforschung macht Berner Forschungsprojekte sichtbar, die verschiedene Aspekte von Diversität untersuchen. So kommen unterschiedlichste Perspektiven zusammen und regen interdisziplinäre Gespräche an. Die Referierenden sind Forschende aus allen Fakultäten der Universität Bern, da Diversitätsforschung in vielen Disziplinen betrieben wird. Zum Abschluss der Vortragsreihe wird an einem Podium über die Diversität an der Universität Bern sowie Chancen und Hürden diskutiert. Die Vorträge finden jeweils montags um 18.15 Uhr an der UniS, Schanzeneckstrasse 1 im Raum A022 statt.

Über die Abteilung für Chancengleichheit

Die Abteilung für Chancengleichheit der Universität Bern erarbeitet Massnahmen und ist Ansprechstelle für alle Universitätsangehörigen in folgenden Themengebieten: Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung / Behinderung, chronische Krankheiten und psychische Gesundheit / ethnische Herkunft (Sprache, Nationalität, Hautfarbe, Migrationserfahrung, Religion) / soziale Herkunft und Stellung / Alter.

Über die Autorin

Salomé Zimmermann ist Redaktorin an der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern und vor allem in der internen Kommunikation tätig.

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