Rückstände aus Medikamenten, Kosmetika, Pestiziden und Putzmitteln, sie alle werden in herkömmlichen Kläranlagen nur unzureichend zurückgehalten. Das ist ein Problem, denn die organischen Spurenstoffe, sogenannte Mikroverunreinigungen, können Fischen und anderen Lebewesen schaden. Was die Wissenschaft in den Neunzigerjahren erkannte, floss in den politischen Prozess ein: 2016 beschloss der Bundesrat, einen Fonds einzurichten, mit dem bis 2040 die Aufrüstung der 100 grössten Schweizer Abwasserreinigungsanlagen finanziert wird.
Klimawandel ist längst bekannt
Die Wissenschaft identifiziert ein Problem, entwickelt zusammen mit der Verwaltung eine Lösung und übergibt sie der Politik, die am Schluss den nötigen Entscheid fällt: «So funktioniert das Zusammenspiel der verschiedenen Player gemäss Lehrbuch», sagt Karin Ingold. Und dieses Zusammenspiel von belebter Umwelt und den Mechanismen der Politik faszinieren die Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Zu Beginn ihrer akademischen Laufbahn konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie sich mehr der Natur oder der Politikbeobachtung zuwenden sollte. Mit einem Spagat schafft sie nun beides: Ihr Lehrstuhl für Policy Analysis mit Schwerpunkt Umwelt (Policy Analysis and Environmental Governance [PEGO]) am Institut für Politikwissenschaft ist nicht nur in Bern, sondern auch in der Forschungsabteilung Umweltsozialwissenschaften der EAWAG in Dübendorf verankert, also am Wasserforschungsinstitut der ETH. So ist Ingold nahe an den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Gleichzeitig kann sie wissenschaftlich untersuchen, wie die Menschen auf Umweltprobleme reagieren. Dass sie zusätzlich als Vizepräsidentin des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung (OCCR) amtet, dokumentiert, wie wichtig ihr Klimafragen sind. Das Klima ist denn auch das Stichwort, auf das hin sie offen ihren Frust äussert: Dass der Klimawandel real sei, wisse man seit 30 Jahren. «Getan hat sich seither extrem wenig, sowohl auf persönlicher Ebene als auch in der Politik.» Ihren Studierenden sage sie deshalb ganz ehrlich, dass man sich bei ihr manchmal an einem «Depro-Thema» abarbeite.
Analysen am PC und Gespräche auf dem Acker
Das Beispiel der Mikroverunreinigungen taugt zwar für das Lehrbuch, ist aber nicht repräsentativ für den Gang der Umweltschutzregulierung in den besonders gemächlich mahlenden Mühlen der Schweizer Politik. In der direkten Demokratie gilt: «Streit braucht Zeit.» Ingold nimmts gelassen und sieht auch Vorteile im Schneckentempo, das der Politik manchmal attestiert wird. Denn was hierzulande einmal eingeführt ist, wird dafür so schnell nicht wieder umgestossen. «Die so erzielte breite Akzeptanz hilft dann der Umsetzung. Auch ohne Zwang sieht eine Mehrheit der Bevölkerung die Sinnhaftigkeit etwa von bleifreiem Benzin oder Tempolimits», ist Ingold überzeugt. Mit ihrem Team nimmt sie diese Prozesse unter die Lupe und analysiert sie, meist am Schreibtisch und vor dem Bildschirm. Daneben schätzt sie aber auch den persönlichen Kontakt. Dazu trifft sie sich mit Personen aus der kantonalen oder kommunalen Verwaltung, lässt sich etwa von einem Brunnenmeister in die Trinkwasserproblematik einer Landgemeinde einführen oder hört einer Bäuerin zu, die ihre Nöte schildert, wenn gewisse Pestizide verboten werden.
Auch mit Umweltministerin Simonetta Sommaruga tauscht sie sich regelmässig aus. Denn was in Sachen Klimaschutz nottut, ist an sich längst bekannt. Doch der Weg zum Ziel ist harzig. So könnte helfen, zu untersuchen, wie früher ein Umweltgesetz eine Mehrheit gefunden hat. Dabei hilft Ingolds Erfahrung, dass Wissenschaft nach ganz anderen Regeln und Rhythmen tickt als die Politik – und diese wieder anders funktioniert als die Verwaltung. Es braucht deshalb ein vertieftes Verständnis der verschiedenen Systeme, um eine Zusammenarbeit überhaupt zu ermöglichen. Erst dann kann auf eine erfolgreiche Umweltregulierung hingearbeitet werden.
Politprognosen sind ein hartes Metier
Klima, Biodiversität, Energie- und Wasserknappheit: Umweltkrisen und damit Forschungsobjekte gibt es zuhauf. Ingold weiss: Technik allein genügt zur Lösung nicht. Nach dem Muster der Coronapandemie eine neue Taskforce für ein neu erkanntes Problem aufzustellen, könne im Einzelfall helfen. «Immer hängt es jedoch von Menschen ab, die gut miteinander zusammenarbeiten.» In solchen interdisziplinären Teams müssen Umweltverbände, Gesellschaft und Wirtschaft vertreten sein. Am Schluss muss die Politik die Priorisierung übernehmen.