Heisst das, es liegt bei den einzelnen Forschenden, zu beurteilen, wie hoch das Missbrauchspotenzial eines Forschungsprojekts ist?
Abriel: Für viele Bereiche gibt es natürlich schon Regeln, insbesondere in Bezug auf Ethik und wissenschaftliche Integrität. Aber die Dual-Use-Problematik werden wir noch besser regeln müssen. Ein Beispiel, um die Problematik zu zeigen: die Gefahr von Dual Use of Artifical Intelligence to Drug Discovery. Mit künstlicher Intelligenz kann man sehr schnell extrem toxische Substanzen erstellen – innerhalb von sechs Stunden können 40 000 toxische Moleküle erfunden werden. Diese Technologie kann natürlich missbraucht werden.
Wie legt man denn die Grenzen der Forschung fest?
Kalt: Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Einflüsse aus der wissenschaftlichen Community und endet oft in einem Gesetz, einer Verordnung oder einer Bestimmung. Zudem baut Wissenschaft immer auf Bestehendem auf. Wenn Sie ein Forschungsprojekt lancieren möchten, orientieren Sie sich an bereits getätigter Forschung. Da wird meistens klar, was als ethisch vertretbar gilt und was nicht.
Abriel: Junge Forschende sind oft sehr ambitiös und haben diese grosse Neugier. Wenn sie dann aber Anträge schreiben müssen, sehen sie, dass das System zum Beispiel Bewilligungen für Tierversuche verlangt oder dass man klar formulieren muss, wofür man das Geld einsetzen will. Wir haben hier ja auch eine Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit Steuergeldern. Die Rolle der Universität und der Institutionen ist es, eine Umgebung zu schaffen, in der die Forschenden Verantwortung lernen und übernehmen können.
Kann man gute Forschung definieren?
Kalt: Der Begriff der Exzellenz steht schon im Gesetz über die Förderung der Forschung und der Innovation, und diesen Begriff haben wir beim SNF weiter definiert. Gute Forschung ist die, die uns einen möglichst grossen Schritt weiterbringt – aber nicht um jeden Preis. Die Frage muss originell, aber auch relevant sein. Das heisst, der Fortschritt, der erzielt werden kann, muss im jeweiligen Forschungsfeld bedeutend sein. Dann geht es auch darum, welche Methoden man anwendet. Man muss gründlich sein, die Methoden müssen nachhaltig sein, und man muss seine Arbeit nachvollziehbar machen, sodass die Ergebnisse reproduzierbar sind.
Abriel: Ich bin einverstanden, dass man gute Forschung so definieren kann. Für mich ist es jedoch schwierig, zu sagen, ein Ergebnis sei zu «klein». Sehr oft sind bei uns die Ergebnisse inkrementell – es geht also in ganz kleinen Schritten vorwärts. Solche Forschung ist für mich ebenfalls gute Forschung. Für mich zentral ist die Reproduzierbarkeit. Wenn ich weiss, dass ich ein Resultat aus unserem Schweizer Labor auch in einem Labor in Tokio erhalte, ist das gute Forschung. Diese Resultate sind robust.
Abriel: Den Begriff «scheitern» müsste man noch genauer definieren. Wir scheitern sehr oft im Labor, in dem Sinn, dass wir negative Resultate haben. Wir haben eine Hypothese, testen diese an zwei, drei Komponenten und stellen fest, dass die Resultate im Labor die Hypothese nicht unterstützen. Das heisst aber noch nicht, dass sie falsch ist. Für uns ist das deshalb kein Scheitern, sondern einfach ein negatives Resultat. Wir haben damit aber insofern ein Problem, als wir viel Zeit und Geld investiert haben, um dieses negative Resultat zu kriegen, und es fast unmöglich ist, dieses zu publizieren. So wissen die Kollegen nicht, dass sie diese Versuche nicht machen müssten.
Kalt: Und dann werden erneut öffentliche Mittel ausgegeben, um dasselbe zu untersuchen. Das ist ein echtes Problem – man nennt dies «Publikationsbias», weil viel mehr Studien mit positiven Resultaten publiziert werden. Der SNF unterstützt deshalb das Swiss Reproducibility Network.
Aktuell gibt es in den Medien viele Diskussionen über Fake News und auch über Pseudoforschung: Beschäftigen solche Vorurteile die Forschenden?
Kalt: Es ist wohl kein Problem für die Forschenden, aber für die Bevölkerung. Wie können sie noch unterscheiden, was aus einer vertrauenswürdigen und professionellen Quelle kommt und was nicht? Da denke ich schon, dass die öffentlichen Einrichtungen wie der SNF und auch die Hochschulen noch mehr machen könnten. Ich denke etwa an Beratungsstellen, wo die Leute einfach fragen könnten: Stimmt das oder stimmt das nicht? In die Wissenschaftskommunikation zu investieren, fände ich eine sehr gute Investition.
Welchen Stellenwert hat Wissenschaft in der Schweiz denn heute?
Abriel: Es gibt eine aktuelle Befragung: Wie hoch ist Ihr Vertrauen in die Wissenschaft? Sie zeigt, dass das Vertrauen sehr hoch ist. Interessant fand ich, dass die jüngere Generation noch mehr Vertrauen hat als die ältere – das hätte ich nicht gedacht.
Kalt: Vielleicht hängt das positive Bild der Wissenschaft damit zusammen, dass viele wissen, dass die «graue Masse» der Rohstoff der Schweiz ist. Und dass es eben ohne kluge Köpfe und neue Ideen keinen Fortschritt geben kann. Wissenschaft ist der Ursprung von vielem – es gibt nichts Neues ohne Wissenschaft, keine Antworten auf wichtige Fragen, keine Start-ups, keine Fachkräfte – der ganze Wirtschaftszyklus der Schweiz hängt sehr stark von der Wissenschaft ab.