Die einzigartige Expertise des AIUB im Gebiet der Fundamentalastronomie führt immer wieder zu internationalen Forschungskollaborationen, beispielsweise mit der ESA oder der NASA. Können Sie uns etwas darüber erzählen, inwiefern die Fundamentalastronomie für Weltraummissionen von Bedeutung ist?
Adrian Jäggi: Die Fundamentalastronomie definiert und realisiert Bezugssysteme am Himmel und auf der Erde. Prominente Anwendungen der Fundamentalastronomie sind, neben Sternkarten und Navigation, die Bestimmung von Bahnen von natürlichen Himmelsobjekten wie Planeten und Monden sowie von künstlichen Himmelsobjekten wie Satelliten und Satellitentrümmern im erdnahen Raum. Diese fundamentalastronomischen Grundlagen sind für Weltraummissionen unabdingbar, da die Flugbahnen von Raumsonden und Satelliten genaustens berechnet werden müssen. Zudem ist das AIUB an vorderster Front dabei, wenn es darum geht, Schwerefelder von Himmelskörpern, insbesondere der Erde, zu bestimmen.
Warum ist die Vermessung des Schwerefelds der Erde wichtig und welchen Forschungsbereichen nutzen die Daten?
Die Erde ist ein dynamischer Planet, der verschiedenen äusseren und inneren Prozessen unterworfen ist. Massenbewegungen im Erdinnern und an der Erdoberfläche verändern die Massenverteilung und somit auch das Schwerefeld der Erde. Ein prominentes Beispiel dafür ist das Abschmelzen der Eismassen, zum Beispiel in Grönland und der Antarktis, das durch den Klimawandel verursacht wird. Die Veränderungen des Schwerefeldes der Erde sind für die Forschung in den Bereichen Hydrologie, Klimamodellierung, Eisbeobachtung, Geodäsie, Geophysik, Ozeanographie, Atmosphäre und ganz allgemein der Umweltwissenschaften von Bedeutung.
Mit dem Observatorium Zimmerwald verfügt das AIUB über das weltweit grösste optische Observatorium zum Aufspüren von Weltraumschrott. Warum ist die Beobachtung und Katalogisierung von Weltraumschrott wichtig und was ist die grösste Herausforderung dabei?
Seit Sputnik I wurden mit über 6’250 Raketenstarts Satelliten in den Weltraum geschickt. Ausgediente Satelliten, zusammen mit ausgebrannten Oberstufen, Verschalungen, Adaptern, Bolzen, Fragmenten von Explosionen und Kollisionen et cetera, umkreisen die Erde als sogenannter Weltraumschrott, auf Englisch Space Debris). Heute sind dies eine Million Teile, die grösser als ein Zentimeter sind! Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit stellen sie eine steigende Gefahr für die bemannte und die unbemannte Raumfahrt dar. Die Beobachtung, Katalogisierung und Bestimmung der Bahnen dieser Schrottteile erlaubt es erst, ihnen mit aktiven Satelliten oder den Weltraumstationen auszuweichen. Die grösste Herausforderung ist sicher, kleine Teile von 10 Zentimeter Durchmesser in Distanzen von bis zu 40'000 Kilometern zu finden und zuverlässig zu verfolgen – es ist die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Können Sie uns etwas über die Alte Sternwarte Uraniae erzählen?
Die Uraniae wurde 1822 am heutigen Standort des Gebäudes für Exakte Wissenschaften erbaut, dem ExWi an der Sidlerstrasse – exakt an dem Punkt, der später den Ursprung der Schweizerischen Landesvermessung definierte. An dieser Sternwarte wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Sonnenfleckenzyklus entdeckt. Zudem war sie eine der ersten Sternwarten überhaupt, an der selbstregistrierende meteorologische Instrumente eingesetzt wurden.
Zum Doppeljubiläum erscheint eine umfangreiche, reich bebilderte Festschrift. Was hat Sie im Zuge der Aufarbeitung der Geschichte des AIUB am meisten überrascht?
Das unglaublich schöne und vielfältige noch existierende Bildmaterial. Dieses wurde in mühsamer und akribischer Arbeit über mehrere Jahre aus den verschiedensten Archiven, Bibliotheken und Privatbeständen aufgespürt und zusammengetragen. Es war verblüffend, was da alles zum Vorschein kam, wenn man nur systematisch und sorgfältig danach sucht. Viele alte Fotografien sind wahre Trouvaillen. Dieses reichhaltige Bildmaterial dürfte auch für künftige wissenschaftshistorische Forschungen eine solide Grundlage bieten, zusammen mit den umfangreichen Literaturangaben, die in der Festschrift aufgeführt sind.
Wie wird sich das AIUB weiterentwickeln? Welches sind Ihre Wünsche zum Jubiläum fürs AIUB?
Das AIUB wird weiterhin bestrebt sein, die gesamte Kette zu bearbeiten: von den Messkonzepten und der Beobachtungsinfrastruktur über die Analyse- und Modellierungsmethoden bis hin zur Generierung der wissenschaftlichen Resultate im Bereich der Fundamentalastronomie. Zudem wird es bestrebt sein, auf Paradigmenwechsel, die sich insbesondere durch die Entwicklung neuer Technologien ergeben, zu reagieren. Idealerweise wird es dem AIUB gelingen, auch in nah verwandte Gebiete seine Expertise verstärkt einzubringen und mit seinen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen Beiträge zu interdisziplinären Fragestellungen zu leisten. Ich wünsche dem AIUB jedenfalls alles Gute und weiterhin viel Erfolg in Forschung und Lehre, so dass die nächste Generation in 100 Jahren wieder ein tolles Jubiläum feiern können wird.