«Man muss miteinander reden»

Kirche versus Denkmalpflege: Waren es zuvor Kirchenumnutzungen, haben sich beide Parteien nun über die flexible Nutzung von Kirchen verständigt. Der Vierte Schweizer Kirchenbautag ermöglichte ihnen ein fruchtbares Miteinander – auf wissenschaftlicher Basis. Ein Interview mit dem Organisator Johannes Stückelberger.

Interview: Nina Jacobshagen 01. September 2021

Am Vierten Schweizer Kirchenbautag - er fand am 27. August 2021 an der Universität Bern statt - verständigten sich Vertreterinnen und Vertreter aus Kirche und Denkmalpflege über die flexible Nutzung von Kirchen. Das Bild entstand in der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich und zeigt beispielhaft eine solche flexible Nutzung © Citykirche Offener St. Jakob, Zürich
Am Vierten Schweizer Kirchenbautag - er fand am 27. August 2021 an der Universität Bern statt - verständigten sich Vertreterinnen und Vertreter aus Kirche und Denkmalpflege über die flexible Nutzung von Kirchen. Das Bild entstand in der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich und zeigt beispielhaft eine solche flexible Nutzung © Citykirche Offener St. Jakob, Zürich
Herr Stückelberger, wie lassen sich die Ergebnisse der Tagung zusammenfassen?

Ich nenne drei Ergebnisse: Erstens konnten wir feststellen, dass heute sehr viele Kirchgemeinden den Wunsch nach einer flexiblen Nutzung und damit auch nach einer flexiblen Gestaltung ihrer Kirchenräume haben. Zweitens haben wir gesehen, dass es inzwischen eine Reihe von Beispielen gibt, bei denen das Anliegen überzeugend umgesetzt wurde. Drittens haben wir aber auch Beispiele diskutiert, bei denen es zu Konflikten kam zwischen der Denkmalpflege und den Kirchenbehörden. Wir haben festgestellt, dass bei diesen Konflikten oft gegenseitige Vorurteile eine Rolle spielen, dass es zu Grenzüberschreitungen kommt und dass man generell voneinander zu wenig weiss.

Wären diese Ergebnisse auch ohne eine solche Tagung möglich gewesen?

Die Beispiele, die vorgestellt wurden, kann man auch publizieren, was wir auf der Webseite des Schweizer Kirchenbautags bereits getan haben. Aber über die Prozesse, die zum Gelingen oder zum Scheitern einer Neugestaltung führen, muss man miteinander reden. Wir sind unendlich dankbar, dass die Tagung als Präsenzveranstaltung stattfinden konnte. Denn um sich wirklich zu verstehen und um Vertrauen zueinander zu finden, muss man sich sehen. Diese Vertrauensbildung ist ein Hauptziel des Schweizer Kirchenbautags. Die Erkenntnisse aus der Tagung werden nun verschriftlicht: in Form eines Memorandums mit dem Arbeitstitel «Sanierung und Neugestaltung von Kirchenräumen. Eine gemeinsame Aufgabe von Kirche und Denkmalpflege».

«Über die Prozesse, die zum Gelingen oder zum Scheitern einer Neugestaltung führen, muss man miteinander reden», sagt Prof. Dr. Johannes Stückelberger von der Universität Bern. Er ist Gründer und Organisator des alle zwei Jahre stattfindenden Schweizer Kirchenbautags. © Werner Rolli
Was versprechen Sie sich von diesem Memorandum?

Ich erhoffe mir, dass es zu einem besseren gegenseitigen Verständnis des Auftrags der Kirchen und der Denkmalpflege führt. Die Kirchgemeinden haben den Auftrag, kirchliches Leben zu ermöglichen. Ihre Nutzung der Kirchen dient diesem Auftrag. Der Auftrag der Denkmalpflege ist der Erhalt des kulturellen Erbes. Wo es um die Neugestaltung eines Kirchenraumes geht, müssen die beiden Parteien eine Lösung finden, die beiden Aufträgen Genüge tut. Die Publikation möchte eine Hilfestellung bieten für eine Zusammenarbeit von Kirche und Denkmalpflege auf Augenhöhe.

Was ist in Ihren Augen ein besonders gut gelungenes Beispiel für die Neugestaltung einer Kirche, die eine flexible Nutzung zulässt?

Ich nenne als Beispiel die reformierte Kirche Geissberg in Langenthal. Im Zuge ihrer Neugestaltung hat man sämtliche Kirchenbänke entfernt. An ihre Stelle kamen leichte Kurzbänke, die sich verschieben lassen. So kann man je nach Anlass die Sitze anders anordnen: bei grossen Gottesdiensten ganz klassisch nach vorne, bei kleineren um den Abendmahlstisch und bei Theateraufführungen, für die man das Schiff als Bühne brauchen möchte, entlang der Längswände.

Weil der Abendmahlstisch neu im Schiff platziert wurde, ist nun im Chor Platz für Orchester, Chöre und andere Gruppen, die die Kirche für kulturelle Veranstaltungen nutzen wollen. Das Licht, die Heizung und die elektrische Steuerung wurden den Anforderungen einer flexiblen Nutzung des Raumes angepasst.

Reformierte Kirche Geissberg in Langenthal: Eine gelungene Umgestaltung für eine flexible Nutzung des Kirchenraums. © Jürgen Beck
An den Kirchenbautagen 2015 und 2017 wurde das Thema Kirchenumnutzung diskutiert. Was ist der Unterschied zu einer flexiblen Nutzung?

Der Unterschied ist ein gradueller. Mit Umnutzung verbindet man die Vorstellung von Abriss, Verkauf oder ganz anderer Nutzung. Wir haben jedoch damals festgestellt, dass diese Formen die Ausnahme sind. Viel häufiger sind erweiterte Nutzungen oder Zusammennutzungen, also Formen, bei denen die Kirchengebäude weiterhin kirchlich genutzt werden, zusätzlich aber weiteren Nutzungen zur Verfügung stehen, im Rahmen von temporären Vermietungen oder Dauervermietungen. Der diesjährige Kirchenbautag lenkte das Augenmerk darauf, welche Kriterien Räume erfüllen müssen, um erweiterten oder flexiblen Nutzungen zu dienen. Sie müssen flexibel gestaltet und gestaltbar sein.

Auf der Webseite des Schweizer Kirchenbautags gibt es Datenbanken zu Kirchenumnutzungen und zum Modernen Kirchenbau sowie eine Dokumentation Flexibler Kirchenräume. Was ist deren Ziel?

Wir wollen damit eine forschungsbasierte Grundlage für eine differenzierte Diskussion dieser Themen anbieten. Mit den 200 von uns zusammengetragenen Beispielen von Kirchenumnutzungen können wir zeigen, wie in der Schweiz mit diesem Thema umgegangen wird. Diese Datenbank wird rege besucht: von Gemeinden, die Umnutzungen ins Auge fassen, aber auch von den Medien. Die zweite Datenbank erfasst alle in der Schweiz seit 1950 gebauten modernen Kirchen, mehr als 1’000, eine Zahl, die wir nie erwartet hätten. Dieses Instrument dient unterschiedlichen Nutzern: den Kirchgemeinden, der Denkmalpflege, der Architekturgeschichte und dem Tourismus.

Über Johannes Stückelberger

Prof. Dr. Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen der moderne Kirchenbau, moderne Kunst und Religion, Erinnerungskultur und politische Ikonographie. Er ist Gründer und Organisator des alle zwei Jahre stattfindenden Schweizer Kirchenbautags, der sich aktuellen Fragen zum Kirchenbau in der Schweiz widmet. Der Kirchenbautag wird schweizweit wahrgenommen als Institution, die den Austausch zwischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern aus Kirche, Denkmalpflege, Universität und Öffentlichkeit fördert. Finanziert wird er ausschliesslich mit Drittmitteln von Sponsoren.

Vierter Schweizer Kirchenbautag

Am Vierten Schweizer Kirchenbautag, der am 27. August 2021 als Präsenzveranstaltung an der Universität Bern stattfinden konnte, nahmen 190 Personen, die in verschiedenen Funktionen mit Kirchenbau befasst sind, teil: als Bauverantwortliche von Kirchgemeinden und Pfarreien, als Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger, als Architektinnen und Architekten, als Spezialisten für Technisches und als Forschende. Die Tagung beschäftigte sich mit dem aktuellen Phänomen, dass viele Kirchgemeinden und Pfarreien heute den Wunsch äussern, ihre Kirchenräume flexibler nutzen zu können, was Anpassungen bezüglich Raumgestaltung, Sitzordnung, Licht, Akustik und Technik verlangt. In Vorträgen, Präsentationen, Diskussionen und einem Podiumsgespräch wurden die Hintergründe des Anliegens der Flexibilität analysiert, die Möglichkeiten für flexible Gestaltungen und Nutzungen von Kirchenräumen ausgelotet sowie anhand aktueller Neugestaltungen Fragen, Probleme und Lösungen diskutiert.

Über das Kompetenzzentrum Liturgik

Organisatorisch ist der Schweizer Kirchenbautag angegliedert an das Kompetenzzentrum Liturgik der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Das Kompetenzzentrum fördert und koordiniert Forschung, Lehre und Dienstleistungen in den Bereichen Liturgik, Homiletik, Hymnologie und Kirchenästhetik. Zentraler Gegenstand ist der Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart, verstanden als mehrdimensionales Handeln. Dazu gehören das gesprochene Wort, das liturgische Handeln, die gottesdienstliche Musik sowie der gottesdienstliche Raum und seine künstlerische Gestaltung.

Über die Autorin

Nina Jacobshagen ist Redakteurin und Themenverantwortliche für «Interkulturelles Wissen» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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