«Die Förderung sexueller Gesundheit hat ein enormes Potenzial»

Die Sexologin Stefanie Gonin-Spahni ist Studienleiterin des neuen Weiterbildungsgangs «Sexuelle Gesundheit», den das Institut für Psychologie ab nächstem Herbstsemester anbietet. Worum es darin geht, für wen es sich eignet und weshalb das Gesundheitssystem profitieren kann, erzählt sie im Interview.

Dr. phil. Stefanie Gonin-Spahni ist Sexologin und Studienleiterin des neuen CAS Sexuelle Gesundheit, den die Abteilung Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin am Institut für Psychologie ab Herbstsemester 2021 anbietet. @ Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel
Was versteht die Gesundheitspsychologie unter sexueller Gesundheit?

Stefanie Gonin-Spahni: Die Gesundheitspsychologie versteht sexuelle Gesundheit als wichtige Ressource und Teil der Gesundheit allgemein. Wie die WHO definiert sie diese nicht durch die Abwesenheit von Krankheiten und Funktionsstörungen, sondern als Zustand des Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität, welcher sich über das Zusammenspiel von Körper, Psyche und Lebenswelt erklärt. Sie setzt sexuelle Bildung und einen positiven Zugang zur Sexualität mit sich und anderen voraus. Und auch die Möglichkeit, genussvolle sexuelle Erfahrungen zu machen. Dafür entscheidend ist nicht alleine die Frage, ob das anatomische Geschlecht «funktioniert», sondern es braucht biologische, psychische und soziale Ressourcen.

Wie unterscheidet sich die sexuelle Gesundheit zwischen den Geschlechtern?

Das ist so allgemein schwer zu sagen, denn auch wenn Konsens darüber besteht, dass das biologische und das soziale Geschlecht zentrale Aspekte der Sexualität sind, ist der spezifische Einfluss auf die sexuelle Gesundheit noch nicht ausreichend erforscht. Beispielsweise ist bekannt, dass Geschlechtsunterschiede in sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen entgegen der gängigen Meinung meist marginal sind. Ausgenommen sind Masturbationshäufigkeit, Pornografiekonsum und die Einstellung gegenüber Gelegenheitssex. Hier zeigen Cis-Männer höhere Werte. Die Unterschiede sind umso kleiner, je mehr Geschlechtergleichheit es in einer Nation oder einer ethnischen Gruppe gibt.

Auch einzelne Ressourcen sexueller Gesundheit sind in Bezug auf Geschlechtsunterschiede untersucht worden, jedoch noch wenig in ihrer Wechselwirkung. Studien zeigen beispielsweise, dass Cis-Frauen häufiger als Cis-Männer Bedenken in Bezug auf ihr sexuelles Selbstbild berichten und dass das dazu beiträgt, dass sie weniger Orgasmen erleben. Cis-Männer zeigen dagegen im Durchschnitt geringere Kompetenzen in der sexuellen Kommunikation, konkret suchen sie weniger das Gespräch und haben mehr Mühe, ihre Vorlieben auszudrücken. Bekannt ist auch, dass sexuelle Schwierigkeiten je nach Quelle von 25 bis 63 Prozent der Cis-Frauen und 10 bis 52 Prozent der Cis-Männer berichtet werden. Nur ein kleiner Teil sucht aktiv eine Behandlung auf.

Die sexuelle Gesundheit von trans- und intergeschlechtlichen Menschen zeigt sich besonders vulnerabel, denn sie erfahren häufiger Vorurteile, institutionelle und individuelle Diskriminierung und Gewalt, auch in der Sexualität. Von der Förderung sexueller Gesundheit profitieren folglich alle Geschlechter.

Und wie unterscheidet sich die sexuelle Gesundheit zwischen den verschiedenen Altersgruppen?

Es liegt in der Natur des Menschen sich sein Leben lang zu entwickeln. Bei biologischen Veränderungen können ebenso wie bei Veränderungen in den Lebensumständen Schwierigkeiten oder Verunsicherungen in der Sexualität auftreten – über die ganze Lebensspanne. Mit dem Alter nehmen ausserdem chronische und onkologische Erkrankungen zu, was auch die Sexualität verändern oder einschränken kann. Dazu kommen Nebenwirkungen von Medikamenten, die sich auf die Sexualität auswirken können, aber häufig nicht besprochen werden. Durch die Tabuisierung der Sexualität im Alter zeigt sich hier ein besonderer Bedarf.

Stefanie Gonin-Spahni im Interview: Cis-Frauen berichten häufiger als Cis-Männer Bedenken in Bezug auf ihr sexuelles Selbstbild. Besonders vulnerabel zeigt sich die sexuelle Gesundheit von trans- und intergeschlechtlichen Menschen. @ Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel
Stefanie Gonin-Spahni im Interview: Cis-Frauen berichten häufiger als Cis-Männer Bedenken in Bezug auf ihr sexuelles Selbstbild. Besonders vulnerabel zeigt sich die sexuelle Gesundheit von trans- und intergeschlechtlichen Menschen. @ Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel
An wen richtet sich der CAS Sexuelle Gesundheit?

An Fachpersonen der Psychologie, Medizin und der Gesundheitsberufe, die sich Wissen und Methoden wünschen, um die Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der sexuellen Gesundheit in ihre tägliche Praxis zu integrieren.

Welchen Fachpersonen im Gesundheitswesen haben besonders häufig mit Fragen rund um die sexuelle Gesundheit zu tun?

Als erste Ansprechpersonen würde ich behaupten Hausärztinnen, Gynäkologen und Urologinnen. Aber auch in der psychologischen Beratung und Therapie Tätige, Pflegefachpersonen, Kardiologen, Onkologinnen oder Pneumologen werden damit in Berührung kommen. Wo es ums Menschsein und um Gesundheit geht, da tauchen immer auch Fragen und Anliegen zur Sexualität auf.

Sie haben den neuen Weiterbildungsgang lanciert, weil sich Ärztinnen, Psychologen und andere Gesundheitsfachpersonen auf dem Gebiet der sexuellen Gesundheit häufig als zu wenig kompetent ansehen, aber offenbar zunehmend mit Fragen zur sexuellen Gesundheit konfrontiert sind. Woher kommt diese Zunahme Ihrer Ansicht nach?

Ich sehe sie als Folge der Enttabuisierung sexueller Themen in der Gesellschaft und dem Bewusstsein darüber, dass sich Sexualität und Gesundheit verändern und sich auch beeinflussen lassen. Die Repräsentation der Sexualität in den Medien bringt neue Informationen aber auch Ideale, was wiederum neue Fragen und Anliegen hervorrufen kann.

Welche Vorteile bringt es dem Gesundheitssystem, wenn sich Gesundheitsfachleute auf dem Gebiet der sexuellen Gesundheit weiterbilden?

Die Förderung sexueller Gesundheit hat ein enormes Potenzial. Weil sie sich positiv auf das psychische und körperliche Wohlbefinden auswirkt und damit die Lebensqualität und die Gesundheit allgemein verbessert. Im Kontext psychischer oder körperlicher Krankheit unterstützt die Berücksichtigung der sexuellen Gesundheit die Compliance in der Therapie sowie die Krankheitsbewältigung. Beides trägt zur Entlastung des Gesundheitssystems bei.

Medienmitteilung «Neuer Weiterbildungsstudiengang zu sexueller Gesundheit» vom 30.3.2021

CAS Sexuelle Gesundheit

Der neue CAS Sexuelle Gesundheit ist ein Angebot der Abteilung Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin am Institut für Psychologie und startet im Herbstsemester 2021. Der Studiengang qualifiziert Fachpersonen aus Psychologie, Medizin und Gesundheitsberufen zur Integration sexueller Gesundheit in die Prävention und Gesundheitsförderung von Einzelpersonen, Paaren und Gruppen.

Im multidisziplinär konzipierten Programm werden aktuellste theoretische Konzepte und wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt, Techniken der Gesprächsführung geübt und Methoden der Diagnostik und Intervention kennengelernt. Die Verbindung von Psychologie und integrativer Medizin sowie von Theorie, Forschung und Anwendungsfeldern ermöglicht fundierte Ansätze, wie die sexuelle Gesundheit in die Gesundheitsversorgung integriert und gefördert werden kann.

Der CAS Sexuelle Gesundheit ist eine in sich abgeschlossene Weiterbildung. Sie ermöglicht über eLearning eine zeitlich flexible Auseinandersetzung mit den Grundlagen und eine individuelle Vertiefung des Angebots. An zehn Präsenztagen werden zentrale Inhalte vermittelt, der Austausch in der interdisziplinären Gruppe gefördert, Einblick und Transfer in die Praxis ermöglicht. 

Der CAS wird ein Modul des in der Kooperation der Universitäten Bern und Zürich entstehenden MAS in Gesundheitspsychologie sein.

Ein Info-Abend zum CAS Sexuelle Gesundheit findet am Mittwoch, 26. Mai 2021 um 18 Uhr online über Zoom statt.

Zur Person

Dr. phil. Stefanie Gonin-Spahni ist Studienleiterin des neuen CAS Sexuelle Gesundheit. Die Psychologin und Sexologin arbeitet in der Abteilung Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin am Institut für Psychologie.

 

 

Kontakt:

Dr. phil. Stefanie Gonin-Spahni
Institut für Psychologie, Universität Bern
Email: stefanie.spahni@psy.unibe.ch
Tel. +41 79 850 08 79

Zur Autorin

Nina Jacobshagen ist Redakteurin und Themenverantwortliche für «Interkulturelles Wissen» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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