Wie lässt sich die enorme Vielfalt im Sozialverhalten erklären?
Letztendlich geht es immer darum, Strategien zu entwickeln, die Organismen in der Konkurrenz um Ressourcen erfolgreich machen. Dafür reichen ganz wenige Prinzipien aus. Sie sind sehr einfach verständlich, und wir kennen sie alle aus unserem eigenen täglichen «Konkurrenzkampf»: Es sind dies: erstens anderen zuvorzukommen – das Prinzip «um die Wette rennen». Zweitens Ressourcen zu monopolisieren – das Prinzip «Konflikt» beziehungsweise «Kampf». Oder drittens sich mit anderen zu verbünden – das Prinzip «Teilen» beziehungsweise «Kooperation». Alle Verhaltensstrategien, die im sozialen Umfeld eingesetzt werden, lassen sich in diese drei Grundprinzipien einordnen, das gilt für alle Lebewesen, von Bakterien bis zum Menschen. Welche dieser Strategien jeweils zu einer grösseren genetischen Fitness führt – denn darum geht es ja immer in der Evolution – hängt vom eigenen Zustand und von den ökologischen und sozialen Bedingungen ab.
Das heisst verkürzt: Es gibt drei Voraussetzungen, auf die mit drei generellen Verhaltensstrategien reagiert werden kann. Damit lässt sich alles soziale Verhalten erklären?
Im Prinzip ja. Dass wir zeigen können, wie sich aus der unglaublichen Vielfalt von sozialem Verhalten – wir haben über 10’000 wissenschaftliche Artikel dafür berücksichtigt – einige wenige Strategien herauskristallisieren lassen, mit Hilfe derer sich Organismen in der Konkurrenz um Ressourcen bewähren können, hat uns auch sehr begeistert. Ich finde es rückblickend auch erstaunlich, dass bislang noch nicht erkannt wurde, welch einfache Prinzipien der Diversität sozialer Organisation zugrunde liegen, denn eigentlich liegen sie ja auf der Hand.
Man muss dazu sagen, dass die beiden ersten Prinzipien, also das Schneller-Sein und Monopolisieren, zwar einfach zu verstehen sind, es bei der Kooperation allerdings etwas komplizierter wird. Das Prinzip «Teilen» ist extrem weit verbreitet und hat ganz unterschiedliche Ausprägungsformen. Ein Grossteil der Fachliteratur beschäftigt sich mit dem Problem der Evolution kooperativen Verhaltens.
Können Sie uns die Funktionsweise der Kooperation etwas näher beschreiben?
Die Höherentwicklung – nicht nur von sozialen, sondern auch von biologischen Organisationformen im Allgemeinen – kann nur durch die Selektionsvorteile der Kooperation erklärt werden. Dass sich zum Beispiel Zellen zu einem Verband zusammenschliessen, ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt vielzellige Organismen entstehen können. Der menschliche Organismus besteht aus unzähligen Zellen, die zum Teil sehr verschiedene Aufgaben erfüllen, gemeinsam aber ein funktionierendes Individuum hervorbringen.
Die Brutpflege ist im Bereich des Sozialverhaltens eine Aufgabe, die das Prinzip der Kooperation gut illustriert. Der Aufwand, den Eltern betreiben, um ihre Nachkommen zu versorgen, schränkt ihre Möglichkeiten weiterer Reproduktion ein, ist also altruistisch. Nachkommen erben die genetische Veranlagung zur Brutpflegebereitschaft und tragen sie in die nächste Generation. Es ist jedoch schwieriger zu verstehen, warum sich oft auch nicht-Verwandte an der Brutpflege beteiligen. Hier herrscht in der Regel das Prinzip der Gegenseitigkeit vor. «Teure» Hilfeleistung wird mitunter durch andere Vorteile, zum Beispiel durch gewährten Schutz oder den Zugang zu wichtigen Ressourcen, zurückbezahlt.
Sie wurden 2020 emeritiert. Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Für das kommende Jahr bin ich als Fellow an das Wissenschaftskolleg Berlin eingeladen worden. Dort möchte ich eine Arbeit zur Evolution von Gesellschaften – als Fortsetzung zu dem Buch, das jetzt gerade erscheint – in Angriff nehmen. Diese Arbeit soll in Kollaboration auch mit den Sozialwissenschaften entstehen. Zuerst aber freue ich mich auf mein Emeritierungs-Symposium Anfang September, zu dem wir neben meinen beiden Co-Autoren viele internationale Kolleginnen und Kollegen und ehemalige Mitarbeitende meiner Gruppe nach Bern einladen konnten.