Afghanistan: «Die Schuldfrage ist eine moralische Frage ohne erklärende Kraft»

In Afghanistan überstürzen sich die Ereignisse. Die Taliban haben nach Abzug der Nato-Streitkräfte in kürzester Zeit die Macht im Land übernommen, über ein sich ausbreitendes Chaos und Panik unter der afghanischen Bevölkerung berichten fortlaufend internationale Medien in dramatischen Bildern. Der renommierte Islamexperte Reinhard Schulze von der Universität Bern erläutert in Interviews die Hintergründe der akuten Krise.

Von Nina Jacobshagen 17. August 2021

Afghanistan nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban: Die Expertise der Islamwissenschaften ist gefragt. © iStock
Afghanistan nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban: Die Expertise der Islamwissenschaften ist gefragt. © iStock

Reinhard Schulzes Expertise als Islamwissenschaftler wird aufgrund der derzeitigen Lage in Afghanistan von besonders vielen Medienschaffenden nachgefragt. Gegenüber «uniaktuell» sagt Schulze, dass aktuell die «grösste Neugierde» seitens Medien die Schuldfrage betreffe: Wem ist die Schuld an der rasanten Machtübernahme durch die Taliban und der drohenden, zum Teil bereits wahr werdenden humanitären Krise zuzuweisen? Besondere Brisanz erfuhr diese Frage gestern, als US-Präsident Biden der afghanischen Regierung und dem afghanischen Militär öffentlich die Schuld gab und dies unter anderem damit begründete, dass die von den USA hochsubventionierte Armee ihr Land nicht verteidigt habe.

Die Bedeutung des Scheiterns in Afghanistan als eigentliche Frage

«Aus wissenschaftlicher Perspektive», sagt Reinhard Schulze, «ist die Schuldfrage überflüssig. Sie ist eine moralische Frage ohne erklärende Kraft.» Von eigentlicher Relevanz sei, was das Scheitern in Afghanistan bedeute, und dies hänge mit einer zweiten Frage zusammen, die zurzeit ebenfalls von drängendem medialen Interesse sei: Wie ist das Land Afghanistan zu verstehen? «Ich habe den Eindruck, dass die Frage von Schuld und Scheitern mit dieser Frage verbunden ist», sagt Schulze.

Die weit verbreitete Wahrnehmung, auf der einen Seite stünde ,der Westen’ und auf der anderen Seite Afghanistan, sei eine unzulässige Dichotomie, eine nicht zutreffende Zweiteilung, durch die deutlich würde, wie wenig das Land Afghanistan allgemein verstanden werde. Denn: «Viele Menschen in Afghanistan sehen sich als Teil des Westens», sagt Schulze, andere hingegen würden mit dem Westen nichts zu tun haben wollen: «Afghanistan ist ein sehr kompliziertes Land.»

Prof. Dr. Bernhard Schulze, international bekannter Islamwissenschaftler an der Universität Bern, äussert sich in verschiedenen Medien zur aktuellen Situation in Afghanistan. © zvg
Prof. Dr. Bernhard Schulze, international bekannter Islamwissenschaftler an der Universität Bern, äussert sich in verschiedenen Medien zur aktuellen Situation in Afghanistan. © zvg

Machtübernahme durch Taliban habe sich schon lange abgezeichnet 

Im gestern auf «Zeit Online» veröffentlichten Interview zeigte sich Reinhard Schulze zwar überrascht über das hohe Tempo der Machtübernahme durch die Taliban, nicht aber über diese Entwicklung nach Abzug der Nato-Streitkräfte selbst: Es habe sich schon lange abgezeichnet, dass die Taliban über kurz oder lang wieder die Macht in Afghanistan übernehmen würden, sagte Schulze in diesem Interview.

Hinter der Eskalation stünde als Hauptproblem seitens der westlichen Staaten, dass sie mit einer falschen Vorstellung an das Land herangetreten seien: dass es in Afghanistan «so etwas wie einen Konsens» gebe und die westlichen Staaten dort «eine demokratische Republik nach westlichem Vorbild aufbauen» wollten. Weiter stellt Schulze im Interview mit «Zeit Online» fest: Es sei zu wenig darauf geachtet worden, was die afghanische Bevölkerung wolle und wie sie sich ein soziales Zusammenleben vorstelle. «Ihnen wurde stattdessen einfach ein westliches Schema aufgezwungen», sagt Schulze. Dies sei von der ländlichen Bevölkerung mehrheitlich nicht mitgetragen worden, sie habe sich vielmehr in ihrem «Afghanentum» verraten gefühlt.

Wozu ‚der Westen’ gut beraten gewesen wäre

Im «Zeit Online»-Interview bezieht Schulze vor diesem Hintergrund klar Stellung: «Der Westen hätte das tun sollen, wozu ihm viele Experten geraten haben: Er hätte sich viel stärker mit dem sogenannten Afghanentum auseinandersetzen und begreifen müssen, was darunter zu verstehen ist.»

Gegenüber dem Online-Medium «watson.ch» äussert sich Schulze zu der Frage, wie viel Rückhalt die Taliban in der afghanischen Bevölkerung erhalten: «Man muss damit rechnen, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung mit den Taliban sympathisieren.» Das Ziel, das die Taliban mit der neuerlichen Machtübernahme verfolgten, sei, Afghanistan primär als Herrschaftsgebiet zu bewahren, «wobei die Hoheit über das Land den paschtunischen Gemeinschaften gehören soll. Die Tradition der Taliban sieht eine strikte Form des orthodoxen, sunnitischen Islam vor, mit strenger Durchsetzung der Scharia, des islamischen Rechts.»

Auch das Verhältnis der Taliban zur ebenfalls in Afghanistan aktiven Terrormiliz IS kann Schulze einschätzen: «Was die Taliban wollen, hat nichts mit dem zu tun, was wir heute ‚Islamischer Staat’ nennen. Der IS hat eine Vorstellung des Islams aufgebaut, bei der auch die Taliban kopfschüttelnd davorstehen», sagt Schulze auf «watson.ch». Gegenüber «uniaktuell» ergänzt er: «Zwischen den Taliban und dem IS herrscht faktisch schon ein Kriegszustand. Sicher wird der IS versuchen, das Momentum auszunutzen und seinen Machtbereich auszudehnen. Das bedeutet dann zwangsläufig eine Verschärfung des Konflikts mit den Taliban.»

Reinhard Schulze wird auch in der nächsten Zeit als Gesprächspartner für die Medien zu Verfügung stehen. Eigentlich hatte der Islamwissenschaftler in diesen Tagen Ferien machen wollen. Aufgrund der aktuellen Geschehnisse und der sich womöglich weiter zuspitzenden Situation in Afghanistan wird er seine Ferien jedoch verschieben. 

Über Reinhard Schulze

Prof. Dr. Reinhard Schulze ist Direktor des Forum Islam und Naher Osten (FINO) der Universität Bern. Von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2018 war er ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Zuvor wirkte er von 1992 und 1995 als Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Bamberg und von 1987 bis 1992 als Professor für Orientalische Philologie an der Ruhr-Universität Bochum.

Publikationen von Reinhard Schulze

Reinhard Schulze: »Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart», Ch. Beck Verlag, 2016

Über das FINO

Das Forum Islam und Naher Osten (FINO) wurde 2018 an der Universität Bern eingerichtet und versteht sich als transdisziplinäres Kompetenzzentrum für Dokumentation, Wissenstransfer und akademische Dienstleistungen im Bereich des Islam und des Nahen Ostens. Das Forum, das administrativ dem Rektorat der Universität Bern zugeordnet ist, zielt auf die Vermittlung akademischen Wissens und akademischer Erkenntnisse, die auf einer thematisch fokussierten und qualitativ hochstehenden Grundlagenforschung zum Islam und Nahen und Mittleren Osten beruhen. Die Vermittlung richtet sich insbesondere an öffentliche Institutionen und Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden sowie an schweizerische Medien und andere relevante öffentliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen.

Über die Autorin

Nina Jacobshagen ist Redakteurin und Themenverantwortliche für «Interkulturelles Wissen» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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