«Wir werden gestärkt und mit mehr Vertrauen aus dieser Krise rauskommen»

Die pandemiebedingte Krisenzeit kann mit psychischen Belastungen einhergehen, aus denen sich schlimmstenfalls behandlungsbedürftige psychische Probleme entwickeln. Wie wir mit den Belastungen umgehen können, wo es professionelle Hilfe gibt und welche positiven psychologischen Auswirkungen die Krise hat, erklärt Thomas Berger, Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern.

Uniaktuell: Thomas Berger, welche psychischen Belastungen können durch eine Pandemie, wie auch die Schweiz sie gerade erlebt, entstehen?
Thomas Berger: Unsere Gesellschaft wird durch die Pandemie kollektiv gestresst. Das wohl psychologisch verheerendste an dieser Krise sind neben den Infektionsängsten Existenzängste, Arbeitsplatzunsicherheit und wirtschaftliche Einbussen. Die Angst um die Gesundheit und den Arbeitsplatz sind leider derzeit ganz reale Ängste. Aber auch die häusliche Isolation ist eine grosse psychische Belastung. Laut einer gerade in der medizinischen Fachzeitschrift Lancet erschienenen Studie* reichen die möglichen negativen psychologischen Auswirkungen von Quarantäne und häuslicher Isolation von Angst und Wut bis hin zu Schlafstörungen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Leider führen die durch die Pandemie ausgelösten multiplen Stressoren dazu, dass Menschen mit einer gewissen psychischen Verletzlichkeit vermehrt psychische Störungen entwickeln und sich die Symptomatik bei bereits erkrankten Personen verschlechtert.

Warum ist die häusliche Isolation eine so grosse psychische Belastung?
Verschiedene Stressoren können hier eine Rolle spielen. Einsamkeit war schon vor der Corona-Krise ein wichtiges Problem in unserer Gesellschaft. Das hat sich jetzt noch verstärkt. Es geht dabei nicht nur um ältere Menschen, die sich vielleicht schon vorher einsam gefühlt haben und jetzt noch stärker darunter leiden, weil ihre Angehörigen sie nicht mehr besuchen dürfen. Es geht auch um Personen, die vor den Massnahmen des Bundesrats bei der Arbeit täglich Menschen um sich herum hatten und jetzt unter den neuen Umständen wahrnehmen, dass sich niemand bei ihnen meldet. Damit können Einsamkeitsgefühle verbunden sein, die sehr schmerzhaft sind und mit psychischen Störungen wie Depressionen einhergehen. Andere Menschen wiederum können darunter leiden, dass sie im Moment aufgrund der häuslichen Isolation sehr eng mit anderen Personen zusammenleben müssen und dadurch mehr Konflikte entstehen. «L'enfer c'est les autres», um einen berühmten Satz von Sartre zu zitieren. Leider muss auch mit einer Zunahme von häuslicher Gewalt gerechnet werden.

Was raten Sie Personen, wie sie am besten mit diesen psychischen Belastungen umgehen können?
Es gibt einerseits einfache und bewährte Verhaltensmassnahmen, die wir vorbeugend einsetzen können und die uns ermöglichen, diese Ausnahmesituation besser zu meistern. Dazu gehört regelmässige Bewegung, draussen, natürlich mit Abstand zu anderen, oder in den eigenen vier Wänden, zum Beispiel mit dem Online-Angeboten der Suva oder anderen Organisationen. Für Studierende und Mitarbeitende der Universität Bern gibt es zum Beispiel Online-Fitness von Unisport. Ausserdem hat die Universität Bern hilfreiche Tipps zum Umgang mit häuslicher Isolation und Homeoffice erarbeitet. Andererseits sollten sich Menschen, die sich in einer persönlichen Krisensituation befinden, professionelle Unterstützung suchen. Auf der erwähnten Homepage finden sich auch Empfehlungen für persönliche Krisensituationen mit hilfreichen Adressen. Viele Psychologinnen und Psychologen führen im Moment Therapien via Videokonferenz oder Telefon durch, auch die Psychotherapeutische Praxisstelle der Universität Bern.

Sie haben Ihre internetbasierten Angebote für psychologische Unterstützung niederschwelliger gemacht, um mehr Menschen zu erreichen. Wie das?
Wir führen seit vielen Jahren Studien zu internetbasierten Selbsthilfeprogrammen und Apps bei psychischen Problemen und Störungen durch. Viele dieser Programme haben sich als wirksam erwiesen. Sie haben den Vorteil, dass sie niederschwellig genutzt und leicht verbreitet werden können. Wir waren gerade dabei, ein Online-Training zur Pflege der Partnerschaft zu erforschen, welches Guy Bodenmann von der Universität Zürich entwickelt hat, das «Paarlife Coaching». Zusammen haben wir vor zwei Wochen entschieden, das Online Training leichter zugänglich zu machen, weil in der häuslichen Isolation Paare dicht aufeinander sitzen und Reibereien vorprogrammiert sind. Dazu haben wir die langen Fragebogen, die in der Studie eingesetzt wurden, massiv gekürzt. Die noch wenigen verbliebenen Fragen dienen der Qualitätssicherung. Ausserdem haben wir unser Online Selbsthilfeprogramm HERMES, das ohnehin schon sehr niederschwellig ist, noch leichter zugänglich gemacht. Es richtet sich an Einzelne und zielt darauf ab, Problemlösefähigkeiten zu verbessern, unangenehme Gefühle zu reduzieren und positive Gefühle zu fördern.

Werden diese Angebote bereits stärker in Anspruch genommen?
Ja, die Nachfrage hat stark zugenommen. In den letzten Tagen haben sich über tausend Personen angemeldet – allein bei «Paarlife» waren es teilweise zwei bis drei Anmeldungen pro Minute. Bei Studien zu Online-Selbsthilfeprogrammen nehmen auch sonst immer viele Leute teil, einfach weil psychische Probleme häufig und solche Programme sehr niedrigschwellig nutzbar sind.

Prof. Dr. Thomas Berger ist Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie des Instituts für Psychologie an der Universität Bern.
Prof. Dr. Thomas Berger ist Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie des Instituts für Psychologie an der Universität Bern. Bild: zvg

Wie gehen Sie persönlich mit der Bedrohung durch das Coronavirus und den Einschränkungen in Ihrem eigenen Alltag um?
Vom Coronavirus fühle ich mich nicht bedroht, weil ich keiner Risikogruppe angehöre. Aber ich sorge mich schon auch um meine Eltern und Schwiegereltern. Die Auswirkungen der Pandemie sind beruflich und privat eine Herausforderung. Wir haben in der Psychologie sehr viele Studierende, für die teils individuelle Lösungen gesucht werden müssen, damit es bei niemandem zu einer Studienzeitverlängerung kommt. Ausserdem ist unser Forschungsschwerpunkt Online Therapie im Moment sehr gefragt und wir erhalten viele Anfragen. Es ist also nicht ganz einfach, allem gerecht zu werden. Als Ausgleich gehe ich joggen. Und schön ist auch, dass wir viele positive Rückmeldungen von Studierenden und anderen Gruppen erhalten. Ausserdem kann ich auf ein sehr gut eingespieltes Team zählen. Dafür bin ich sehr dankbar. Privat ist es so, dass meine Frau wegen der Pandemie im Moment nicht arbeitet und sich um das Homeschooling der Kinder kümmert. Wir haben drei Mädchen, die ich wegen dem Homeoffice zwar leider immer nur kurz, aber doch sehr viel öfter sehe als sonst. An sozialen Kontakten mangelt es mir also nicht. Ich freue mich auch auf ein virtuelles Treffen mit Freunden am Wochenende. Da treffen wir uns abends via Skype und tauschen uns bei einem Bier aus.

Glauben Sie, dass die Corona-Krise auch positive psychologische Folgen haben kann?
Ja. Es kommt aber natürlich auch darauf an, was wir aus dieser Krisenzeit machen. Wir erleben im Moment sehr viele sinnvolle und sinnstiftende Initiativen der Solidarität und Nachbarschaftshilfe. Ausserdem erleben viele Menschen trotz physischer Distanz eine grössere Nähe und vertieftere Beziehungen zu anderen Menschen, weil das Sprechen und Schreiben über Schwierigkeiten und Sorgen Nähe herstellt. Vielleicht trägt die Krise auch zu einer gewissen Entschleunigung bei. Manche werden in der Zeit zu Hause Dinge in Angriff nehmen, die sie schon längst machen wollten und ihnen auch psychisch gut tun. Trotz dieser positiven Folgen schleckt aber keine Geiss weg, dass die Bilanz dieser Pandemie negativ ist. Psychologisch Positives werden wir vor allem auch nach der Krise erleben. Zumindest für eine gewisse Zeit werden wir vieles sehr schätzen und wahrscheinlich an vielen Dingen, die wir bisher für selbstverständlich hielten, mehr Freude haben. Ausserdem werden wir gestärkt und mit mehr Vertrauen in die Menschheit aus dieser Krise rauskommen, weil wir eine schwierige Situation erfolgreich gemeistert haben.

* Literatur: Brooks, S. et al. (2020). The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence. The Lancet. doi: 10.1016/S0140-6736(20)30460-8.

Psychologische Online-Selbsthilfe vom Institut für Psychologie

Eine Übersicht über die Angebote findet sich hier: http://www.online-therapy.ch/sa/index2.html

Paarlife

paarlife.ch 
Kostenloses Online-Training für Paare der Universität Zürich und der Universität Bern. Ziel ist es, Paarbeziehungen und die gegenseitige Kommunikation und Unterstützung in Zeiten von Stress zu stärken. 

HERMES

https://selfhelp.psy.unibe.ch/hermes/homepage 
Kostenloses Training von Problemlösefähigkeiten zur Stärkung des Wohlbefindens und der Problemlösefähigkeiten. Die Nutzung ist mit der anonymisierten Teilnahme an Fragebogenstudien verbunden.

SelFIT

https://selfhelp.psy.unibe.ch/selfit
Das SelFIT Online Programm unterstützt Menschen dabei, mit psychischen Herausforderungen nach einem Unfall umzugehen, das sich auch für den Umgang mit anderen kritischen Lebensereignissen eignet.

Informationen zur Selbstorganisation und Hilfsangebote der Universität Bern

Auf der Webseite der Universität Bern finden sich zudem „Informationen zur Selbstorganisation und Hilfsangebote“: https://www.unibe.ch/coronavirus/informationen_zur_selbstorganisation_und_hilfsangebote/index_ger.html

Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Die Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie beschäftigt sich mit Entwicklung, Verlauf, Diagnostik, Epidemiologie, Prävention und Behandlung von psychischen Störungen. Neben Lehre und Forschung bietet die Abteilung ein Postgraduales Masterstudium Psychotherapie und einen CAS Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter an. Auch die Psychotherapeutische Praxisstelle der Universität Bern gehört zur Abteilung. Die Behandlungen sind durch die direkte Anbindung an Forschung und Lehre auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand.

Zur Autorin

Nina Jacobshagen arbeitet als Redaktorin Corporate Publishing in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.

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