«Im Grunde erzählen wir alle dieselbe Geschichte»

Goncourt-Preisträger Mathias Énard ist 13. Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur an der Universität Bern. Am 19. Februar begann sein wöchentliches Seminar, das ausgewählte Werke der Kriegsliteratur behandelt. Énard zeigt auf, dass Kriege alle betreffen und Schreiben darüber ein universelles Geschehen ist.

Von Elena Bertagna 03. März 2020

Mathias Énard eröffnet sein Seminar mit der Vorführung eines Filmgesprächs mit dem Philosophen Gilles Deleuze: In «A comme animal» listet Deleuze zu Beginn alle Gründe auf, wieso er Tiere nicht mag und noch viel weniger Menschen, die mit Tieren sprechen. Deleuze spricht sodann von Territorien im Tierreich, deren Grenzen von Tieren markiert werden. Dem stellt er den Begriff der «Deterritorialisierung» gegenüber: dem Austritt aus dem eigenen Territorium.

Das Verhalten, welches nach Deleuze den Menschen grundlegend vom Tier unterscheidet, ist das der Deterritorialisierung. Tiere bleiben in ihrem Territorium, in ihrer mehr oder weniger kleinen und beschränkten Welt. Menschen nicht. Menschen reisen, lassen sich an verschiedenen Orten nieder, sie passen sich neuen Territorien an und können auf unterschiedlichste Weise an unterschiedlichsten Orten leben. Ein Ausbruch aus den eigenen Grenzen lässt sich auch bei Mathias Énard beobachten: 25 Jahre lang lebte der Franzose im Ausland, unter anderem in Ägypten, Syrien, Libanon, Deutschland, Italien und Spanien. Er studierte Arabisch und Persisch und spricht auch fliessend Spanisch, Katalanisch, Englisch und Deutsch.

Mathias Énard unterrichtet im Frühjahrssemester 2020 als 13. «Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. © Pierre Marquès
Mathias Énard unterrichtet im Frühjahrssemester 2020 als 13. «Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. © Pierre Marquès

«Der Orient ist eine Konstruktion aus Bildern, ein Komplex von Repräsentationen, aus dem jeder, je nach Standpunkt, nach Belieben schöpfe. Es sei naiv zu glauben, fuhr Sarah mit lauter Stimme fort, dass dieser Koffer mit orientalischen Bildern heute allein ein spezifisches Gut Europas sei. Nein. Diese Bilder, diese Schatztruhe, seien allen zugänglich und alle steuerten zu ihnen bei mit dem, was sie jeweils an Kulturgütern hervorbrachten, neue Aufkleber, neue Porträts, neue Musik» (aus Mathias Énards Roman Kompass, 2015).

Énard zeigt in seinen Werken, wie sich der Mensch konstant «deterritorialisiert» und wie Wege über Grenzen zu einem kulturellen Transfer führen. Für Mathias Énard sind Okzident und Orient nicht zu trennen, Ethnien, Religionen und Kulturen vermischen sich. Er zeigt durch das Überqueren von Grenzen auf, wie verschwommen diese in Wirklichkeit sind und dass wir diese in unseren Köpfen verwurzelten Grenzen ablegen sollten.

An der Auftaktveranstaltung der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur las Mathias Énard im Hallersaal der Burgerbibliothek auf Deutsch und Französisch aus seinen Texten vor. Bild: Elena Bertagna

Warum Schreiben nicht privat ist

Deleuze macht im Filmgespräch ein Klischee über die Tätigkeit von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zunichte: Schreiben sei keine private Sache, sondern eine universelle Angelegenheit. Sie würden nicht von tragischen Ereignissen des eigenen Lebens schreiben, sondern für andere und anstelle von anderen. Dieser Idee folgt auch Énard in seinem sich über 20 Jahre erstreckenden literarischen Schaffen: seine zentralen Themen sind neben fremden Kulturen und Reisen der Krieg: «Der Krieg betrifft alle», stellt Énard fest. In Zone (2008) gibt er den inneren Monolog eines Veteranen aus dem Jugoslawienkrieg wieder, der sich während der Zugfahrt durch die Landschaft an Szenen des Krieges und seines Lebens zurückerinnert: «Im Grunde erzählen wir alle dieselbe Geschichte, einen Bericht über Gewalt und Sehnsucht». In Énards Roman Kompass, für den er 2015 den Prix Goncourt erhielt, tobt auf der Orientreise des Musikwissenschaftlers Franz Ritter der Syrienkrieg. In der Graphic Novel Zuflucht nehmen erzählt Énard zwei Liebesgeschichten: eine kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die andere in der Gegenwart, zwischen einem Deutschen und einer syrischen Geflüchteten.

Mit den Werken, die Mathias Énard ausgewählt hat, behandelt das Seminar verschiedenste Kriege literarisch: Die Reise beginnt bei Homers Ilias, einem Epos aus 24 Gesängen. Die gleiche Anzahl Kapitel übernimmt Énards für sein Meisterwerk Zone, mit dem ihm 2008 der internationale Durchbruch gelang. Der Krieg geht im Mittelalter weiter mit dem Drama Cid und den Taten des kastilischen Ritters Rodrigo Díaz de Vivar in den Feldzügen Valencias. Er wird zum Dreissigjährigen Krieg in den Werken Grimmelshausens oder Kehlmanns Tyll. Er wird als Schlacht erzählt, wie Waterloo in Victor Hugos Les Misérables. Er weitet sich aus zum Ersten Weltkrieg in Jüngers In Stahlgewittern. In Svetlana Alexevitchs Reportage über Stalingrad erhält der Krieg ein weibliches Gesicht. Mit dieser Auswahl soll Deleuze recht gegeben werden: Schreiben ist eine universelle Angelegenheit.

Über Mathias Énard

© Pierre Marquès

Mathias Énard studierte Arabisch und Persisch und arbeitete nach Aufenthalten im Mittleren Osten als Autor und Übersetzer. Mit dem Roman Zone gelang ihm 2008 der internationale Durchbruch als Schriftsteller: In einem einzigen Satz gibt Énard auf 500 Seiten den inneren Monolog eines Veteranen aus dem Jugoslawienkrieg wieder. Es folgten die Romane Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten (2011), Straße der Diebe (2013) und Kompass (2015), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, dem bedeutendsten französischen Literaturpreis. 

Das Frühjahrssemester 2020 verbringt Mathias Énard in der Schweiz, um als Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur an der Universität Bern zu unterrichten.

Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur

Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur erweitert mit Lehrveranstaltungen und Lesungen das geistes- und sozialwissenschaftliche Studium und das kulturelle Angebot in Bern und darüber hinaus. Seit dem Frühjahr 2014 unterrichtet in jedem Semester eine internationale Autorin oder ein internationaler Autor an der Universität Bern. Die Gäste geben je eine 14-wöchige Lehrveranstaltung und arbeiten wie reguläre Professorinnen oder Professoren mit Studierenden und Doktorierenden zusammen. Zusätzlich zu den Seminaren oder Vorlesungen der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessoren werden universitäre und öffentliche Veranstaltungen in Bern sowie an anderen Orten in der Schweiz organisiert. Die Gastprofessur wird verwirklicht mit Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz sowie der Burgergemeinde Bern.

Zur Autorin

Elena Bertagna arbeitet als hilfswissenschaftliche Projektassistentin der Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.

Oben