Eine «Autopsie» des Berner Münsters

Nach der Forschung zur Kathedrale in Santiago de Compostela wandte sich das Institut für Kunstgeschichte einem Bauwerk in nächster Umgebung zu: dem Berner Münster. In Zusammenarbeit mit der Münsterstiftung entstand in sechsjähriger Forschungsarbeit eine zeitgemässe Publikation, die das erste Jahrhundert des Münsters dokumentiert.

Von Béatrice Koch 16. September 2020

Der Plan zeigt das Baualter aufgrund von Fotogrammetrien verbunden mit einer Bauanalyse. Hier ist ein Längsschnitt durch Mittelschiff und Chor zu sehen. © Planaufnahme: Alexandra Druzynski von Bötticher

Sechzig Jahre lang galten Luc Mojons Kunstdenkmälerband zum Berner Münster (Kunstdenkmäler der Schweiz, Band 44, 1960) und die einige Jahre später erschienene Monographie zum Münsterbaumeister Matthäus Ensinger als Standardwerke zum Berner Münster. Sie haben ihre Gültigkeit nicht verloren, aber moderne Forschungsmethoden, veränderte Fragestellungen und nicht zuletzt die Arbeit der Münsterbauhütte selbst forderten eine neuerliche Untersuchung des Kirchenbaus. Denn die Restaurierungs- und Konservierungspraxis sowie die Möglichkeiten der Dokumentation haben sich seit Mojons Zeiten radikal verändert.

Aus diesen Überlegungen heraus startete 2014 das Münsterprojekt als Gemeinschaftsarbeit des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Bern unter der Leitung von Professor Bernd Nicolai und der Berner Münsterstiftung unter der Leitung von Professor Jürg Schweizer. Die Ergebnisse der sechs Jahre dauernden Forschungsarbeiten wurden in der 2019 erschienenen, 650 Seiten starken Publikation «Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert: Von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation (1421-1517/1528)» zusammengetragen. Finanziell unterstützt wurde das Forschungsprojekt inklusive Publikation vom Schweizerischen Nationalfonds SNF sowie der Burgergemeinde Bern und der Bernischen Denkmalpflege Stiftung.

Das Berner Münster: Blick in den Chor mit den spätgotischen Glasmalereien. © Beat Schweizer
Das Berner Münster: Blick in den Chor mit den spätgotischen Glasmalereien. © Beat Schweizer

Wissenschaft und Praxis

Nach der Forschung zur Kathedrale in Santiago de Compostela widmete sich das Institut für Kunstgeschichte nun also einem Bauwerk in der nächsten Umgebung. «Luc Mojons Kunstdenkmälerband war das Werk einer Person. Das wäre heute nicht mehr möglich», sagt Professor Bernd Nicolai, Ordinarius für Architekturgeschichte und Denkmalpflege am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern und Co-Leiter des Projekts. «Um heute die verschiedenen Forschungsansätze unter einen Hut zu bringen, braucht es ein Team.» Spannend sei im vorliegenden Fall die Verbindung von Universität und Münsterbauhütte, also von Wissenschaft und Praxis gewesen. In zahlreichen Sitzungen, Debatten und einer Exkursion sei es gelungen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Das Ergebnis dieser erfolgreichen Zusammenarbeit ist eine komplette Neubearbeitung des Münsters und eine Publikation, die für die kommenden Jahrzehnte als Standardwerk gelten wird.

«Die Bauforschung war eine Hauptachse des Projekts», erläutert Nicolai. Das aktuelle Forschungsprojekt konnte auf bauforscherische Unterlagen zurückgreifen, die zu Mojons Zeiten noch nicht vorlagen. Das Berner Forschungsteam befand sich in einer komfortablen Lage, liegen vom Münster doch präzise photogrammetrische Aufnahmen vor, die die Grundlage bilden, sämtliche Bauphasen an den Mauern ablesbar zu machen. Diese Pläne wurden ursprünglich zur lückenlosen Dokumentation der bestehenden Bausubstanz erstellt und dienten nun der wissenschaftlichen Auswertung des Münsters.

Photogrammetrische Aufnahmen dienen der Dokumentation der Bausubstanz und der einzelnen Bauphasen: Längsschnitt des südlichen Seitenschiffs. © Berner Münster-Stiftung
Photogrammetrische Aufnahmen dienen der Dokumentation der Bausubstanz und der einzelnen Bauphasen: Längsschnitt des südlichen Seitenschiffs. © Berner Münster-Stiftung

Dem Bauwerk als Quelle kommt so eine wichtige Rolle zu, wie Münsterarchitektin Annette Loeffel in einem Kapitel darlegt. Universitätsmitarbeiterin Dr. Alexandra Druzynski von Boetticher rekonstruierte als erfahrene Bauforscherin die mittelalterlichen Bauphasen. Zusammen mit der Untersuchung zur Steinbearbeitung durch Peter Völkle, Betriebsleiter der Münsterbauhütte, gelang dem Forschungsteam eine eigentliche «Autopsie des Gebäudes». Hier halfen auch moderne Techniken wie die alpine Dendrochronologie. Die Jahrring-Methode berücksichtigt das Wachstum der Bäume auch in höheren Lagen und ermöglichte die genaue Datierung der hölzernen Dachbalken im Berner Münster.

Neue Würdigung des Münsters

Eine zweite Hauptachse des Forschungsprojekts galt der allgemeinen Bauanalyse. Dr. Richard Němec, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte, sichtete sämtliche Schrift- und Bildquellen zu Auftraggeber, Baumeister und Stifter neu. Dies diente dazu, das Berner Münster in einen internationalen Kontext mit vergleichbaren spätgotischen Kirchenbauten in Regensburg, Strassburg oder Ulm zu setzen. Matthäus Ensinger, der 26 Jahre als Baumeister für den Berner Münsterbau verantwortlich war, übernahm anschliessend die Bauleitung am Münster von Ulm. Das Berner Münster wird damit in die Reihe eines in süddeutschen, elsässischen und eidgenössischen Städten anzutreffenden Bautypus mit eigener «Corporate Identity» gestellt.

Mit dieser Feststellung wird auch die Bedeutung des Münsters neu gewürdigt. Denn trotz seines guten Zustands, der guten Quellenlage und trotz der herausragenden Publikationen von Luc Mojon und der 1998 erschienenen Abhandlung zu den Glasmalereien von Barbara Kurmann-Schwarz habe der Berner Kirchenbau stets im Schatten vergleichbarer spätmittelalterlichen Bauwerke gestanden, meint Nicolai.

Die Bedeutung des Münsters zeigt sich auch anhand der reichen Gestaltung des Westbaus, dem Bernd Nicolai ein eigenes Kapitel widmet. Insbesondere das Hauptportal mit der berühmten Darstellung des Jüngsten Gericht, 1485 unter der Leitung des Münsterbaumeisters Erhart Küng vollendet, ist ein herausragendes Beispiel spätgotischer Bildhauerkunst. Die Originalskulpturen wurden im 20. Jahrhundert weitgehend durch Kopien ersetzt; sie befinden sich heute im Bernischen Historischen Museum.

Der Westbau des Berner Münsters mit dem dreiteiligen spätgotischen Figurenportal und dem Turmbau. 1588 endete der Turm auf einer Höhe von 55 Metern. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde er im neugotischen Stil vollendet. © Bernd Nicolai
Der Westbau des Berner Münsters mit dem dreiteiligen spätgotischen Figurenportal und dem Turmbau. 1588 endete der Turm auf einer Höhe von 55 Metern. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde er im neugotischen Stil vollendet. © Bernd Nicolai

Das Chorgewölbe mit seinen 86 figürlichen Schlusssteinen bildete die dritte wichtige Achse des Berner Forschungsprojekts. Die Münsterstiftung hat das 1517 vollendete Gewölbe zu seinem 500-jährigen Bestehen restauriert. Dass die Restaurierung im selben Zeitraum wie das Forschungsprojekt stattfand, sei laut Nicolai ein glücklicher Zufall gewesen. Die neuen Befunde, unter anderem zur Farbgestaltung der Heiligenbildnisse, konnten so Eingang in das Forschungsprojekt finden.

Die Restaurierung des Chorgewölbes mit den figürlichen Schlusssteinen - dem «Himmlischen Hof» - wurde 2017 abgeschlossen. © Berner Münster-Stiftung
Die Restaurierung des Chorgewölbes mit den figürlichen Schlusssteinen - dem «Himmlischen Hof» - wurde 2017 abgeschlossen. © Berner Münster-Stiftung

Im Rahmen der Restaurierungsarbeiten stellte sich heraus, dass das Chorgewölbe mit dem himmlischen Hof 500 Jahre lang weitgehend unangetastet geblieben ist – weder der Bildersturm während der Reformation noch bauliche Eingriffe hatten gravierende Folgen. Einen solchen Originalzustand vorzufinden, sei für die Bauforschung ein seltener Glücksfall, schreibt die Restauratorin Cornelia Marinowitz im Kapitel zur neuesten Restaurierung des Chorgewölbes. «Seit seiner Fertigstellung vor 500 Jahren wurde das Gewölbe weder künstlerisch bearbeitet, noch umfassend restauratorisch behandelt, so dass seine Genese unverfälscht und lückenlos untersucht werden kann.»

Das Berner Münster

Das Berner Münster ist der bedeutendste spätgotische Kirchenbau der Schweiz – und die steinerne Verkörperung des Selbstverständnisses des aufsteigenden Stadtstaats Bern. Unmittelbar zuvor hatte die Stadt, mit damals nur rund 5’000 Einwohnerinnen und Einwohnern, das Rathaus errichtet. Bern war Auftraggeber des Münsterbaus, mit allen Rechten, aber auch Pflichten. Vor Baubeginn 1421 lag eine Machbarkeitsstudie vor, ebenso der finanzielle und zeitliche Rahmen – der ziemlich straff war: Das Chorpolygonal, der älteste Bauteil des Münsters, wurde innerhalb von zehn Jahren hochgezogen. Geknausert hat das stolze Berner Bürgertum nicht: Einerseits gönnte es sich eine reiche Ausstattung, unter anderem mit reichen Glasmalereien, andererseits verpflichtete man mit Matthäus Ensinger einen jungen Baumeister, der zuvor, unter der Leitung seines berühmten Vaters Ulrich, bereits am Bau des Strassburger Münsters beteiligt gewesen war. Auch die Tatsache, dass die Westfassade bereits unter Ensinger als aufwändige Anlage mit drei Portalen angelegt wurde, zeugt gemäss Professor Bernd Nicolai von einem ehrgeizigen Bauprogramm. Rund 100 Jahre baute man am Münster, bevor die Bautätigkeit durch die Reformation vorübergehend zum Erliegen kam. Zu dieser Zeit war das Langhaus ohne die Wölbung bereits fertiggestellt, ebenso weite Teile des Turms; der Helm wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts vollendet. Die für die Turmaufstockung neu gegründete Münsterbauhütte leitete zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine intensive Renovierungsphase ein, die zur Folge hatte, dass die äussere Gebäudehülle stark umgeprägt wurde. Defekte Teile wurden, wie es dem Verständnis der damaligen Denkmalpflege entsprach, ausgetauscht und teilweise im Sinn eines vermeintlich «reineren» gotischen Stils korrigiert – mit dem Resultat, dass der Grossteil der äusseren Gebäudehülle aus dem 20. Jahrhundert stammt.

Publikation: Das Berner Münster

Bernd Nicolai, Jürg Schweizer (Hrsg.): Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert: Von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation (1421-1517/1528). Schnell&Steiner, Regensburg, 2019.

Zur Autorin

Béatrice Koch, studierte Germanistik, Kunstwissenschaft und Klassische Archäologie und arbeitet seit 20 Jahren als Jounalistin. Seit 2013 ist sie Freie Journalistin im Pressebüro Kohlenberg in Basel.

Oben