«Das europäische Forschungsnetzwerk ist das grösste der Welt – ein Ausschluss wäre fatal»

Am 27. September stimmt die Schweiz über die «Begrenzungsinitiative» ab. Gemäss der Abstimmungsvorlage soll damit die Zuwanderung in die Schweiz wieder ausschliesslich von den Schweizer Behörden kontrolliert werden. Das bestehende Abkommen mit der Europäischen Union sei innert 12 Monaten ausser Kraft zu setzen oder ansonsten zu kündigen. Im Interview spricht Christian Leumann, Rektor der Universität Bern, über die Folgen einer Annahme der Initiative.

Interview: Christian Degen 03. September 2020

Prof. Dr. Christian Leumann, Rektor der Universität Bern. Bild: Vera Knöpfel / Universität Bern

Herr Leumann, die Dachorganisation der Schweizer Hochschulen, swissuniversities, der ETH-Rat, der Schweizerische Nationalfonds, die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, Innosuisse, die Akademien der Wissenschaften Schweiz und auch die Berner Regierung lehnen die Begrenzungsinitiative ab. Welche Position vertritt die Universität Bern?

Die Initiative ist auch für uns viel zu radikal. Selbst der oberste Bildungs- und Forschungsminister der Schweiz, Bundesrat Guy Parmelin, drückte seine ablehnende Haltung anlässlich eines Referats vor der Berner Volkswirtschaftlichen Gesellschaft im Februar dieses Jahres aus. Eine Annahme der Initiative wird den Schweizer Hochschulen die Assoziation ans neue EU Forschungs- und Bildungsprogramm «Horizon Europe» verwehren. Das muss unbedingt verhindert werden.

Die Universität Bern ist Mitglied bei «The Guild», der Vereinigung forschungsstarker Universitäten Europas. Ist diese Initiative ein Thema bei den internationalen Partnern der Universität Bern?

Wir erhalten viel Unterstützung von unseren Partneruniversitäten von The Guild. Dafür bin ich sehr dankbar, insbesondere weil wir ja die einzige Schweizer Universität in diesem Netzwerk von 20 europäischen Universitäten sind. Aber es ist nicht so, dass das Verständnis für die Sonderrolle der Schweiz in den europäischen Forschungs- und Bildungsprogrammen grenzenlos ist. Mit der nur punktuellen Assoziation an für uns wichtige EU-Programme in der Vergangenheit haben wir auch hier gegen das Bild des «Rosinenpickers» anzukämpfen. Ausserdem beschäftigt The Guild sich natürlich nicht nur mit der Schweizer Ausnahmesituation. Die Unsicherheit über die zukünftige britische Assoziation an die EU-Förderprogramme in der Nach-Brexit-Ära – immerhin sind drei UK Universitäten Mitglied in The Guild – ist hier das wichtigere Thema.

Befürchten Sie, dass mit der Annahme der Initiative und der Kündigung der Personenfreizügigkeit und anschliessend der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union auch die Schweizer Universitäten nicht mehr als verlässliche Partner wahrgenommen würden?

Der Rauswurf aus dem EU-Forschungsprogramm «Horizon 2020» als Konsequenz der Annahme der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative 2014 hat uns diesbezüglich ganz klar einen Reputationsschaden zugefügt. Diese Wunden sind bis heute nicht ganz verheilt. Das äussert sich zum Beispiel in der bis heute schleppenden Reintegration von Forschungskollaborationsprojekten – insbesondere von solchen, bei denen wir eine Führungsrolle übernehmen wollen – in die europäische Forschungslandschaft. Wir haben dabei schmerzlich gelernt, dass die EU heute durchaus auf die Schweiz verzichten kann. Die Nicht-Assoziierung an das Nachfolgeprogramm «Horizon Europe» und das damit verbundene Signal an unsere europäischen Forschungspartner wäre deshalb fatal.

Sie betonen immer wieder, dass die grossen globalen Probleme und Herausforderungen nur über die Fachgrenzen und über die Landesgrenzen hinweg angegangen werden können. Inwiefern hätte eine Annahme der Initiative darauf einen Einfluss?

Wir sind heute schon in vielen internationalen Projekten aktiv, schwergewichtig in Europa, aber auch auf allen anderen Kontinenten. Die Tendenz ist steigend. Nehmen Sie zum Beispiel die Weltraumforschung, die Klimaforschung, die Nachhaltigkeitsforschung und die medizinische Forschung. Projekte in diesen Bereichen sind per Definition breit angelegt, international, interdisziplinär und setzen meistens einen Teameffort voraus. Die Universität Bern hätte im letzten Dezember sicher keinen Satelliten ins All befördert ohne die Unterstützung der ESA und die wissenschaftliche Unterstützung der anderen beteiligten europäischen Länder. Wir wären heute in der COVID-19 Forschung sicher nicht in gewissen Bereichen führend, wären wir nicht schon vor Ausbruch der Pandemie in internationalen Forschungsnetzwerken etabliert gewesen. So wie Viren kennt auch die Forschung keine nationalen Grenzen.

Von offenen Grenzen «haben unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und der Schweizer Wissenschaftsnachwuchs wesentlich profitiert»: Rektor Christian Leumann äussert sich kritisch zur Begrenzungsinitiative. Bild: Vera Knöpfel / Universität Bern

Der Zugang zu den europäischen Forschungsnetzwerken gilt für die Schweiz als von grösster Bedeutung. Warum ist das so und was hätte ein Ausschluss aus den Europäischen Forschungsprogrammen konkret für Auswirkungen?

Das europäische Forschungsnetzwerk ist das grösste der Welt und auch dasjenige, das für uns am nächsten liegt. Viele unserer Professorinnen und Professoren sowie unserer Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler stammen aus Europa und fühlen sich mit der Schweiz verbunden. Das Schweizer Erfolgsmodell in der Wissenschaft basierte von jeher auf offenen Grenzen. Von den 30 Nobelpreisträgern der Schweiz entfallen 13 auf Wissenschaftler, die aus dem Ausland, vor allem Europa, zu uns gekommen sind und hier fruchtbaren Boden für ihre Entwicklung vorgefunden haben. Davon haben unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und der Schweizer Wissenschaftsnachwuchs wesentlich profitiert. Weshalb sollten wir also die Zukunft unserer wissenschaftlichen Führungsrolle durch einen Ausschluss aus den europäischen Forschungsprogrammen aufs Spiel setzen?

Könnte ein Ausschluss nicht durch bessere Kooperation mit Forschungsprogrammen in den USA und in Grossbritannien kompensiert werden? Deren Universitäten gelten weltweit als führend.

Selbstverständlich kooperieren wir seit Langem auch mit den USA. Denken Sie nur an die Apollo Missionen und die neueren NASA Projekte, an welchen wir teilnehmen können. Oder an Projekte in der Sozial- und Präventivmedizin, die wir mit Unterstützung der amerikanischen National Institutes of Health (NIH) durchführen. Wir kooperieren auch stark mit unseren britischen Partnern. Die Komplexität ist hier allerdings gross, da immer noch nicht bekannt ist, wie die Beziehung von Grossbritannien mit dem EU-Forschungsnetzwerk nach dem Brexit sein wird. Aufgrund der vielen bestehenden Kooperationen mit EU-Ländern ist und bleibt für uns das europäische Forschungsnetzwerk – wie bereits erwähnt das grösste der Welt – aus wissenschaftsstrategischer Sicht am wichtigsten.

Eine Annahme der Initiative hätte also direkten und grossen Einfluss auf die Forschungsaktivitäten und die Forschungsqualität an der Universität Bern. Die Universität Bern ist aber auch Ausbildungsstätte für fast 19'000 Studierende. Was für einen Einfluss hätte die Annahme der Initiative auf den Ausbildungsbetrieb der Universität?

Eine wichtige Komponente in der akademischen Ausbildung ist das Knüpfen und Pflegen von internationalen Kontakten schon zu einem frühen Zeitpunkt in der Ausbildung. Deshalb sind die Austauschpartnerschaften mit Universitäten im Ausland sehr beliebt. Sie werden sowohl von ausländischen Studierenden, die für ein Semester zu uns kommen wollen, als auch von unseren Berner Studierenden, die ein Semester im Ausland verbringen wollen, rege genutzt. Den grössten Anteil hat dabei der Austausch innerhalb Europas. Deshalb benötigen wir auch für die Zukunft die entsprechende Finanzierungsgrundlage und die Einbindung in das europäische Universitätsnetzwerk. Wenn uns die Assoziierung an Erasmus+ weiterhin verwehrt bleibt, werden wir als Universität für in- und ausländische Studierende mittelfristig weniger attraktiv.

Müssen junge Menschen damit rechnen, dass sie bei einer Annahme der Initiative über kurz oder lang nicht mehr dieselbe Qualität an Ausbildung erhalten?

Damit Schweizer Akademikerinnen und Akademiker in unserem stark im internationalen Umfeld operierenden Wirtschaft erfolgreich sein können, sollten sie die Möglichkeit haben, Auslandserfahrung sammeln zu können. Dies entweder während des Studiums oder während des Doktorats. Der Wegfall oder das Verkomplizieren etablierter Mechanismen dafür würde sie auf dem kompetitiven Schweizer Arbeitsmarkt weniger attraktiv machen. Wer an einer Schweizer Universität eine wissenschaftliche Karriere anstreben möchte, wird unter anderem auch daran gemessen, ob er oder sie Auslandserfahrung hat. Je mehr Hindernisse deshalb unserem Schweizer akademischen Nachwuchs in den Weg gelegt werden, desto weniger werden sie an einer solchen Karriere interessiert sein. Als angehender Schweizer Student würde ich mir dann schon auch mal überlegen, ob ich im In- oder Ausland studieren will.

Sie erwähnten, dass mit Annahme der Initiative das akademische Personal und die Studierenden in ihrer wissenschaftlichen Mobilität eingeschränkt würden. Ist dies nicht zu schwarzmalerisch? Die Grenzen werden damit ja nicht gleich gänzlich geschlossen.

Das ist richtig, die Grenzen werden nicht geschlossen. Nichtsdestotrotz sendet eine Einschränkung der internationalen Vernetzung ein falsches Signal aus und reduziert die Möglichkeiten der Mobilität unserer Studierenden. Sie macht übrigens die Schweizer Universitäten auch weniger attraktiv für junge Schweizer Akademikerinnen und Akademiker, die eine Karriere im Ausland gestartet haben. Diese werden sich gut überlegen, ob sie nicht besser im Ausland bleiben, wenn die Lehr- und Forschungsbedingungen an den heimatlichen Universitäten unattraktiver werden. Das wäre ein ungewollter Braindrain.

Sie sehen die Universität durch die Initiative in ihren Kerngeschäften in Forschung und Lehre direkt betroffen und gefährdet. Was für einen Einfluss hätte dies auf ihre zukünftige Bedeutung für den Kanton Bern?

Die Universität Bern ist lokal verankert und international vernetzt. Sie gehört qualitativ zum besten Prozent aller Universitäten weltweit. Gemäss den Regierungsrichtlinien 2030 der Berner Regierung soll die Berner Wirtschaft mehr in wertschöpfungsintensiven Bereichen, wie etwa im Medtech-, Engineering- oder ICT-Bereich wachsen. Die Universität trägt einen wichtigen Teil dazu bei, indem sie Fachkräfte für Politik und Wirtschaft auf internationalem Topniveau ausbildet und forschungsmässig einen wichtigen Innovationsbeitrag leistet. Sollten wir in unseren Kooperationsmöglichkeiten mit wissenschaftlichen und Bildungspartnern in der EU beschnitten werden, hätten wir weniger Ressourcen für die Forschung zur Verfügung, wären unsere Absolventinnen und Absolventen gegenüber solchen ausländischer Universitäten weniger attraktiv für den lokalen Arbeitsmarkt, würde unsere Wissenschaftsleistung gegenüber der stark wachsenden Konkurrenz, vor allem auch ausserhalb Europas, sinken und würde unsere direkte Wertschöpfung für den Kanton Bern zurückgehen. Wir kreieren immerhin zirka 2’700 Stellen im Kanton, ohne dass dafür ein Franken Steuergeld zusätzlich ausgegeben wird. Das heisst, alles in allem bestünde die Gefahr, dass wir ins Mittelfeld relegiert würden. Das kann einfach nicht im Interesse des Kantons Bern liegen.

Über Christian Leumann

Prof. Dr. Christian Leumann ist seit 2016 Rektor der Universität Bern. Zuvor war er bereits als Vizerektor Forschung seit 2011 Mitglied der Universitätsleitung. Christian Leumann, 1958 geboren, dissertierte an der ETH Zürich in Biochemie. Nach einem Post-Doktorat an der University of California arbeitete er als Oberassistent an der ETHZ. 1993 wurde er ordentlicher Professor für bioorganische Chemie am Departement für Chemie und Biochemie an der Universität Bern. Christian Leumann ist Vater zweier erwachsener Kinder und lebt mit seiner Frau in Bern.

Über den Autor

Christian Degen ist Leiter der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.

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