Aus den Erfahrungen lernen

Wegen der Corona-Pandemie ist wieder Fernunterricht nötig. Allerdings kann die Universität dank den Erfahrungen im Frühjahr und einer Umfrage bei den Dozierenden und Studierenden die jetzige Situation besser und zielgerichteter angehen, wie Vizerektor Bruno Moretti im Interview erklärt.

Interview: Salomé Zimmermann 12. November 2020

Vizerektor Bruno Moretti: «Auf die qualitativen Vorteile einer Präsenzuni zu verzichten, wäre eindeutig ein Fehler.» © Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel
Vizerektor Bruno Moretti: «Auf die qualitativen Vorteile einer Präsenzuni zu verzichten, wäre eindeutig ein Fehler.» © Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel
Wir alle sind durch das Coronavirus und den damit verbundenen Einschränkungen und Anpassungen weiterhin stark gefordert. Wie unterscheidet sich der Lehrbetrieb der Universität Bern im Vergleich zur Situation im Frühling?

Bruno Moretti: Die ausserordentliche Lage erforderte, dass wir den Lehrbetrieb wieder auf Fernunterricht umstellen. Den Unterschied zur ersten Welle sehen wir vor allem darin, dass wir – die Dozierenden und die Studierenden – nun besser wissen, wie die Umstellung funktioniert, was es dafür braucht, wo die Schwierigkeiten liegen und ob und wie wir diese Probleme lösen können. Zudem wurden die Dozierenden im Sommer gebeten, einen Plan B für die eigenen Veranstaltungen vorzubereiten, für den Fall, dass eine Umstellung auf Fernunterricht wieder nötig sein sollte. Erneut verlangt die Situation nun von allen ein gewisses Mass an Verständnis, Kreativität und Kompromissbereitschaft. Das ist in der zweiten Welle natürlich schwieriger, weil wir alle der ganzen Pandemie und ihrer Einschränkungen überdrüssig sind.

Sie haben im Sommer eine Umfrage bei Lehrenden und Studierenden durchführen lassen, um zu erfahren, wie sie die rasche Umstellung des Lehrbetriebs und den weiteren Verlauf des Semesters wahrgenommen haben. Was kam bei dieser Umfrage heraus?

Die Lehrenden und Studierenden haben sich grösstenteils zufriedenstellend bis sehr gut über die Konsequenzen und Massnahmen informiert gefühlt. Achtzig Prozent waren mit dem Umstellungsszenario zufrieden bis sehr zufrieden. Einige Studierende brachten jedoch Kritik an den Podcasts an – das betraf beispielsweise eine schlechte Bild- und/oder Tonqualität, alte Aufnahmen von früheren Jahrgängen, zu spätes Hochladen oder wiederkehrende Abstürze beim Abspielen.

Hat Sie ein Resultat der Umfrage überrascht?

Von den Resultaten der Umfrage war ich nicht besonders überrascht. Es hat mich aber natürlich gefreut, dass die Reaktion und das Handeln der Universität Bern generell als gut bewertet wurden. Wir mussten im Frühjahr innerhalb von nur gerade drei Tagen zu einer Fernuni werden. Dies hat dank dem riesigen Einsatz von Dozierenden, Studierenden und Mitarbeitenden auch geklappt. Und eine zweite Bemerkung ist für mich in diesem Bereich wichtig: Wenige Monate vor Corona haben wir über die Digitalisierung und mögliche Entwicklungen diskutiert. Wir haben eine Digitalisierungsstrategie verabschiedet – und plötzlich war die Digitalisierung eine dringliche Notwendigkeit. Da konnte man glücklicherweise auf bereits vorhandene Erfahrungen und Infrastruktur zurückgreifen.

Gab es grössere Unterschiede zwischen den Antworten der Dozierenden und der Studierenden?

Alle haben dieselbe Situation erlebt, alle haben den Einsatz der anderen geschätzt, alle haben auch Schwierigkeiten gehabt, wenn auch aus der entgegengesetzten Perspektive. Bei den meisten erfragten Aspekten sind die Rückmeldungen sehr ähnlich.

Wie beurteilten Studierende den digitalen Unterricht im Vergleich zum herkömmlichen Lehrbetrieb?

Die Antworten bestätigen indirekt das Statement der Universitätsleitung, dass die Universität Bern in normalen Zeiten eine Präsenzuni bleiben soll, die von den Vorteilen der digitalen Technologien profitieren will, um eine noch höhere Qualität der Lehre zu gewährleisten. Vereinfacht kann man sagen, dass die Qualität der Lehre vor Corona besser bewertet wurde. Aber es ist auch interessant, dass gegen zehn Prozent der Studierenden die Unterrichtsqualität im Vergleich zu den früheren Semestern im virtuellen Raum «eher besser» empfanden. Für fünf Prozent war sie sogar «deutlich besser». Die Studierenden erwähnten in zahlreichen Anmerkungen auch, dass es grosse Unterschiede zwischen den Dozierenden gab hinsichtlich der Qualität des digitalen Unterrichts.

Und wie äusserten sich die Dozierenden?

Von den Dozierenden wurden die Betreuung der Studierenden, die Förderung des interaktiven Austausches während des Online-Unterrichts, die Förderung des interaktiven Austausches ausserhalb des Online-Unterrichts oder die Schaffung eines motivierenden Lernklimas als schwierig betrachtet. Hier gibt es Verbesserungspotenzial, und die Vorteile des Präsenzunterrichts werden deutlich.

Hat sich der Arbeitsaufwand verändert?

Der Arbeitsaufwand war im Durchschnitt grösser. Gründe für den erhöhten Aufwand waren bei den Studierenden reduzierte Produktivität, unpassende Infrastruktur, zeitliche Fehleinschätzung der Dozierenden bezüglich des Arbeitsanfalls sowie wenig effizienter Präsenzunterricht per Videokonferenz. Dagegen erleichterten der Wegfall von langen Reisewegen und Nebenjobs sowie zeitlich flexibel einsetzbare Podcasts das Studieren. Eine Mehrheit der befragten Dozierenden musste einen deutlichen Zusatzaufwand an Stunden leisten.

Wo gab es die grössten Schwierigkeiten?

Der grösste Knackpunkt betraf sicher die Prüfungen. Für die Lehre verfügten wir schon über eine sehr gute Infrastruktur, bei den Prüfungen hingegen hatten sich die Diskussionen und Entwicklungen bisher auf Online-Präsenzprüfungen konzentriert. Die Studierenden sitzen wie bei normalen Prüfungen in einem Raum und schreiben nicht auf Papier, sondern auf einem Computer. Die Corona-Situation verlangte nach Lösungen im Bereich der Online-Fernprüfungen – das bedeutete ein Umdenken und Anpassen der Prüfungsart. Ich habe den grossen Einsatz von vielen Mitarbeitenden sehr geschätzt: So haben beispielsweise die Abteilung Hochschuldidaktik und Lehrentwicklung und die Supportstelle für ICT-gestützte Lehre und Forschung (iLUB) eine Taskforce-Gruppe gebildet, die den Dozierenden beratend zur Verfügung stand. Der Science IT Support des Instituts für Mathematik hat Workshops für die ganze Uni zum Thema der Online-Prüfungen organisiert, und die Philosophisch-humanwissenschaftliche Fakultät hat im Bereich der Multiple-Choice-Prüfungen Lösungen gefunden.

Und was können Sie nun konkret aus diesen Antworten für die neuerliche Umstellung auf Fernunterricht mitnehmen?

Wir haben gesehen, welche Probleme in welchen Situationen aufgetreten sind und wie die Umstellung von den Hauptakteuren wahrgenommen und erlebt wurde. Wo es möglich war, haben wir Verbesserungsmassnahmen ergriffen. Es wurden beispielsweise neue Mikrofone in mehreren Hörsälen installiert, um die Tonqualität der Aufnahmen zu erhöhen, die Verwendung der Lernräume wurde verbessert, und die Anleitungen zu verschiedenen Lösungen für die Lehre wurden angepasst. Konkret mitnehmen können wir auch, dass die Umstellung auf Fernunterricht möglich ist. Auf die qualitativen Vorteile einer Präsenzuni zu verzichten, wäre jedoch eindeutig ein Fehler. Aber die Lehre nach Corona wird sich auf die jetzigen Erfahrungen zum Einsatz digitaler Technologien stützen können.

Zur Person

Bruno Moretti ist seit 2011 Vizerektor Lehre und seit 2002 Professor für italienische Sprachwissenschaft und Co-Leiter des Instituts für italienische Sprache und Literatur an der Universität Bern.

Zur Autorin

Salomé Zimmermann ist Redaktorin in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.

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