50 Jahre Schwarzenbach-Abstimmung

Nach einem harten Abstimmungskampf wurde die Initiative gegen «Überfremdung» – besser bekannt als «Schwarzenbach-Initiative» – am 7. Juni 1970 an der Urne knapp verworfen. Die Historikerin Francesca Falk lässt mit ihren Studierenden in einem «Oral History»-Projekt italienische Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu Wort kommen. Im Interview schlägt sie einen Bogen in die Gegenwart.

Dr. Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern.
Dr. Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern. © Selwyn Hoffmann

Frau Falk, was war die Idee hinter dem «Oral History»-Projekt zur Schwarzenbach-Initiative?
Francesca Falk: Rund 300‘000 Menschen waren damals durch die «Schwarzenbach-Initiative» von der Ausweisung bedroht, weil sie keinen Schweizer Pass besassen. Wird an diese Abstimmung erinnert, steht allerdings oft der Industriellensohn, Franco-Bewunderer und Rechtspopulist James Schwarzenbach im Zentrum. In unserem Seminar wollten wir einen Perspektivenwechsel vornehmen und danach fragen, wie sich die aus Italien stammenden Menschen an die Abstimmung von 1970 und ihre Folgen erinnern. Denn die Initiative zielte vor allem auf sie als damals grösste und am meisten organisierte «ausländische» Bevölkerungsgruppe in der Schweiz.

Sie haben dieses Projekt gemeinsam mit Studierenden realisiert. Was nehmen Sie als Dozentin aus dieser Zusammenarbeit mit?
Es war mir eine grosse Freude mit den Studierenden an diesem Projekt zu arbeiten. Von Anfang an war ich von der hohen Konzentration und der Diskussionskultur im Seminar beeindruckt. Nachdem die Studierenden ihre Interviews mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durchgeführt und transkribiert haben, analysierten sie die Stärken und Schwierigkeiten des Gesprächsverlaufs, gaben sich gegenseitig schriftliche Rückmeldungen und verfassten eine Stellungnahme zum erhaltenen Feedback. Es war sehr spannend zu sehen, wie sie sich gegenseitig gespiegelt haben und dadurch neue Lernprozesse in Gang gesetzt wurden. Leider aber konnten wir aufgrund von Corona unsere Wanderausstellung nicht realisieren. In Bern wäre sie in der Universitätsbibliothek Münstergasse zu sehen gewesen.

Sie haben auf die Methode der «Oral History» zurückgegriffen. Was ist darunter zu verstehen?
«Oral History» zeichnet mündliche Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf und wertet sie aus. Sie ist eine wichtige Methode der Zeitgeschichte, um Sachverhalte zu erhellen, die wenig oder schlecht dokumentiert sind. Dadurch wird es möglich, die Perspektiven von Menschen sichtbar zu machen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung zu wenig berücksichtigt wurden. Gerade «migrantische Erfahrungen» werden meist unzureichend dokumentiert und tauchen im kollektiven Gedächtnis nur am Rand auf. Durch «Oral History» werden Alltagserfahrungen artikuliert, die auch auf strukturelle Gegebenheiten hinweisen, etwa wenn mehrere Personen auf ähnliche Erlebnisse zu sprechen kommen. Wie und was jemand erzählt, hat dabei immer mit der erlebten Geschichte, aber auch mit der Gegenwart zu tun. Erinnerungen sind also nicht nur subjektiv und retrospektiv, sondern spiegeln auch wider, wie die interviewte Person ihr Leben in der Gegenwart sieht.

Zeitzeuge: Giuseppe Pero kam 1968 aus Italien in die Schweiz, war bis 1970 Hilfsarbeiter, danach Werkmeister.
Zeitzeuge: Giuseppe Pero kam 1968 aus Italien in die Schweiz, war bis 1970 Hilfsarbeiter, danach Werkmeister. © Nicolas Zonvi

Welche Reaktionen haben Sie bisher erhalten?
Eine von uns interviewte Person meinte, es habe sie sehr berührt zu spüren, wie ihre Erinnerungen für junge Menschen wichtig seien. Unser Ansatz, damalige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ins Zentrum zu rücken und ihre Stimmen hörbar zu machen, hat zudem ein beachtliches Medieninteresse erfahren. So hat beispielweise eine Seminarteilnehmerin einen grossen Artikel im «Bund» mitveröffentlicht, die Zeitung «Work» hat einen grossen Beitrag publiziert, in dem sechs der von uns befragten Personen porträtiert wurden. Auch SRF und die «WOZ» haben Interesse angemeldet, und ich bin gespannt, was die Medien dazu noch machen werden.

Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Im folgenden Semester werden wir die Interviews analysieren. Mit der Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji, die für ihren Roman «Tauben fliegen auf» 2010 mit dem Deutschen und Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, werden wir zudem über den Zusammenhang von Sprache und Migration nachdenken. Mit ihr und in Zusammenarbeit mit der Forschungsplattform MIKO des Walter Benjamin Kollegs und der «WOZ» führen wir am 22. September eine öffentliche Abendveranstaltung durch, die je nach Situation im Hauptgebäude der Uni Bern oder im virtuellen Raum stattfinden wird. Dabei dient die «Schwarzenbach-Initiative» als Aufhänger für einen Blick in die Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Gemma Capone arbeitete im Abstimmungsjahr 1970 in einer Fabrik während der Nachtschicht und betreute tagsüber ihre kleinen Kinder.
Zeitzeugin: Gemma Capone arbeitete im Abstimmungsjahr 1970 in einer Fabrik während der Nachtschicht und betreute tagsüber ihre kleinen Kinder. © zvg

Am 27. September stimmen wir über die Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung» ab. Diese wird auch «Kündigungsinitiative» genannt, weil sie das Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union kündigen will. Was fällt auf, wenn wir ausgehend von der «Schwarzenbach-Initiative» auf die Gegenwart blicken?
1970 waren die Gewerkschaften gespalten; es gab viele Mitglieder, die Schwarzenbach unterstützten. Bei der «Schwarzenbach-Initiative» waren interessanterweise die Saisonniers von den Kontingentierungsmassnahmen ausgenommen. Das zeigt, was den Initianten damals ein Dorn im Auge war: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für migrantische Arbeitskräfte. Denn mit einem so prekären Aufenthaltsstatus wie bei Saisonniers ist es sehr schwierig, für fairere Arbeits- und Lebensbedingungen einzustehen. Die «Schwarzenbach-Initiative» zielte damit klar auch auf eine Entrechtlichung. So forderte sie, dass es bei Einbürgerungen in Zukunft zu keinen Erleichterungen kommen sollte. Heute sieht das Bild bei den Gewerkschaften anders aus. Sie warnen davor, dass durch eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens wichtige Schutzmassnahmen für Arbeitnehmende, die keinen Schweizer, aber einen EU-Pass haben, ausser Kraft gesetzt würden.

ÜBER FRANCESCA FALK

Dr. Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte am Historischen Institut der Universität Bern. Die Historikerin koordiniert zudem die Forschungsplattform MIKO des Walter Benjamin Kolleg. Zu Falks Forschungsschwerpunkten zählen ausser Migration u.a. die Geschichte des modernen Europas und seiner globalen Kontexte, die Geschlechtergeschichte sowie Public, Visual und Oral History.

Kontakt:

Dr. Francesca Falk
Historisches Institut der Universität Bern
francesca.falk@hist.unibe.ch

ÜBER DIE DOZENTUR FÜR MIGRATIONSGESCHICHTE AM HISTORISCHEN INSTITUT

Die Dozentur besteht seit 2015 und befasst sich mit menschlichen Wanderungsbewegungen als komplexem, grundlegendem historischen Phänomen, das alle Lebensbereiche durchdringt. Ihre Themen sind der Wandel der Formen, Wege, Gründe, Erfahrungen und Folgen von Migration. Die Dozentur versteht sich als Einrichtung für die interdisziplinäre Vernetzung von Forschungsarbeiten verschiedener Fachbereiche zur Migration.

ÜBER DIE AUTORIN

Nina Jacobshagen arbeitet als Redaktorin Corporate Publishing in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.

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