«Nutztierhaltung wird immer ein Kompromiss sein»

In Bern findet eine internationale Konferenz zu Erkrankungen bei Nutztieren, Tiergesundheit und der nachhaltigen Produktion von Lebensmitteln statt. Hauptorganisator ist Rupert Bruckmaier, Leiter der Veterinär-Physiologie der Vetsuisse-Fakultät Bern. Ein wichtiges Thema der Konferenz ist das Tierwohl.

Vom 27.-29. Juni 2019 treffen sich in Bern über 300 Expertinnen und Experten an der International Conference on Production Diseases in Farm Animals (ICPD). Die Tagung befasst sich mit produktionsbedingten Erkrankungen, und wie diese früh erkannt und vermieden werden können – etwa durch entsprechende Anpassungen der Haltungssysteme oder den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Im Fokus steht auch das Tierwohl, denn dieses ist eine entscheidende Voraussetzung für die nachhaltige Produktion von tierischen Lebensmitteln wie Milch, Eiern und Fleisch.

Erhielt den Hans Sigrist-Preis 2018 der Universität Bern für ihre Forschung zum Tierwohl: Marina von Keyserlingk, University of British Columbia. Bild: zvg
Erhielt den Hans Sigrist-Preis 2018 der Universität Bern für ihre Forschung zum Tierwohl: Marina von Keyserlingk, University of British Columbia. Bild: zvg

Zu den international renommierten Forschenden, die ihre neuesten Ergebnisse vorstellen werden, gehört auch Marina von Keyserlingk, Hans-Sigrist-Preisträgerin der Universität Bern 2018. Sie wird über gesellschaftliche Ansprüche an die Nutztierhaltung sprechen. Rupert Bruckmaier, Leiter der Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetuisse-Fakultät Bern und Hauptorganisator der ICPD, freut sich, dass es gelungen ist, die bedeutende internationale Konferenz nach 1992 ein zweites Mal nach Bern zu holen.

Herr Bruckmaier, was bedeutet es für die Veterinär-Physiologie der Vetsuisse Bern, dass die ICPD und die «Koryphäen» auf dem Gebiet nach Bern kommen?
Dass so viele international renommierte Forscherinnen und Forscher der Einladung nach Bern gefolgt sind, freut uns sehr. Das positive Feedback aus aller Welt zeigt, dass unsere kleine Abteilung international sehr anerkannt ist. Dazu gehören auch mehrere international bedeutende Auszeichnungen – zum Beispiel die Mitgliedschaft im «Club100» des Journal of Dairy Science (USA) für einen kleinen Kreis von Forschenden, die im Journal mindestens 100 Papers veröffentlicht haben. Marina von Keyserlingk und ich sind beide Mitglieder des «Club100». Zudem pflegt die Abteilung seit ihrer Gründung im Jahr 1985 ein Netzwerk mit Forschenden aus aller Welt. Neben dem erwarteten Austausch von neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen an der ICPD werden sich auch Möglichkeiten für den weiteren Ausbau der internationalen Zusammenarbeit ergeben.

Prof. Dr. Rupert Bruckmaier, Leiter der Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetsuisse-Fakultät Bern. © zvg
Prof. Dr. Rupert Bruckmaier, Leiter der Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetsuisse-Fakultät Bern. © zvg

An der ICPD ist auch «Precision Livestock Farming» ein Thema. Was ist das?
Es geht unter anderem um das Monitoring einzelner Tiere und die Verarbeitung von Daten, um betriebliche Abläufe und das Tierwohl zu verbessern. So nimmt vor allem in grösseren Betrieben die automatisierte Überwachung von Tieren, speziell die Gesundheitsüberwachung, an Bedeutung zu. Eine Früherkennung von Krankheiten oder Verhaltensveränderungen leistet einen bedeutenden Beitrag dazu, dass nachhaltige Lebensmittel produziert werden können – durch gesunde und möglichst stressfrei gehaltene Nutztiere. Solche digitalen Überwachungssysteme werden sowohl in der angewandten Forschung wie auch in der praktischen Tierhaltung eingesetzt. Beispielsweise werden Bewegungsmuster von Tieren automatisch erfasst, wodurch sich Einschränkungen in der Fortbewegung schnell erkennen lassen. Oder spezielle Halfter erfassen, wann Tiere fressen oder wiederkäuen. Bei Milchkühen kann in jedem Gemelk oder Milchabgabe eine Reihe von Parametern automatisiert analysiert werden. Daraus können beginnende Erkrankungen der Milchdrüse, aber auch Stoffwechselbelastungen und -erkrankungen früh diagnostiziert werden. Die meisten dieser Systeme warnen automatisch, wenn sich Abweichungen vom Standard abzeichnen.

In Melkrobotersystemen kann Kuhmilch nach jedem Melken automatisiert untersucht werden, um beginnende Krankheiten des Tiers möglichst früh zu erkennen. Bild: istock
In Melkrobotersystemen kann Kuhmilch nach jedem Melken automatisiert untersucht werden, um beginnende Krankheiten des Tiers möglichst früh zu erkennen. Bild: istock

Hat diese Digitalisierung auch Nachteile?   
Wie auch bei anderen modernen Systemen gibt es Risiken. So haben die Herstellerfirmen der Systeme, oder auch Kontrollverbände, vielfach Zugriff auf die Daten auf den Betrieben. Es ist sicher ein Thema für sich, wem eigentlich die Daten gehören. Jedenfalls sind durch den möglichen Zugriff von aussen auch Manipulationen möglich. Sofern die Systeme durch künstliche Intelligenz auch selbst Entscheidungen treffen, könnten diese theoretisch so manipuliert werden, dass ein Produktionssystem kollabiert. Ein neuerdings aufkommendes Thema ist deshalb auch in der Lebensmittelproduktion die Cyber Security.

Welche Herausforderungen gibt es bei der zukünftigen Produktion von nachhaltigen Lebensmitteln?
Nutztierhaltung wird immer ein Kompromiss zwischen verschiedenen Interessen sein. Einerseits müssen die Produzenten, insbesondere die Landwirte, mit der Produktion ihren Lebensunterhalt verdienen. Andererseits hat die Gesellschaft Vorstellungen zur Produktionsweise, die sich aus ökonomischen Gründen kaum realisieren lassen – sei es von Konsumentinnen und Konsumenten von tierischen Produkten oder von Personen, die auf tierische Produkte verzichten. Daher ist es sehr wichtig, dass nicht nur auf Seite der Produzenten die Haltungsbedingungen verbessert werden, sondern dass gleichzeitig ein Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen der Gesellschaft stattfindet.

Trotz Digitalisierung ist immer noch Handarbeit gefragt: der Nachwuchs übt eine Leberbiopsie. © zvg
Trotz Digitalisierung ist immer noch Handarbeit gefragt: der Nachwuchs übt eine Leberbiopsie. © zvg

Woran forschen Sie gerade?
Wir untersuchen, wie sich Milchkühe an eine saison- und wetterbedingte Variation von Futterpflanzen optimal anpassen, ohne zu erkranken. Ein weiteres Projekt befasst sich mit Schmerztherapien bei Euterentzündungen, bis das körpereigene Immunsystem aktiviert wird – und wodurch der Einsatz von Antibiotika verringert werden soll. Zudem suchen wir nach einer Optimierung des Melkvorgangs von Milchkühen. Dies hat zum Ziel, die Melkdauer kurz zu halten und das Zitzengewebe möglichst wenig zu belasten.

Veterinär-Physiologie an der Vetsuisse Bern

Im Vordergrund der Forschungsarbeiten der Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetsuisse Fakultät stehen physiologische Prozesse von Milchkühen. Bei allen Projekten der Gruppe unter der Leitung von Prof. Rupert Bruckmaier spielt der Bezug zur Tiergesundheit, zum Tierwohl und zu einer nachhaltigen Produktion tierischer Lebensmittel eine entscheidende Rolle. Die meisten experimentellen Arbeiten der Abteilung Veterinär-Physiologie finden seit 35 Jahren auf dem Versuchsbetrieb von Agroscope am Standort Posieux (FR) statt, wo auch die Labors der Gruppe eingemietet sind. Die Veterinär-Physiologie ist zudem an der Interfakultären Forschungskooperation (IFK) «One Health» der Universität Bern beteiligt, wo sie Auswirkungen von Pflanzenbestandteilen auf das Mikrobiom im Verdauungssystem von Wiederkäuern untersucht, und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Tiergesundheit und die Lebensmittelqualität.

Zur Person

Prof. Dr. Rupert Bruckmaier ist seit 2005 Leiter der Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetsuisse-Fakultät Bern. Unter seiner Federführung organisiert die ein Komittee von Veterinärmedizinerinnen und Nutztierwissenschaftlern der Vetsuisse-Fakultät die diesjährige ICPD.

Kontakt:

Prof. Dr. Rupert Bruckmaier
Department of Clinical Research and Veterinary Public Health, Veterinär-Physiologie
rupert.bruckmaier@vetsuisse.unibe.ch

Zur Autorin

Nathalie Matter arbeitet als Redaktorin bei Media Relations und ist Themenverantwortliche «Gesundheit und Medizin» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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