«Ich wollte nie Schriftstellerin werden – das war ein Unfall!»

Lizzie Doron ist zwölfte Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorin für Weltliteratur an der Universität Bern. In der Burgerbibliothek stellt sie sich den Bernerinnen und Bernern vor und erklärt, weshalb sie heute einfach schreiben muss.

Von Vera Jordi 24. September 2019

Zufrieden lächelnd lässt Lizzie Doron ihren Blick durch den Saal gleiten, während die Direktorin der Burgerbibliothek Bern, Claudia Engler, das Publikum begrüsst. An die hundert Gäste sind anwesend, die Veranstaltung hat kurzerhand umziehen müssen. Ungewohnt ist die Situation für Lizzie Doron längst nicht mehr: Jede Woche liest und spricht sie vor Publikum – und dabei hat alles mit einer ganz einfachen Frage begonnen.

Familienbiographie als Geschenk

«Mama, woher kommen wir?», fragt ihre Tochter Dana, als sie 1990 in der Schule die Biographie der eigenen Familie vorstellen soll. Lizzie Doron hat keine zufriedenstellenden Antworten parat. Ihre Mutter hat als einziges Mitglied der Familie den Holocaust überlebt. Was mit allen anderen Verwandten geschah, hat sie Lizzie nie verraten können – oder wollen. Für die nächste Generation sollte einzig die Zukunft relevant sein, entschied sie. Wenn Lizzie dennoch etwas über den Zweiten Weltkrieg und über die schrecklichen Erlebnisse aus den Konzentrationslagern erfahren wollte, erzählte ihre Mutter ihr höchstens ausgewählte und zurechtgemachte Episoden: «Ich wuchs in Geschichten auf, nicht im echten Leben», erklärt Lizzie Doron, «die Personen und Gefühle dahinter habe ich nie kennengelernt». Dana aber soll ehrliche Antworten erhalten. Also beginnt Lizzie Doron, endlich nach ihren Wurzeln zu suchen. Sie recherchiert und schreibt auf. Am Ende liegt vor ihr ein Buch, dass sie ihrer Tochter als Geschenk überreicht. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Doron als Sprachwissenschaftlerin an der Universität in Tel Aviv und träumt davon, nach der Dissertation einmal Professorin zu werden. Aber es kommt anders: Ihre Assisstentin ist vom Manuskript derart begeistert, dass sie es heimlich an alle Verlage in Israel schickt und die Dinge nehmen ihren Lauf. «Die Frau hatte Chuzpe!», so Doron.

«Ich wuchs in Geschichten auf, nicht im echten Leben», erklärt Lizzie Doron. Foto © Vera Jordi, Universität Bern
«Ich wuchs in Geschichten auf, nicht im echten Leben», erklärt Lizzie Doron. Foto © Vera Jordi, Universität Bern

Lizzie Dorons Debütroman Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen? kommt auf Anhieb gut an: Doron wird als Holocaust-Autorin ernstgenommen, zu Veranstaltungen eingeladen und in Schulen gelesen. Weitere Romane wie beispielsweise Ruhige Zeiten (dt. 2005) oder Das Schweigen meiner Mutter (dt. 2011) folgen.

Zwischen Feinden und Freunden

An einer Friedenskonferenz in Rom lernt sie einige Jahre später den Fotografen und Menschenrechtsaktivisten Nadim Abu Hanis kennen. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein – er palästinensischer Muslim, sie israelische Jüdin – wollen aber beide dasselbe: Dialog suchen und Frieden finden. Gemeinsame Projekte sollen realisiert werden. Indem sie den Nahost-Konflikt zum Gegenstand ihres Schreibens macht, betritt Lizzie Doron gefährliches Terrain: Die Isrealis schimpfen sie eine Verräterin, die Palästinenser eine Heuchlerin. Doron gerät zwischen die verhärteten Fronten, gewinnt mit Nadim zwar einen neuen Freund, verliert aber an Ansehen und Beziehungen. Kein einziger Verlag in Israel willigt ein, ihren Doku-Roman Who the Fuck is Kafka zu publizieren, weswegen er 2015 nur auf Deutsch erscheint. Dieser Sprache ist sie nicht mächtig. In der Burgerbibliothek liest deswegen ihre Gesprächspartnerin Dr. Naomi Lubrich aus dem Buch vor.

«Wir begnügten uns mit Kaffee, dann fuhren wir los. [Nadim] lächelte, als er sich die Kamera über die Schulter hängte. »Maria träumt davon, dass wir diesen Film machen.« »Ja, und dann kommt der Frieden«, sagte ich, und diesmal lachten wir nicht.»
Lizzie Doron, Who the Fuck is Kafka, 2015.

Lizzie Doron ist sich dennoch sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben: «Ich schreibe über das, was ich heute wichtig und dringlich finde!». Literatur kann es schaffen, den interreligiösen und -kulturellen Diskurs zu ermöglichen, gewisse Themen auf die politische Agenda zu bringen und Brücken zu schlagen.

Lizzie Doron (Dürrenmatt Gastprofessorin) im Gespräch mit Dr. Naomi Lubrich (Direktorin Jüdisches Museum der Schweiz). Foto © Vera Jordi, Universität Bern
Lizzie Doron (Dürrenmatt Gastprofessorin) im Gespräch mit Dr. Naomi Lubrich (Direktorin Jüdisches Museum der Schweiz). Foto © Vera Jordi, Universität Bern

Lizzie Doron meint, was sie sagt. Konsequenterweise stellt sie auch jene Texte ins Zentrum ihres Seminars, die Tabus brechen und ihre Leser zur kritischen Reflexion zwingen: «Breaking the Walls» heisst ihr Kurs an der Universität Bern. Die Studierenden sollen das Programm dazu mitgestalten: Rassismus, Gleichberechtigung, Migration, politische Unterdrückung oder auch Gender sind mögliche Themen, um die die wöchentlichen Diskussionen kreisen sollen. «Ich freue mich darauf, nun doch noch einmal in meinem Leben Professorin sein zu dürfen», sagt Doron. Bis Weihnachten werde sie in Bern viel lehren und lernen – schliesslich könne man aus jeder Begegnung etwas für sich mitnehmen. Vorausgesetzt, man ist gewillt, auch Andersdenkenden zuzuhören.

Zur Person

© Heike Bogenberger

Lizzie Doron lebte in einem Kibbuz, bevor sie Sprachwissenschaft studierte und Schriftstellerin wurde. Als Angehörige der ‘Zweiten Generation’ von Nachfahren der Holocaust-Überlebenden verwebt sie in ihren Büchern persönliche mit fiktionaler Geschichte. 1998 erschien ihr autobiographischer Debütroman Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen? (dt. 2004), der in Israel zur Schullektüre wurde. Es folgten Ruhige Zeiten (dt. 2005), Der Anfang von etwas Schönem (dt. 2007), Es war einmal eine Familie (dt. 2009) und Das Schweigen meiner Mutter (dt. 2011). Mit Who the Fuck is Kafka (2015) und Sweet Occupation (2017) machte Doron zuletzt den Palästina-Konflikt zum Gegenstand ihres Erzählens. Sie schreibt auf Hebräisch, ihre Texte wurden auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Russisch übersetzt.

Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur

Der Name Friedrich Dürrenmatt steht für eine vielseitige Weltliteratur in Bern: Der aus dem Kanton stammende Schriftsteller, der an der Universität Bern studierte, verfasste Prosatexte und Essays sowie Arbeiten für Theater und Radio, die in zahlreichen Zusammenhängen und Sprachen wahrgenommen wurden. Im Herbst 2013 wurde an der Universität Bern die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur eingerichtet. Sie dient der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Literatur, Theorie und Praxis, Universität und Öffentlichkeit. Seit dem Frühjahr 2014 unterrichtet in jedem Semester eine internationale Autorin oder ein internationaler Autor als Gast des Walter Benjamin Kolleg an der Universität Bern. Sie oder er gibt ein Seminar und nimmt an öffentlichen Veranstaltungen in Bern sowie an anderen Orten in der Schweiz teil. Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur wird verwirklicht mit Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz und der Burgergemeinde Bern.

Die israelische Autorin Lizzie Doron ist die zwölfte Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorin in Bern. Ihre Vorgänger waren David Wagner (Deutschland), Joanna Bator (Polen), Louis-Philippe Dalembert (Haiti), Wendy Law-Yone (Burma), Fernando Pérez (Kuba), Wilfried N’Sondé (Kongo), Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien), Josefine Klougart (Dänemark), Xiaolu Guo (China), Peter Stamm (Schweiz) und Nedim Gürsel (Türkei).

Zur Autorin

Vera Jordi ist Projektassistentin von Prof. Oliver Lubrich am Walter Benjamin Kolleg.

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