«Ein ausgezeichneter Ansatz gegen Armut»

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften zeichnet dieses Jahr eine experimentelle Forschungsmethode zur Armutslinderung aus. Sonja Vogt, Professorin für Nachhaltige Gesellschaftsentwicklung an der Universität Bern, wendet diesen Ansatz ebenfalls an – etwa im Sudan zur Bekämpfung der Mädchenbeschneidung. Bei uns kann die Methode auch helfen, umweltverträgliches Handeln zu fördern.

Frau Vogt, es ist doch längst bekannt, warum es Armut gibt und was man dagegen tun könnte. Weshalb braucht es noch Armutsforschung?
Sonja Vogt: Die Gründe, warum Menschen unter Armut leiden, sind nicht immer klar. Häufig sind Faktoren ausschlaggebend, die Aussenstehende als Kleinigkeiten ansehen, die aber darüber entscheiden, ob Armut entsteht oder nicht. Deshalb ist der experimentelle Ansatz so wichtig.

Wie funktioniert diese Methode?
In der Medizin ist dieses Vorgehen schon längst etabliert: Man behandelt zwei Gruppen mit einem Wirkstoff respektive einem Placebo und untersucht nach einer bestimmten Zeit, ob und wie das Medikament wirkt. Die Einteilung der Gruppen liegt bei der Studienleitung. Ganz ähnlich können Massnahmen zur Armutsbekämpfung funktionieren. Nehmen wir als Beispiel ein Experiment, das in einer ländlichen Region in Afrika durchgeführt wurde, in der viele Kinder der Schule fernblieben. Als Gründe für das Fernbleiben wurden der lange Schulweg und die teuren Schuluniformen angeführt.

Und das war falsch?
Tatsächlich war es ein weit verbreiteter Bandwurm, der die Kinder plagte und vom Schulbesuch abhielt. Das Experiment mit zwei zufällig zusammengesetzten Schülergruppen, von denen eine mit einem Entwurmungsmittel behandelt wurde, zeigte, dass der Parasit der entscheidende Faktor für die Absenzen war. Die zufällige Einteilung von Schülern in je eine Gruppe, die behandelt wird respektive die ohne Behandlung bleibt, erlaubt kausale Rückschlüsse auf die Ursache der Veränderung. Denn die beiden Gruppen unterscheiden sich nur darin, ob sie ein Entwurmungsmittel erhalten haben oder nicht.

Dank dem Nobelpreis werde künftig häufiger mit dem experimentellen Ansatz geforscht, hofft Sonja Vogt, Professorin am Institut für Soziologie und am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern. Foto: © CDE Universität Bern, Bild Manu Friederich
Dank dem Nobelpreis werde künftig häufiger mit dem experimentellen Ansatz geforscht, hofft Sonja Vogt, Professorin am Institut für Soziologie und am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern. Foto: © CDE Universität Bern, Bild Manu Friederich

Ist es nicht ethisch verwerflich, einer Gruppe das Entwurmungsmittel vorzuenthalten?
Häufig reichen die finanziellen Mittel ohnehin nicht, um alle Betroffenen mit einem bestimmten Medikament zu versorgen. In diesem Fall aber war es so, dass man die Kinder der Kontrollgruppe nach Ablauf des Versuchs ebenfalls behandelte. So profitierten unter dem Strich alle Beteiligten. Entscheidend ist aber, dass man aufgrund dieses Experiments die ohnehin knappen Mittel der Entwicklungszusammenarbeit zielführender einsetzen kann. Statt einer Schuluniform für zehn Franken braucht es nur ein Medikament, das pro Dosis wenige Rappen kostet. Übrigens müssen alle diese Experimente vorgängig von einer Ethikkommission bewilligt werden.

Wie reagieren Hilfswerke auf solche Erkenntnisse?
Es ist nicht immer einfach, bestehende Muster zu durchbrechen. Wer seit 20 Jahren Schuluniformen verteilt, muss umdenken. Aber auch Medikamente verschreibt man ja nicht weiter, wenn sie sich als wirkungslos herausgestellt haben. Angesichts der beschränkten Finanzen macht es Sinn, solche Experimente durchzuführen und die Konsequenzen aus den Ergebnissen zu ziehen.

Haben Sie dieses experimentelle Modell selbst auch schon angewendet?
Vor einigen Jahren betreute ich in Zusammenarbeit mit Unicef ein Projekt, das die Bevölkerung im Sudan für die Beschneidung von Mädchen sensibilisieren wollte. Obwohl das Thema seit mehreren Jahren in allen Medien ist und die Mädchenbeschneidung von offizieller Seite verurteilt wird, geht sie in der Praxis kaum zurück. Früher hätte man einfach Informationen zu den Nachteilen dieser Praxis verbreitet. Wir hingegen verfolgten den experimentellen Ansatz: Wir produzierten insgesamt vier Unterhaltungsfilme, darunter auch Soaps, und zeigten jeden Film in je 40 unterschiedlichen Dörfern. Einige Zeit nach der Filmvorführung überprüften wir, ob sich die Einstellung der Bevölkerung in Sachen Mädchenbeschneidung geändert hat. Heute wissen wir, für welche Argumente die Bevölkerung Sudans besonders empfänglich ist, wenn es um eine Abkehr von Beschneidungen geht.

Hat die Methode auch Schwachstellen?
Nicht eigentliche Schwachstellen, aber es wäre falsch, nur noch auf diesen Ansatz zu setzen und ihn als Goldstandard zu idealisieren. Hat man auf diesem experimentellen Weg eine Antwort auf ein Armutsproblem gefunden, ist das Problem noch längst nicht verschwunden. Wird die Kampagne – sei es die Entwurmung oder die Verbreitung eines Informationsvideos – beispielsweise an Dritte wie die Regierung oder eine Nichtregierungsorganisation übergeben, muss sichergestellt sein, dass diese die Massnahmen korrekt zu Ende führen. Zudem sind die mit der experimentellen Methode gewonnenen Erkenntnisse oft regional beschränkt.

Wie meinen Sie das?
Armut entsteht aus unterschiedlichsten Gründen, und die geografischen Faktoren oder die gesellschaftliche Einstellung können regional sehr unterschiedlich sein. In einer Studie der beiden Nobelpreisgewinner Esther Duflo und Michael Kremer wurde beispielsweise gezeigt, dass sich die Kleinbauern weigerten, Dünger zu kaufen, obwohl sie sich das eigentlich hätten leisten können. Der Grund war, dass das Geld nach der Ernte zwar vorhanden war, die Bauern zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht die nächste Aussaat planten. Aus dieser Erkenntnis entstand der Ansatz, die Bauern dabei zu unterstützen, Geld fürs nächste Jahr zurückzulegen.

Abhijit Banerjee, Esther Duflo and Michael Kremer haben den diesjährigen Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten, weil sie «unsere Fähigkeit, Armut zu bekämpfen, in der Praxis dramatisch verbessert» haben, so die Jury. Bild: © Nobel Media 2019, Illustration: Niklas Elmehed

Kann die experimentelle Methode auch der Bevölkerung in Industrienationen neue Erkenntnisse bringen?
Eine Studie aus den USA untersuchte, wie man Hotelgäste dazu bringt, ihre Handtücher nicht täglich zu wechseln und so die Umwelt zu schonen. Dazu wurden unterschiedlich formulierte Nachrichten im Badezimmer verteilt: In manchen war es einfach die Bitte, das Handtuch nicht zu wechseln, während es in anderen hiess, die meisten anderen Gäste verzichteten bereits auf den täglichen Handtuchwechsel. Die Forscher fanden heraus, dass diese zweite Information zu einem umweltbewussteren Verhalten führt.

Also geht es häufig darum, zu prüfen, wie man zu Verhaltensänderungen motivieren kann?
Exakt. Das können auch kleinste Schritte sein. In unserer Mensa werden am Kaffeeautomaten Einwegbecher angeboten. Eine meiner Studentinnen untersucht nun, wie sich die Gäste dazu bringen lassen, die eigene Kaffeetasse mitzubringen: Nützen schriftliche Aufrufe? Oder ist es wirkungsvoller, wenn die Becher etwas versteckt bereitgestellt werden? Man führt an verschiedenen Tagen verschiedenen Massnahmen durch und vergleicht den Effekt mit Tagen, an denen das bisherige System gilt. Anschliessend weiss man, welche Massnahme die grösste Wirkung hat.

Mit dem Nobelpreis erhält die experimentelle Methode eine beachtliche Bekanntheit – wird sie in Zukunft häufiger Eingang in die Praxis finden?
Ich hoffe es. Vor zwei Jahren ging der Wirtschaftsnobelpreis ja an einen Verhaltensökonomen und seine Theorie des «Nudging», also der Frage, wie sich Entscheidungen anstossen lassen. Heute ist «Nudging» Mainstream. Der experimentelle Ansatz macht zudem nicht nur bei der Armutsbekämpfung Sinn, sondern auch in anderen Bereichen, wo eine Verhaltensänderung nötig wäre. Gerade beim Klimawandel merken wir ja selbst, wie hartnäckig wir Verhaltensweisen beibehalten, von denen wir wissen, dass sie umweltschädlich sind. Experimente mit Kontrollgruppen können beispielsweise zeigen, welche Massnahmen am wirksamsten sind, um die Menschen von Kurzflügen abzuhalten. Anschliessend kann man gezielt diesen Weg wählen, statt pauschal zum Flugverzicht aufzurufen.

Zur Person

Sonja Vogt studierte experimentelle Soziologie an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Danach war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich und der Universität Oxford. Heute arbeitet sie als ausserordentliche Professorin für Nachhaltige Gesellschaftsentwicklung am Institut für Soziologie der Universität Bern und ist affiliierte Professorin am Centre for Development and Environment der Universität Bern.

In den letzten Jahren forschte Vogt zum sozialen Kontext der Mädchenbeschneidung im Sudan oder zur Frage der Korruptionsbekämpfung in Südafrika. Ein weiteres Forschungsprojekt in Armenien untersuchte, welche Motivationen in der Kernfamilie die geschlechtsspezifische Abtreibung befördern. Sonja Vogt verwendet für ihre Forschungsprojekte im Bereich Entwicklung regelmässig den experimentellen Ansatz.

Kontakt:

Prof. Dr. Sonja Vogt
Institut für Soziologie / Interdisziplinäres Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE), Universität Bern
E-Mail: sonja.vogt@soz.unibe.ch

ZUM AUTOR

Pieter Poldervaart ist freier Journalist im Pressebüro Kohlenberg in Basel mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit.

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