«Der Artenschutz muss ganzheitlich angegangen werden»

Alarmstimmung – das war die Reaktion, als der Weltbiodiversitätsrat im Mai bekanntgab, wie es um Artenvielfalt und Ökosysteme steht. Der ehrgeizigste Plan, um das laufende Massenaussterben zu stoppen, fordert ein globales Abkommen für die Natur: Die Hälfte des Planeten soll unter Schutz gestellt werden. Jetzt haben Wissenschaftlerinnen der Universität Cambridge und des Centre for Development and Environment der Universität Bern erstmals untersucht, wer davon betroffen sein könnte.

Interview: Gaby Allheilig 19. November 2019

Julie Zähringer, Sie und Judith Schleicher von der Universität Cambridge haben in einer neuen Publikation aufgezeigt, welche Gebiete und wie viele Menschen direkt vom Vorschlag, die halbe Erde unter Schutz zu stellen, betroffen sein könnten. Was sind Ihre wichtigsten Resultate?
Julie Zähringer: Es ist die Anzahl Menschen, die bis ins Jahr 2050 von dieser Strategie betroffen wären: Etwas mehr als eine Milliarde Menschen leben momentan in Gebieten, die zu Naturschutzgebieten erklärt würden. 250 Millionen davon leben schon heute in solchen Gegenden, 760 Millionen kämen in neu zu schaffenden Schutzzonen hinzu. Ein Teil dieser zusätzlichen Gebiete käme selbst dort zu liegen, wo der menschliche Fussabdruck heute weltweit am grössten ist, wie etwa an der Westküste der USA oder im Grossraum von London. Das wirft Fragen der Machbarkeit, aber besonders auch der sozialen Auswirkungen des Vorschlags auf.

Am meisten Menschen wären gemäss Ihrer Studie jedoch in ärmeren Ländern betroffen.
Genau. Wir haben die Regionen, wo die betroffenen Menschen leben, mit der Länderklassifizierung bezüglich Einkommen der Weltbank verglichen. Es zeigt sich, dass der grosse Teil der Betroffenen in Ländern mit unteren mittleren Einkommen sowie mit tiefen Einkommen lebt. Das bedeutet, dass sich diese Schutzstrategie auf die Einwohnerinnen und Einwohner der reichsten Länder vergleichsweise bescheiden auswirken und vor allem Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern betreffen würde.

Die Initianten des «Half Earth»-Vorschlags haben noch nicht dargelegt, wo genau die Schutzzonen zu liegen kämen. Von welchen Annahmen sind Sie bei Ihren Berechnungen ausgegangen?
Wir sind von 846 sogenannten Ökoregionen ausgegangen, die sich über die gesamte Erde verteilen. Man geht davon aus, dass sich so die grösstmögliche Diversität an Ökosystemen und Arten schützen liesse. Um die spezifischen Gebiete pro Ökoregion auszuwählen, haben wir angenommen, dass in erster Linie die Flächen geschützt werden sollen, in denen der menschliche Fussabdruck noch am geringsten ist.

Julie Zähringer, Senior Research Scientist am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern, hat lange in Madagaskar und anderen Ländern des globalen Südens geforscht. © CDE / Bild: Manu Friederich
Julie Zähringer, Senior Research Scientist am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern, hat lange in Madagaskar und anderen Ländern des globalen Südens geforscht. © CDE / Bild: Manu Friederich

Auf dieser Basis haben wir unsere Berechnungen zweimal durchgeführt: Einmal unter der Annahme, dass 50 Prozent der Fläche aller Ökoregionen geschützt würden, und einmal unter Ausschluss all jener Ökoregionen, die bereits so stark degradiert sind, dass es nicht mehr viel zu schützen gibt. Nach der ersten Berechnung kommen wir auf die erwähnte Milliarde an betroffenen Menschen, nach der zweiten noch immer auf 170 Millionen – was ungefähr der heutigen Bevölkerung von Grossbritannien, Thailand und Marokko zusammen entspricht.

Sind Ihre Annahmen nicht etwas übertrieben?
Nein, im Gegenteil, sie sind sehr konservativ. Realistischerweise müsste man weitere Kriterien einbeziehen. Zum Beispiel, dass Naturschutzgebiete eine gewisse Grösse aufweisen müssen und mehrere solche Gebiete durch Korridore miteinander verbunden sein sollten. Das würde automatisch zu deutlich mehr Betroffenen führen.

Welche Folgen hätten die Naturschutzzonen denn für die betroffene Bevölkerung?
Das hängt ganz von der Art von Schutz ab, unter den diese Gebiete gestellt würden. In unserer Studie konnten wir darüber nichts aussagen, weil die Befürworter des «Half Earth» Vorschlags bis jetzt keine Angaben dazu gemacht haben, welches Modell oder welche Modelle sie anstreben.

Es gibt auch Regionen, die bereits viel geschützte Flächen aufweisen. Was passiert mit ihnen?
In Ökoregionen, wo schon annähernd die Hälfte des Gebiets oder sogar mehr geschützt ist, würde aufgrund dieses Vorschlags wohl nicht mehr viel hinzukommen. Ein Beispiel dafür ist das Amazonasbecken.

Landwirtschaft oder geschütztes Waldgebiet? Um sich ernähren zu können, ist die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern wie hier in Madagaskar auf Ackerbau angewiesen. Bild: Julie Zähringer
Landwirtschaft oder geschütztes Waldgebiet? Um sich ernähren zu können, ist die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern wie hier in Madagaskar auf Ackerbau angewiesen. Bild: Julie Zähringer

Der Amazonas ist ein Beispiel dafür, dass der Schutz bisher oft nicht funktioniert. In Brasilien wird mehr denn je illegal abgeholzt.
Die Umsetzung steht auf einem anderen Blatt. Kürzlich wurde eine globale Analyse veröffentlicht, die verschiedene Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit von Artenschutz untersuchte. Die Studie kam zum Schluss, dass finanzielle Ressourcen, Personal und zur Verfügung stehendes Material die Schlüsselfaktoren für einen erfolgreichen Artenschutz sind.

Mit der Klimaerwärmung verlagern sich künftig auch Ökosysteme und Arten in andere Gebiete. Kann man da überhaupt von fixen Flächen ausgehen?
Bisher ging man immer davon aus, dass man ein Gebiet unter Schutz stellt, in dem es schützenswerte Arten gibt. Der Klimawandel stellt diese Planungen jedoch vor neue Herausforderungen. Bis 2050 werden gewisse gefährdete Arten in höher gelegene und kühlere Regionen ausweichen. Ausserdem wären die 50 Prozent Schutzgebiete ja nicht völlig von äusseren Einflüssen abgeschirmt. Vielmehr beeinflusst das, was in den andern 50 Prozent passiert, auch die geschützten Gebiete – zum Beispiel über die Eintragung von Pestiziden in Fliessgewässer. Es ist also nötig, über Massnahmen nachzudenken, die sich mehr an Mechanismen und Prozessen orientieren, die wirksam zum Artenschutz beitragen, und diese dann an die spezifische Situation der zu schützenden Arten und Ökosysteme anzupassen. Das bedingt aber einen völlig neuen Ansatz des Schutzgedankens.

Nebeneinander von Natur und Mensch: Der geschützte Wald im Bwindi Impenetrable National Park in Uganda wird stark von den umliegenden dicht besiedelten Landwirtschaftsflächen getrennt. Bild: USAID
Nebeneinander von Natur und Mensch: Der geschützte Wald im Bwindi Impenetrable National Park in Uganda wird stark von den umliegenden dicht besiedelten Landwirtschaftsflächen getrennt. Bild: USAID

Stellen Sie damit die berechtigten Zielsetzungen für einen wirksamen und dringlichen Schutz der Natur in Frage?
Nein, auf keinen Fall! Die wissenschaftliche Evidenz zeigt dringenden Handlungsbedarf, wenn wir den rasanten Artenverlust stoppen wollen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass eine globale Strategie, die grosse finanzielle und personelle Ressourcen bedingt und Auswirkungen auf sämtliche Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung hat, schon vor der Umsetzung von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen her beleuchtet wird. Unsere Studie ist die erste, die versucht, die Auswirkungen auf die Menschen zu quantifizieren. Natürlich ist eine solche globale Berechnung sehr grob und sagt nichts über die unterschiedlichen sozialen Folgen für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aus. Aber sie hilft, diese wichtigen Fragen aufzuwerfen und – hoffentlich – eine differenzierte Diskussion anzustossen.

Was braucht es Ihrer Meinung nach neben der interdisziplinären Herangehensweise sonst noch?
Es ist äusserst wichtig, die Stimmen der betroffenen Bevölkerungsgruppen einzubeziehen. Unseres Erachtens darf es nicht dazu kommen, dass der Artenschutz vor allem auf Kosten der Lebensgrundlagen jener Menschen geht, die ohnehin am meisten benachteiligt sind und die das Artensterben im Übrigen auch nicht hauptsächlich verursacht haben. Es ist die Lebens- und Verhaltensweise der Menschen in den einkommensstarken Ländern wie bei uns, die massgeblich für diese Krise verantwortlich sind. Ausserdem ist die Teilnahme der betroffenen Bevölkerungen an der Diskussion auch deshalb wichtig, weil man sich auf möglichst realisierbare Massnahmen konzentrieren sollte. Denn die Zeit drängt und die Ressourcen sind knapp. Das bedingt angepasste Lösungsansätze für die verschiedenen Gegenden, die auch kulturelle Eigenheiten miteinbeziehen.

Der Schweizerischer Nationalpark in Graubünden, Blick vom Ofenpass Richtung Zernez. Bild: Wikimedia, Adrian Michael
Der Schweizerischer Nationalpark in Graubünden, Blick vom Ofenpass Richtung Zernez. Bild: Wikimedia, Adrian Michael

Unter den Parteien, welche die UNO-Biodiversitätskonvention unterzeichnet haben, laufen momentan die Verhandlungen für die Erneuerung der Biodiversitätsziele nach 2020. Was ist aus Ihrer Sicht das Vordringlichste?
Die Befürworter der Strategie, den halben Planeten unter Schutz zu stellen, müssen jetzt klar darlegen, welche Regionen konkret geschützt werden sollen und unter welchen Bedingungen. Erst dann kann die Wissenschaft genauere Vorhersagen zu den sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen machen. Zudem müssen auch die negativen Folgen einer solchen Strategie ernsthaft diskutiert und mögliche Lösungen identifiziert werden. Und schliesslich ist es zentral, dass die verschiedenen Parteien der Biodiversitätskonvention ganzheitliche und interdisziplinäre Zugänge zum Naturschutz in Betracht ziehen.

CDE "Spotlight"

Das Interview mit Julie Zähringer ist im "Spotlight" des Centre for Development and Environment (CDE) auch auf Englisch verfügbar.

Über Julie Zähringer

Dr. Julie G. Zähringer ist Senior Research Scientist am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern. Als Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin erforscht sie verschiedene globale Einflüsse auf die Landnutzung in tropischen Waldlandschaften und deren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Sie verfügt über langjährige Felderfahrung besonders in Madagaskar, aber auch in anderen Ländern des globalen Südens.

Von Mai 2018 bis April 2019 war sie als Visiting Scholar am University of Cambridge Conservation Research Institute (UK) und hat zusammen mit Forscherinnen und Forschern der Universität Cambridge die hier vorgestellte Studie durchgeführt.

Kontakt:

Dr. Julie Zähringer
Centre for Development and Environment (CDE), Universität Bern
E-Mail: julie.zaehringer@cde.unibe.ch

Zur Autorin

Gaby Allheilig ist Kommunikationsverantwortliche beim Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern.

Oben