«Wir haben erstmals Zugang zu einer wissenschaftlichen Goldmine»

Ein Archäologe und ein Paläoökologe der Universität Bern tun sich mit weiteren Forschenden aus anderen Fachbereichen zusammen, um herauszufinden, wie sich Klima, Umwelt und Landwirtschaft in den letzten 10'000 Jahren entwickelt und gegenseitig beeinflusst haben. Sie begeben sich dazu nach Griechenland und in den Südbalkan – zur Wiege der europäischen Landwirtschaft.

Interview: Nathalie Matter 23. Oktober 2018

Die Seen im Norden Griechenlands und im südlichen Balkan stellen ein einzigartiges Archiv der europäischen Kultur- und Umweltgeschichte dar, doch bis heute sind sie kaum erforscht. Nun will ein auf Initiative der Universität Bern zusammengestelltes interdisziplinäres Team diesen Wissensschatz heben. Das auf fünf Jahre angelegte Grossprojekt nennt sich EXPLO (Exploring the dynamics and causes of prehistoric land use change in the cradle of European farming) und betritt Neuland: Unterwasserarchäologie wird zum ersten Mal mit Methoden der Ökologie, Biologie und Klimawissenschaft kombiniert. Und es setzt bei der Rekonstruktion des Zusammenspiels von Klima und Mensch auf dynamische Computermodelle. Ziel ist, den Anpassungsstrategien auf die Spur zu kommen, mit denen die frühen Bauerngesellschaften auf veränderte Klima- und Umweltbedingungen reagiert haben.

Der Europäische Forschungsrat ERC unterstützt das Grossprojekt mit einem der begehrten «ERC Synergy Grants», die Teil des Horizon 2020-Programms sind. Mit dem Grant fördert der ERC innovative und interdisziplinäre Vorhaben, die höchsten wissenschaftlichen Kriterien genügen müssen.

 

Willy Tinner, was ist neu an den Untersuchungsmethoden des EXPLO-Projekts?
Seit Jahrzehnten gibt es offene Fragen, wie die ersten europäischen Bauern das Land genutzt haben. Neu an unserem Zugang ist der interdisziplinäre Ansatz mit Geistes- und Naturwissenschaften. Darin kommen sehr unterschiedliche Mittel zum Einsatz, etwa Modelle, die die Landnutzung im Neolithikum dynamisch, also Jahr für Jahr, simulieren können. Oder bei uns in der Biologie unser Vorhaben, Informationen aus alter DNA von toten Organismen wie Bäumen oder Getreide zu gewinnen. Dieser Ansatz ist brandneu für die Pflanzenwissenschaften und wird zurzeit laufend weiterentwickelt.

Was erhoffen Sie sich von den Resultaten?
Eine neue, erfrischende Sicht auf offene Fragen, die wissenschaftlich von grosser Bedeutung sind. Wie haben es die ersten europäischen Bauern geschafft, die Kulturpflanzen aus dem trockenen, subtropischen Nahen Osten, auf die neuen kühl-feuchten und bewaldeten Umweltbedingungen in Europa einzustellen, etwa bei lokalen Neuzüchtungen von Getreidevarietäten? Dies gelang vor mehr als 8’000 Jahren erstmals in Griechenland. Wir erhoffen uns auch einen erstmaligen Zugang zu einer wissenschaftlichen Goldmine: die im Wasser liegenden Hölzer aus den früheren Siedlungen. Sie haben das Potenzial, unser Wissen in Bezug auf Archäologie und Mittelmeerklimatologie grundsätzlich zu verändern. Schlussendlich erhoffen wir uns die Schaffung eines neuen internationalen UNESCO-Welterbes über die ersten Bauern Europas.

Bergen von Holzproben bei Ploča am Ohridsee. Bild: Universität Bern
Bergen von Holzproben bei Ploča am Ohridsee. Bild: Universität Bern

Warum interessieren Sie sich für vergangene Ökosysteme?
Aus der Rekonstruktion der vergangenen Ökosysteme lassen sich einmalige Erkenntnisse ableiten, die wir heute dringend brauchen. Ohne Untersuchung der vergangenen Ökosysteme wäre es zum Beispiel unmöglich zu sagen, welche Pflanzenarten und Pflanzengesellschaften in Europa natürlich sind. Auch geben vergangene Ökosysteme klare, einmalige Einsichten zur Reaktionsweise von Arten und Gemeinschaften auf starke Klimaänderungen – wie ein Temperaturanstieg von +3° C in 50 Jahren – die uns in naher Zukunft erwarten. Mit diesen Informationen können wir nicht nur Naturschutzbestrebungen unterstützen, wir können auch Massnahmen zur Erhaltung wichtiger Leistungen künftiger Ökosysteme verbessern, beispielsweise die Holzproduktion.

Dendrochronologische Messung der Jahrringe im Feldlabor am Ohridsee (2018), Abteilung Prähistorische Archäologie der Universität Bern. Bild: Albert Hafner
Dendrochronologische Messung der Jahrringe im Feldlabor am Ohridsee (2018), Abteilung Prähistorische Archäologie der Universität Bern. Bild: Albert Hafner

Albert Hafner, was fasziniert Sie an der Unterwasserarchäologie?
Ich forsche über frühe agrarische Gesellschaften, indem ich neolithische und bronzezeitliche Siedlungen untersuche, deren Ruinen heute in Seesedimenten unter Wasser liegen. Die Erhaltungsbedingungen für organisches Material sind unter Wasser ausserordentlich gut und sie liefern Informationen, die sich in Böden an Land nicht finden. Um an diese Siedlungsreste heranzukommen, muss man unter Wasser arbeiten. Es ist faszinierend, nicht nur Keramik und Artefakte bergen zu können, sondern auch 6’000 Jahre alte Bauteile aus Holz, die noch bis in die Zellstruktur intakt sind.

Was ist das Besondere an den Siedlungsstandorten der untersuchten Seen?
Dass wir noch nicht genau wissen, was uns wirklich erwartet. Eine Pilotstudie im Sommer 2018 hat gezeigt, dass wir mindestens so gute Verhältnisse antreffen werden wie in den Seeufersiedlungen des Alpenraums (und diese sind seit 2011 UNESCO-Welterbe). Im Alpenraum wird seit mehr als 150 Jahren in Seen und Mooren intensiv archäologisch geforscht. Mit dem EXPLO-Projekt stossen wir in den Seen im südlichen Balkan in völlig unbekannte Gebiete vor. Wir befinden uns in der Wiege der europäischen Landwirtschaft. Von hier aus verbreitete sich Ackerbau und Viehhaltung über den Donauraum und das westliche Mittelmeer nach Mittel- und Westeuropa.

Taucharbeiten in abgesteckten Quadraten vor der Rekonstruktion der Siedlung Ploča am Ohridsee. Bild: Universität Bern/Marco Hostettler
Taucharbeiten in abgesteckten Quadraten vor der Rekonstruktion der Siedlung Ploča am Ohridsee. Bild: Universität Bern/Marco Hostettler

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Paläoökologen Willy Tinner und den Universitäten Oxford und Thessaloniki?
Willy Tinner und mich verbindet schon seit längerem eine Zusammenarbeit am Oeschger-Zentrum für Klimaforschung der Uni Bern. Wir arbeiteten bereits in einem internationalen SNF-Projekt mit Partnern in Deutschland und Österreich zusammen. In den Balkan hat es mich verschlagen, weil ich mich für Ausgrabungsprojekte in Nordgriechenland engagiert habe. Dort werden archäologische Fundstellen präventiv ausgegraben, da sie dem Braunkohleabbau im Weg sind. Daraus ergab sich, dass Kostas Kotsakis von der Universität Thessaloniki und ich gemeinsam Doktoranden betreuen. Amy Bogaard von der Universität Oxford haben wir gezielt angesprochen, da sie genau die Kenntnisse in Archäobiologie hatte, die wir suchten.

Was bedeutet der ERC Synergy Grant für das Projekt, die Universität Bern und für Sie persönlich?
Archäologische Forschung war schon immer mit hohen Kosten verbunden, da Grabungsmaterial benötigt wird, von Fahrzeugen, Fotoausrüstungen bis zu Mikroskopen, in unserem Fall auch Tauchmaterial. Dazu kommen grosse Ausgaben für Radiokarbondatierungen und ein Labor für Dendrochronologie. Ohne eine Finanzierung durch den ERC Synergy Grant wäre das Projekt nicht machbar. Es ist eine Anerkennung der bisherigen Forschungen zu prähistorischen Seeufersiedlungen, die international grosse Beachtung finden und es ist der erste ERC Synergy Grant, der an die Universität Bern geht. Ich freue mich sehr und bedanke mich bei der Universität Bern für die Starthilfe in Form eines «Interdisciplinary Grants» – und speziell auch bei allen Beteiligten der Pilotstudie im Ohridsee 2018.

Das Projekt EXPLO

EXPLO, das von Albert Hafner und Willy Tinner vom Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR) der Universität Bern initiiert wurde, will prähistorische Siedlungsstandorte in Seen und Uferzonen untersuchen. Hier haben sich tausende von Baustrukturen aus Holz erhalten. Diese Hölzer dienen als Grundlage für die Dendrochronologie, einer Methode, die sich Jahrringkalender von Eichen und Nadelhölzern zu Nutze macht. Die Methode erlaubt hochpräzise Datierungen und bildet das Rückgrat des Projekts. Geplant sind Ausgrabungen und Probenentnahmen in den grossen Ohrid-, Prespa- und Kastoriaseen. All diese Standorte liegen in einem kulturhistorisch sehr interessanten Gebiet: hier gelangten vor mehr als 8'000 Jahren landwirtschaftliche Techniken aus dem Westen Asiens nach Europa. Die Analyse von Seesedimenten soll zeigen, wie sich die Landnutzung, aber auch die klimatischen Bedingungen in dieser Region im Lauf der Zeit verändert haben. Teams der Universität Bern haben 2016 und 2018 Probebohrungen und Testgrabungen in nordgriechischen Seen und im Ohridsee durchgeführt. Sie haben gezeigt, dass die gehobenen Sedimentkerne ein höchst ergiebiges Umweltarchiv darstellen und die archäologischen Fundstellen von höchster Qualität sind. Bei der Auswertung der in EXPLO gesammelten Datenquellen sollen mehr als 1000 Radiokarbon-Analysen im C14 -Datierungslabor des OCCR durchgeführt werden.

ERC Synergy Grants

EXPLO ist eines von 27 europäischen Projekten, denen diese Woche ein ERC Synergy Grant zugesprochen wurde. Beim ERC Synergy Grant handelt es sich um die höchste Stufe der Exzellenz-Förderung der Europäischen Kommission. Das grosszügig ausgestatte Förderinstrument unterstützt interdisziplinäre Vorhaben, die höchsten wissenschaftlichen Kriterien genügen müssen, und ist unter Forschenden heiss begehrt. Weniger als 10 Prozent der eingereichten Anträge werden bewilligt. Der «Synergy Grant» wurde zum zweiten Mal ausgeschrieben und geht erstmals an die Universität Bern.

ERC Synergy Grants ermöglichen es zwei bis vier Projektleiterinnen und -leitern und ihren Teams , ergänzendes Fachwissen, Kompetenzen und Ressourcen auf innovative Weise zusammenzubringen, um gemeinsam komplexe Forschungsfragen anzugehen. Die Bewerberinnen und Bewerber müssen den Nachweis erbringen, dass sie für ihr Forschungsvorhaben nur mit einem synergetischen Team neue Durchbrüche erzielen können – und dass sie dies alleine nicht schaffen würden.  

Prof. Dr. Willy Tinner

Prof. Dr. Willy Tinner ist Ko-Direktor des Instituts für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern, Leiter der Gruppe Paläoökologie, und Mitglied des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung.

Kontakt

Prof. Dr. Willy Tinner
Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR), Universität Bern
Tel. +41 31 631 49 32 / Mail: willy.tinner@ips.unibe.ch

Prof. Dr. Albert Hafner

Prof. Dr. Albert Hafner ist Co-Direktor des Instituts für Archäologische Wissenschaften (IAW) der Universität Bern, Leiter der Abteilung Prähistorische Archäologie, und Mitglied des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung.

Kontakt

Prof. Dr. Albert Hafner
Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR), Universität Bern
Mail: albert.hafner@iaw.unibe.ch

Zur Autorin

Nathalie Matter ist Redaktorin bei Media Relations, Abteilung Kommunikation und Marketing der Universität Bern.

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